Virus-Mythen: „Ein 400%iger Zuwachs an Neuinfizierungen“ – über den Umgang mit Zahlen

Mit der Verwendung von Prozent-Werten ohne Nennung absoluter Zahlen, sowie der zielgerichteten Auswahl eines Betrachtungszeitraums lässt sich vortrefflich Politik machen – wie beispielhaft ein aktueller Fall zeigt.

„400 Prozent Zuwachs der HIV-Neuinfizierungen“ konstatiert ein Aids-Hilfe-Mitarbeiter in der Provinz. „Immer mehr Neuinfizierungen“, titelt entsprechend die Lokal-Presse. Was ist los in der niedersächsischen Provinz?

„Allein in Oldenburg haben wir einen 400 prozentigen Zuwachs an Neuinfizierungen registrieren müssen“,

sagt ein Mitarbeiter der Oldenburgischen Aids-Hilfe einem Bericht in der Lokalpresse zufolge (ohne den Zeitraum anzugeben, für den dieser Anstieg erfolgt sein soll). Ein Mitarbeiter, der „seit fünf Jahren für die Oldenburgische Aidshilfe an Schulen unterwegs [ist], um Schüler über AIDS und das HI-Virus aufzuklären.“

Ein 400-prozentiger Zuwachs der HIV-Neudiagnosen? Der Leser merkt auf, staunt und erschrickt – welch seltsame, unerhörte Zustände herrschen da im niedersächsischen Oldenburg? 400 Prozent? Ist Oldenburg ein verkannter, bisher zu wenig beachteter Brennpunkt der HIV-Epidemie in Deutschland?

HIV-Neudiagnosen werden in Deutschland anonym dem Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldet. Dort sind sie online abfragbar, über das Tool ‚SurvStat‘ (Surveillance Statistik). Eine Abfrage, gezielt für HIV-Neudiagnosen und den Stadtkreis Oldenburg ergibt folgendes Bild:

Gemeldete HIV-Neu-Diagnosen nach Jahr , Deutschland, Bundesländer: Niedersachsen; Regierungsbezirke: Weser-Ems; Kreise: SK Oldenburg; Fälle entsprechend der Referenzdefinition des RKI; Datenstand: 01.01.2011
Gemeldete HIV-Neu-Diagnosen nach Jahr , Deutschland, Bundesländer: Niedersachsen; Regierungsbezirke: Weser-Ems; Kreise: SK Oldenburg; Fälle entsprechend der Referenzdefinition des RKI; Datenstand: 01.01.2011

Aber – meinte der Mitarbeiter der Aidshilfe vielleicht einen größeren Bereich als den Stadtkreis Oldenburg? Das RKI gibt für den Regierungsbezirk Weser-Ems (in dem Oldenburg liegt) neben den Stadtkreisen Oldenburg und Osnabrück noch den „restlichen Regierungsbezirk Weser-Ems“:

Gemeldete HIV-Neu-Diagnosen nach Jahr , Deutschland, Bundesländer: Niedersachsen; Regierungsbezirke: Weser-Ems; Kreise: Restlicher RB Weser-Ems; Fälle entsprechend der Referenzdefinition des RKI; Datenstand: 01.01.2011
Gemeldete HIV-Neu-Diagnosen nach Jahr , Deutschland, Bundesländer: Niedersachsen; Regierungsbezirke: Weser-Ems; Kreise: Restlicher RB Weser-Ems; Fälle entsprechend der Referenzdefinition des RKI; Datenstand: 01.01.2011

Die Statistiken des RKI ergeben folgendes Bild:
– Im Stadtkreis Oldenburg wurden 2009 6, 2010 7 HIV-Infektionen neu diagnostiziert. Eine Neudiagnose mehr im Jahr 2010 als im Vorjahr – ein Anstieg um 16%.
– Im Bereich „restlicher Regierungsbezirk Weser-Ems“ wurden 2009 28, und 2010 24 HIV-Infektionen  neu diagnostiziert. Ein Rückgang um15% oder 4 Fälle.
– Ein 400-prozentiger Zuwachs ist nirgends zu vermelden. Selbst nicht bei Vergleichen über Mehrjahres-Zeiträume.

Aufschluss, ob ggf. frühere Zeiträume gemeint sind, könnten vielleicht auch Zahlen des niedersächsischen Gesundheitsministeriums geben. Doch vermeldet dieses für den Postleitzahlbereich 26 Oldenburg – Wilhelmshaven – Emden – Aurich (nicht deckungsgleich mit Stadtkreis Oldenburg) bis 2006 keine drastischen Schwankungen. Und die Stadt Oldenburg teilt in einer Pressemitteilung mit:

„Gegenüber dem Vorjahr [2006 zu 2005, d.Verf.] lag die Zahl um vier Prozent höher. Auch in unserem Postleitzahlbezirk lässt sich dieser Trend beobachten, wenn auch in geringerem Maße.“

Der Anfang 2011 von der Oldenburger Aidshilfe konstatierte „400prozentige Zuwachs der HIV-Neuinfizierungen“ bleibt somit letztlich rätselhaft.

Klar wird allerdings: selbst falls zwischen 2009 und 2010 ein 400% – Anstieg der HIV-Neudiagnosen in Oldenburg stattgefunden haben sollte, dürfte sich dieser auf Basis sehr niedriger absoluter Zahlen ereignet haben. Das RKI meldet für den gesamten (!) Regierungsbezirk Weser-Ems (Stadtkreis Oldenburg, Stadtkreis Osnabrück, sowie restlicher Regierungsbezirk Weser-Ems) insgesamt 39 HIV-Neudiagnosen im Jahr 2009, und 43 im Jahr 2010. Ein Anstieg um 4 Fälle – oder 10%.

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Ein Mitarbeiter einer Aidshilfe macht im Jahr 2011 Aufklärung an Schulen. Und kommentiert die Aussage, in Deutschland herrsche „ein hohes Maß an Aufklärung“ mit „weit gefehlt“. Um dann einen „400prozentigen“ Zuwachs der HIV-Neuinfektionen für sein Gebiet zu konstatieren.

Nun mag man ja Gründe suchen, um die eigene Arbeit mit Bedeutung, mit Wichtigkeit aufzuladen. Auch, um die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen. Aber – gewinnt man Aufmerksamkeit mit derartigen Aussagen? Mit einem derartigen Umgang mit der Realität? Und – sollte man sich als zuständiger Mitarbeiter auch fragen, welche Wirkungen derartige Aussagen von Horror-Zahlen vielleicht in der Öffentlichkeit haben?

Sollte man als zuständiger Journalist respektive Redakteur vielleicht gerade bei derartig drastischen Aussagen auch einen prüfenden Blick auf die Fakten werfen? Vielleicht zumindest mit einigen ergänzenden nüchternen Zahlen Aufschluss geben? Dabei HIV-Neudiagnosen und HIV-Neuinfektionen unterscheiden? Und beachten: allein relative Zahlen, Prozentwerte sagen oft wenig ohne den Blick auf die Absolut-Werte …

Oder – waren beide, Aidshilfe-Mitarbeiter sowie Journalist einfach nachlässig? Oder haben beide vielleicht gar ein gemeinsames Interesse? Das an Skandalisierung, Übertreibung, gesteigerter Aufmerksamkeit? Rechtfertigt der Zweck das Mittel?

Mit Zahlen kann man Politik machen. Fragt sich nur welche. Und es stellt sich die Frage, ab wann ein intentionaler Umgang mit Zahlen fragwürdig ist.

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weitere Informationen:
NWZ online 08.01.2011: „Immer mehr Neuinfizierungen“ – Prävention Ralf Monsees informiert Schüler über Immunschwächekrankheit HIV
Datenabfragen RKI ClinSurv am 09.01.2011
Niedersächsisches Landesgesundheitsamt 07.09.2007: HIV-Infektionen in Niedersachsen – Aktuelle Entwicklungen (pdf)
Stadt Oldenburg Pressemitteilung 28.11.2007: Steigende Anzahl von Neu-Infektionen Besorgnis erregend – Gesundheitsamt und AIDS-Hilfe legen aktuellen AIDS-Bericht vor

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Text 15. April 2017 von ondamaris auf 2mecs

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