Bedacht bei den Zahlen

„Die Schwulen infizieren sich wieder mehr mit HIV“ – so oder ähnlich geistert es langsam wieder durch die Medien. Ein wenig Bedacht mit den Zahlen ist angebracht.

Der Welt-Aids-Tag naht, und viele starren gebannt auf die neuen HIV-Infektions-Statistiken. Die ersten Blogs und Journale vermelden bereits, schon wieder seien die Zahlen gestiegen, die Schwulen wären wieder unvorsichtig, usw. Fast meint man manchmal, eine verquere Sehnsucht nach ‚damals‘ und allerlei Gauweilereien durch die Zeilen riechen zu können.

Aber Vorsicht. Die Zahlen wollen schon interpretiert werden.

Das Robert-Koch-Institut spricht in seinen Statistiken von „neu diagnostizierten HIV-Infektionen“.“Neu diagnostiziert“, nicht „neu infiziert“. Es gilt also, nicht Neu-Infektionen und Neu-Diagnosen miteinander zu verwechseln. Was jetzt gemessen (=diagnostiziert) wird, muss sich nicht auch jetzt (im Betrachtungszeitraum) infiziert haben. Gemessen werden Neu-Diagnosen.

Hinzu kommt: in einigen Städten (wie z.B. schon länger München, jetzt auch Berlin) wird unter Schwulen teils massiv für den HIV-Test geworben [manchmal mit dem mir seltsam anmutenden Gedanken, das sei Primärprävention], werden ganze Testkampagnen durchgeführt.
Das bleibt nicht ohne Folgen, auch für die Statistik: wer viel misst – fördert logischerweise auch mehr Infektionen zutage. Und, da gezielt unter Schwulen der Test propagiert wird, führt dies auch zu einer Erhöhung des Anteils der Gruppe der Schwulen (statistisch MSM) unter den gesamten Neu-Diagnosen.
Und – auch diese Neu-Diagnosen sind nicht zwingend auch (jetzige) Neu-Infektionen.

Aus Anstiegen in den Zahlen also einfach zu schließen, die Zahl der Neu-Infektionen unter Schwulen wäre jetzt gestiegen, wäre gleich zweifach (Neu-Diagnosen ungleich Neu-Infektionen, statistische Auswirkungen der Testkampagnen unter Schwulen) zu kurz gedacht …

Noch eine persönliche Anmerkung:
Auch ich habe Bauchschmerzen bei der Tatsache, dass sich jedes Jahr um die 2.000 Menschen allein in Deutschland mit HIV infizieren. Ja, ich habe „die schlimmen Jahre“ Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre miterlebt, weiß was es bedeutet Aids zu haben, jämmerlich daran zu sterben. Auch ist mir unwohl bei dem Gedanken, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, an diese 2.000 Neu-Diagnosen pro Jahr, sie als etwas beinahe ‚Normales‘ hinnehmen.
Aber wenn wir wirksam dagegen handeln wollen, statt nur plakativ ‚drauf einzuschlagen‘, zu abgestandenem ‚law and order‚ zurückzukehren, dann ist es doch erforderlich bei den Zahlen genauer hinzu sehen. Nicht voreilig bequeme Schlüsse ziehen, die doch oft nur bestehende Vorurteile bestätigen sollen, sondern bedacht analysieren und gezielt handeln.

6 Gedanken zu „Bedacht bei den Zahlen“

  1. Sorry, aber mit Bedacht kommt man in der heutigen Gesellschaft nicht mehr weit. Dafür ist die vielzitierte Eigenverantwortung bereits einem Egoismus gewichen, der sich durch mangelnde soziale Kompetenz oder Verantwortung auszeichnet, und sich von Politikern über Konzernbosse bis runter zu einfachen Arbeitern oder Arbeitslosen zieht.

    Schon werden Rechnungen aufgestellt, was ein Positiver kostet (siehe http://www.queer.de/news von heute), und in Anbetracht ständig steigender Gesundheitskosten, sowie den damit verbundenen Einsparungen, wird es nicht lange dauern bis man nach strengeren Massnahmen, sprich „law and order“, ruft.

    Dann wird keiner mehr mit Bedacht unterscheiden, sondern wie bereits des öfteren in Report oder ähnlichen Sendungen geschehen, alle in einen grossen Topf geworfen…

    Es erübrigt sich damit wann – ob neu oder alt – sich die Leute infiziert haben, sondern nur noch dass sie sich noch immer infizieren – trotz Kampagnen, die in den Augen anderer unnötig Geld kosten. Und letztendlich wird man dann die Mittel ganz kürzen….

    Ich sehe keine Wirkung in der Betroffenengruppe welcher ich selbst angehöre, im Gegenteil…

  2. @ Kalle:
    Ich teile ja deine Skepsis und sehe auch dass Hedonismus und Egoismus sicher im Vormarsch sind. Und über gewissen „Report“er ärgere ich mich genauso wie du.

    Dennoch will ich mir die Hoffnung auf die Vernunft im Menschen nicht nehmen lassen.
    Und ich sehe in meinen Bekanntenkreisen schon, dass es (neben einigen sicher zu kritisierenden Entwicklungen in unseren Szenen) auch viel Nachdenklichkeit und Bemühen um Veränderungen gibt. Diese Bemühungen haben ja hierzulande durchaus auch Erfolge erzielt in den letzten Jahren (vergleicht man nur unsere Neu-Diagnose-Raten mit einigen umliegenden Staaten). Hier zu überlegen, wie weitere Verbesseurngen und Anpassungen an neue Situationen möglich sind, ist mir lieber als neue ‚Gauweilereien‘ …

    Übrigens, Kostenrechnungen im Gesundheitssystem sind seit längerer Zeit üblich – und, auch wenn sie oftmals zynisch für den Einzelnen wirken, zur politischen Entscheidungsfindung vielleicht ab und an auch erforderlich …

    Lg Ulli

  3. ach kalle,
    nach law and order wird seit gauweiler mitte der 80er immer wieder gerufen – und gerade die kluge und differenzierte bedachtsamkeit hat diesen unsinn immer wieder in die schranken gewiesen. warum sollten wir also gerade jetzt davon absehen??
    es erübrigt sich eben gerade NICHT, wann eine infektion erfolgt ist – wenn sie alt ist, sagt sie eben nix über die aktuelle entwicklung aus!
    und die mittel werden seit teils mehr als 10 jahren gekürzt – was wunder, wenn prävention dann weniger wirken kann!?
    schon vermeldet das RKI, dass der anstieg der zahlen (also der, wie ulli richtig schrieb, neu diagnostizierten infektionen) sich verlangsamt: gerade dann macht es sinn zu fragen, ob da nur vorübergehend mehr gefunden wird, weil intensiver getestet wird…
    ich bin übrigens gespannt auf die „strengeren“ massnahmen gegen raserei auf straßen und autobahnen, ski- u. a. sportunfälle, raucherlungen, fettleibigkeit usw. – alles fragwürdigkeiten, die ICH nicht mit finanzieren möchte…

  4. Wir hatten zwischendurch Zahlen, die weitaus niedriger waren, und erst seit Einsatz der Dreierkombi, und dem damit verbundenen Sinken der Sterberate, steigen die Zahlen in den letzten Jahren wieder an. Der Schrecken ist weg…

    Ich merke diese Entwicklung sogar selbst, da ich mir eine Zukunft – trotz AIDS – wieder vorstellen kann. Damit wird es für die anderen, welche sich neu infizieren, fast kein Problem mehr sein, mit dem Virus zu leben. Die Pillen, once daily, regeln das schon…

    Die Vorsicht der Neunziger lässt somit in meinen Augen ziemlich nach. Die Medien interessieren sich nur für Sensationen, die Gesellschaft hat wichtigere Probleme, und die Jugend wird in der Schule nicht genügend aufgeklärt.

    Und selbst wenn wir die geringste Rate in Europa haben, ist sie mir nach 25 Jahren einfach zu hoch.

    Der Wunschgedanke, dass Aidshilfen einmal überflüssig werden, hat sich als Trugschluss erwiesen. Im Gegenteil: wir haben mehr Leute zu betreuen wie früher, kriegen aber immer weniger Gelder für die notwendige Arbeit, daher ist jede Neuinfektion eine zuviel….

  5. @ Kalle:
    Ich glaube der Wunsch, eine Zeit völlig ohne Neu-Infektionen zu haben, hat sich als das erweisen, was er immer war, eine Illusion, eine Chimäre. Wünschenswert, aber unrealistisch.
    Ich bin ja (siehe Text) auch unglücklich, wie sehr wir uns an 2.000 neu-Diagnosen pro Jahr gewöhnt zu haben scheinen. Denke, da muss mehr unternommen werden, auch von uns selbst (nur nicht mit „strengeren maßnahmen“ oder so).
    Mich wundert etwas, wer manchmal klagt (geht an einige Politiker): Wer seit Jahren die Mittel für HIV-Prävention kürzt – wie kann der jetzt überrascht klagen, dass Prävention nicht mehr genug wirkt, nicht mehr genug Reichweite hat?
    Lg, Ulli

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