Ein 48jähriger HIV-positiver Mann wurde am 25. März in Berlin zu fünf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Er wurde schuldig gesprochen, einen 13jährigen Jungen mehrere Tage sexuell missbraucht zu haben.
Juni 2009. Der 48jährige Mann trifft sich an einem Badesee in Berlin-Hellersdorf mit einen 13jährigen Jungen, den er zuvor im Chat kennen gelernt hatte. Nimmt ihn zu sich mit in seine Wohnung in Berlin-Neukölln, hält ihn dort drei Tage fest, bis der Junge fliehen kann. Während der drei Tage hat der 48-Jährige mehrfach ungeschützten Sex mit ihm. Der Junge infizierte sich nicht mit HIV.
Im gleichen Monate spricht der 48-Jährige an einem Kaulsdorfer Baggersee auch zwei zehn- und elfjährige Jungen an, belästigt sie sexuell.
Seit 1991 wurde der 48-Jährige bereits in sechs ähnlich gelagerten Fällen wegen Missbrauchs an etwa 20 Jungen verurteilt, zuletzt 2006. Die Vorfälle im Juni 2009 ereigneten sich während einer Bewährungszeit.
Ein Gutachter bescheinigte dem Mann eine pädophile Neigung. Die Richterin am Landgericht Berlin verurteilte den 48-Jährigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs sowie Körperverletzung zu fünf Jahren Haft. Zugleich wurde Sicherungsverwahrung ausgesprochen.
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weitere Informationen:
berlinonline 25.03.2010: Haft und Sicherungsverwahrung für Triebtäter von Badesee
Berliner Morgenpost 25.03.2010: Fünf Jahre Haft für HIV-infizierten Pädophilen
Presseübersicht des Kammergerichts (25.3.2010 abends: bisher keine PM zum Fall online)
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Auf dem polnischen Positiventreffen widmete sich ein Vortrag der Frage der Bedeutung von HIV im polnischen Strafrecht.
Wer von seiner HIV-Infektion weiß und eine andere Person mit HIV infiziert, kann gemäß Art 161 § 1 KK mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Die Beweispflicht (der HIV-Übertragung) liegt bei der Person, die angibt infiziert worden zu sein. Genetische Untersuchungen (phylogenetische Tests) werden zur Beweiserhebung angewendet.
Das polnische Strafrecht kennt darüber hinaus den Tatbestand der Gefährdungshaftung: wenn ein HIV-Positiver Sex mit anderen Personen hat und diese vorher nicht über seine Infektion informiert, droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren – unabhängig davon, ob konkret eine HIV-Übertragung stattgefunden hat.
Allerdings besteht nach den Ausführungen der Referentin (J. Plichtowicz-Rudnicka) eine gewisse Rechtsunsicherheit darin, dass der Gesetzestext von HIV spricht, nicht jedoch von Aids. Zudem biete das polnische Strafrecht eine Möglichkeit der Strafreduzierung: wer schwer erkrankt ist (hier: Aids hat), wird statt mit bis zu drei Jahren maximal mit einem Jahr Haft bestraft.
Mehrere Straftaten (HIV-Übertragungen oder mögliche Übertragungen) können zu einer höheren Gesamtstrafe akkumuliert werden. Andererseits kann das Gericht ein Verfahren auch für „schwebend“ erklären – in diesem Fall wird kein Urteil gesprochen, keine Strafe verhängt. Sollte es allerdings zu einem weiteren Verfahren kommen, werden beide Tatbestände im Urteil berücksichtigt.
Strafen können zur Bewährung ausgesetzt werden (i.d.R. Bewährungszeit von zwei bis fünf Jahren).
Die drastische Reduzierung der Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie („EKAF-Statement„) wird bisher in der Rechtsprechung und Strafbemessung nach Wissen der Referentin nicht berücksichtigt.
Niemand ist (u.a. gemäß Art. 360 Strafprozessordnung) verpflichtet, seine HIV-Infektion offen zu legen (Ausnahme Sexpartner, siehe oben). Allerdings ist es häufige Praxis, dass z.B. Piloten, Gerichts-Bedienstete oder Polizisten ihre Anstellung verlieren, sobald ihre HIV-Infektion bekannt wird.
Innerhalb der polnischen Kriminalstatistik wird nicht getrennt erhoben, wie viele Ermittlungen, Verfahren oder Urteile aufgrund von HIV-Übertragungen erfolgen. Die Referentin konnte insofern auch keine Rückmeldungen geben, wie hoch die Zahl der Ermittlungen, Prozesse oder Verurteilungen ist.
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Anmerkung: Schon aufgrund der Sprach-Probleme (im Workshop des polnischen Positiventreffens) kann dieser Artikel nur unverbindliche Anhaltspunkte liefern, keinesfalls verbindlichen juristischen Informationen.
Anfang April, vor vor drei Monaten, wurde eine Pop-Sängerin wegen Verdachts auf HIV-Übertragung verhaftet. Inzwischen hat sie ein Interview zu den Vorgängen gegeben. Ansonsten scheint Ruhe eingekehrt. Zentrale Fragen, die der Fall aufgeworfen hat, sind jedoch weiterhin unbeantwortet.
Frankfurt, 11. April 2009, Ostersamstag. Eine junge Sängerin, aufgrund ihrer Teenie-Band und Grand-Prix-Teilnahme nicht gerade unbekannt, wird vor einem abendlichen Auftritt öffentlichkeitswirksam verhaftet. Verhaftet wegen angeblich bewussten Infizierens von Partnern mit HIV bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr.
In den nächsten Tagen geraten die Medien in Aufruhr, die Schlagzeilen der Titelseiten glühen rot. Aids, Schuld, Gefängnis schreien sie grell. Vorverurteilungen in Reihe, Kriminalisierungs-Phantasien. Die Deutsche Aids-Hilfe protestiert gegen die Verhaftung. In Medien werden alte Mythen und Vorurteile auf’s Neue bemüht. Ein SPD-Politiker bezeichnet HIV-Positive als Biowaffen – und darf das. Schlimmste Erinnerungen werden wach, an Zeiten, die wir -auch in Folge erfolgreicher Prävention- längst überwunden glaubten.
Viele Tage bliebt die junge Frau in Haft. Es bestünde Wiederholungsgefahr, lässt die Staatsanwaltschaft verlauten. Eine Staatsanwaltschaft, die sich mehr um eine sehr aktive Zusammenarbeit mit den Medien als um die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu bemühen scheint: der Presse-Staatsanwalt wandte sich von sich aus an die Medien, Presseinformationen und Weitergabe von Informationen an die Medien folgten, der Presse-Staatsanwalt selbst ist in den folgenden Tagen häufig zu sehender Gast vor den Kameras diverser TV-Stationen. Eine Staatsanwaltschaft, die sich geriert, als wäre sie und nicht BZgA und Aidshilfen für die Aids-Prävention in Deutschland zuständig. Unterstützt von einem Justizminister, der jegliche Kritik als unbegründet zurückweist.
Drei Monate später. Ruhe ist eingekehrt.
Ist „Gras über die Sache gewachsen“?
Sicher nicht. Oder doch?
Was bleibt?
Eine junge Frau und Mutter, unfreiwillig mit persönlichsten Details ans Licht einer sensationsgeilen Öffentlichkeit gezerrt, kann ihre weitere Karriere vermutlich vergessen. Ihr Kind wird vermutlich noch oft konfrontiert werden mit der Frage „Ach, sind Sie nicht …“.
“Ich möchte mich dem Ganzen stellen, anderen Mut machen und zur Aufklärung beitragen” – vor kurzem geht die junge Frau dann von sich aus an die Medien, versucht von der Getriebenen wieder selbst zur Handelnden zu werden. Sie sei gegen ihren Willen als HIV-positiv geoutet worden, wolle aber “auf jeden Fall weiter arbeiten und wieder in die Öffentlichkeit”, erzählt Nadja Benaissa im Interview. Über die Vorwürfe selbst schweigt sie, „laufendes Verfahren“.
Doch es bleiben auch so zahlreiche Fragen.
Fragen wie z.B. diese:
– Wie konnten Patientenakten an der behandelnden Uniklinik beschlagnahmt werden bzw. Kopien der Patientenakten an die Staatsanwaltschaft gelangen?
– Wie sicher sind Patientenakten noch? Was zählt der Beschlagnahmeschutz in der Praxis?
_ Können Patienten noch auf die Vertraulichkeit der Patientenakte und ihres Gesprächs mit dem „Arzt des Vertrauens“ zählen? Oder nicht?
– Wie sicher ist die Vertraulichkeit des Arzt-Patient-Verhältnisses? Werden Patienten hierüber korrekt und verständlich informiert?
– Wie kann erreicht werden, dass Medien zukünftig informierter, sachlicher und ausgewogener berichten? Vorverurteilungen vermeiden?
– Wie steht es um die Medien-Arbeit der Staatsanwaltschaften? Wie weit darf sie gehen, vor allem während laufender Ermittlungen?
– Und wie weit reicht die Verantwortung der Medien?
– Wie sieht es aus um das Verhältnis von Informationsrecht der Öffentlichkeit und Recht des Individuums auf Privat-Sphäre? (Auch diese Frage ist nach dem geplatzten Prozeß weiterhin ungeklärt).
– Wie lässt sich vermeiden, dass mit Blick auf Quoten und Auflagen mutwillig Präventionserfolge gefährdet, um des Umsatzes willen Menschen mit HIV stigmatisiert und diskriminiert werden?
– Wie schaffen Aids-Organisationen es, neue wissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse (wie das sog. EKAF-Statement zu drastisch reduzierter Infektiosität bei erfolgreicher antiretroviraler Behandlung) auch bei Ermittlern, Anwälten, Staatsanwälten und Richtern bekannt zu machen?
– Und wie schaffen wir es, deutlicher zu machen, HIV ist ein Virus ist – kein Verbrechen? Dass bestehende Gesetze ausreichen, etwaige Straftaten zu verfolgen? Dass Strafrecht kein effizientes Mittel der Prävention ist, im Gegenteil Erfolge der Prävention gefährdet?
Eine junge Frau, bloßgestellt, vorverurteilt, in ihrer Zukunft und ihrem Privatleben beeinträchtigt.
Und viele Frage, die die Medien und die Staatsanwaltschaft vermutlich wenig interessieren.
Bleibt zu hoffen, dass die Aids-Hilfen und viele Menschen mit HIV und Aids, die sich mit erneuter Stigmatisierung und Diskriminierung auseinander setzen müssen, die Vorgänge nicht vergessen – und sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinander setzen.
Besonders die Deutsche Aids-Hilfe ist hier gefragt.
Allein auf das Gras und dessen Wachstum zu setzen reicht nicht.
siehe auch:
SZon 10.07.2009: Haftbefehl gegen Sängerin aufgehoben
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DAH-Blog 11.09.2009: Nadja Benaissa im d@h_blog-Interview: „Ich war wie die WM“
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Was bewegt gerade schwule Männer, eine Kriminalisierung von HIV zu fordern? Eine britische Studie kam zu aufschlussreichen Ergebnissen, bis zu „Angst und Abscheu“.
Die fahrlässige HIV-Infektion eines Sexpartners müsse auch mit Mitteln des Strafrechts verfolgt werden, diese Meinung ist immer wieder häufig zu hören. Gerade in Zeiten von Medienhypes wie jüngst nach der Verhaftung einer Sängerin sind oftmals sogar Rufe nach Verschärfungen bestehender Gesetze zu hören.
Gegen die Verbreitung von HIV müsse auch mit den Mitteln des Strafrechts vorgegangen werden, diese Haltung vertreten gerade auch Homosexuelle nicht nur gelegentlich. In Großbritannien ist sogar die Mehrzahl der Homosexuellen dieser Ansicht, wie eine britische Studie zeigte.
Experten verschiedenster Organisationen von Aidshilfe bis UNAIDS betonen seit langem, dass das Strafrecht nicht als Mittel der HIV-Prävention taugt. Woher also diese Haltung, in dieser Häufigkeit?
Der Studie „sexually charged“ zufolge befürworteten 57% der Befragten die Strafverfolgung und Inhaftierung von Menschen, die leichtsinnig einen Sexpartner mit HIV infizieren.
Die Studie zeigte, dass Männer, die sich noch nie auf HIV testen ließen, diese Ansicht besonders häufig vertreten (63,5%). Männer, die angaben HIV-negativ zu sein, befürworteten diese Ansicht zu 56,3%.
Besonders hoch war die Zustimmung zu Strafverfolgung bei Menschen unter 30 Jahren; bei Menschen mit höherer Bildung (Universität) war die Zustimmung zu Strafverfolgung niedriger als bei Menschen mittlerer oder schlechterer Bildung.
Hingegen zeigten sich kaum Unterschiede hinsichtlich ethnischer Kriterien. Allerdings war eine Befürwortung von Kriminalisierung häufiger als Einstellung anzutreffen bei Männern, die Sex mit Männern und Frauen haben, als bei Männern, die angaben ausschließlich homosexuell zu sein. Je mehr Sexpartner ein Mann im letzten Jahr hatte, desto eher lehnte er eine Kriminalisierung ab.
Männer, die Kriminalisierung befürworteten, waren oftmals auch der Ansicht, der HIV-Positive sei in der alleinigen Pflicht, eine HIV-Übertragung zu verhindern. Einer der Befragten brachte seine Ansicht auf den Punkt „wenn du einmal HIV hast, ist es von da an deine Pflicht dafür zu sorgen, dass du es nicht weitergibst“.
Zudem zeigten die Kriminalisierungs-Befürworter überwiegend deutlich stigmatisierende Ansichten über HIV und hatten kaum zutreffende Ansichten über die Wirksamkeit moderner antiretroviraler Therapien. Viele Befragte gaben als Grund für ihre Ansichten an, eine HIV-Infektion sei immer noch tödlich; einige bezeichneten die Übertragung von HIV als Mord.
Im Rahmen des jährlichen „Gay Men’s Sex Survey“ wurden die Teilnehmer im Jahr 2006 unter anderem auch zu ihren Einstellungen zur Strafverfolgung bei HIV-Übertragung befragt. Insgesamt 8.152 Männer beantworteten die diesbezüglichen Fragen.
Eine Mehrheit dieser Männer (57%) äußerte, es sei „a good idea to imprison people who know they have HIV [and] pass it on to sexual partners who do not know they have it“. Nur 26% lehnten diese Aussage ab, und 18% hatten keine Meinung.
Die Autoren der Studie betonten, aus der Studie ließen sich wichtige Konsequenzen für die weitere HIV-Prävention ableiten. Insbesondere wiesen sie darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der Männer, die eine Kriminalisierung von HIV befürworteten, der Ansicht seien, HIV sei unabwendbar tödlich.
Die Forscher äußerten die Befürchtung, dass ein Aufrechterhaltend dieses Bildes vom „tödlichen Aids“ dazu beitrage, die Stigmatisierung von HIV aufrecht zu erhalten. Dies wiederum beeinträchtige das Umfeld, in dem Prävention stattfinde.
Zudem wiesen die Forscher darauf hin, dass ein Großteil der Männer, die Kriminalisierung befürworten, auch der Ansicht seien, der HIV-Positive sei verpflichtet, dem Sexpartner seine HIV-Status offen zu legen. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel der HIV-Infizierten nicht von ihrer eigenen Infektion wüssten, zudem viele Positive vor einem Offenlegen zurückschreckten, erweise sich diese Meinung als unrealistisches Modell.
Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, die Realität des Lebens mit HIV werden vielfach immer noch falsch wahrgenommen. Angst und Abscheu, mit der Männer, die Kriminalisierung befürworten, diese „anderen Schwulen“ betrachten, seien offensichtlich. Die Veränderung von HIV und Leben mit HIV sei und bleibe eine der großen gegenwärtigen Herausforderungen.
Die Ansichten, die die Forscher in Großbritannien untersuchten, sind auch bei uns zu finden, ob bei Homo- oder Heterosexuellen. Bedeutender noch, sie sind auch bei Staatsanwälten, Richtern und Politikern zu finden, wie Ermittlungsverfahren und Gesetzesinitiativen immer wieder zeigen.
Ein Grund mehr also, dass sich auch Aids-Hilfen und HIV-Positive mit der Frage beschäftigen sollten, welche Haltungen Menschen dazu bringen, eine Kriminalisierung von HIV zu fordern.
Einen der Wege, mit dieser Situation umzugehen, sie vielleicht aufzubrechen, haben die Forscher implizit aufgezeigt: Bilder des Lebens mit HIV zeigen. Bilder eines Lebens, das inzwischen facettenreicher, vielfältiger geworden ist – und bei weitem nicht nur von Tod und Leid geprägt ist. Bilder vom Leben mit HIV – wer könnte sie treffender zeigen als HIV-Positive selbst?
weitere Informationen:
aidsmap 26.01.2009: Ignorance and stigma provide foundation for gay men’s support of criminalisation of HIV transmission
sigma research: Sexually charged: the views of gay and bisexual men on criminal prosecutions for sexual HIV transmission (pdf)
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Recht auf Information der Öffentlichkeit, oder Recht auf Privat-Sphäre? HIV-Outing durch die Medien – zulässig im ‚höheren Interesse‘? Diese Frage, aufgeworfen durch den Fall der Verhaftung eines Pop-Stars wegen des Verdachts auf HIV-Übertragung sowie die Medien-Berichterstattung darüber, diese Frage wird vorerst ungeklärt bleiben. Die Sängerin zog ihre Anträge zurück, die Verhandlung findet nicht statt.
Steht das Recht der Öffentlichkeit auf Information über dem Recht auf Privatsphäre? Die Verhaftung einer Pop-Sängerin wegen Verdachts auf HIV-Übertragung und die anschließende drastische Medien-Berichterstattung darüber haben die Bedeutung dieser Frage erneut sichtbar gemacht.
Was ist höher zu bewerten? Das Recht der Öffentlichkeit auf Information? Oder das Recht einer (auch prominenten) Person auf Privatsphäre?
Darf man, konkreter dürfen die Medien Details aus dem Privat- und Intimleben einer Person, auch über ihre Gesundheit, eine etwaige HIV-Infektion, groß an die Öffentlichkeit bringen? Ist ein unfreiwilliges HIV-Outing in ‚höherem Interesse‘ (einer ‚informierten Öffentlichkeit‘) zulässig, auch zu Lasten der betreffenden Person?
Mit diesen Fragen sollte sich am 28. Mai 2009 die Pressekammer des Berliner Landgerichts zu beschäftigen haben.
Verhandelt werden sollte über den Einspruch des Axel-Springer-Verlags gegen eine Verfügung des Berliner Landgerichts. Dieses hatte dem Verlag auf Antrag der Anwälte der betreffenden Sängerin untersagt, weiterhin über die Ermittlungen in Zusammenhang mit der Verhaftung einer Popsängerin zu berichten, der HIV-Übertragung vorgeworfen wird.
Sollte – denn die für heute 28.5.2009 angesetzten Verhandlungen finden nicht statt.
Angesetzt waren wegen getrennter Verfügungen zwei Termine, einer zur Berichterstattung über die Ermittlungen wegen schwerer Körperverletzung sowie einer wegen der Berichterstattung über den Grund ihrer Festnahme.
Doch die Sängerin nahm am Mittwoch, 27. Mai überraschend über ihren Anwalt die beiden Anträge auf einstweilige Verfügungen gegen den Axel Springer Verlag zurück. Der Anwalt ebenso wie die betroffene Zeitung wiesen Spekulationen zurück, es sei zwischen beiden Seiten zu einem außergerichtlichen Deal gekommen.
Der Anwalt der Sängerin gab „strategischer Gründe“ für den Rückzieher an. Zuvor hatte er gegenüber der Presse geäußert, „wir arbeiten im Hintergrund“.
Ein Vertreter von Springer zeigte sich erfreut – der Verlag sehe sich in seiner Überzeugung bestätigt. Ein öffentliches Interesse an einer Berichterstattung über den Fall sei unbestreitbar. Den vollen Namen der verhafteten Sängerin hätten Staatsanwalt und Polizei mitgeteilt.
Der hessische Justizminister, der wegen der Umstände der Verhaftung und des Verhaltens der Staatsanwaltschaft unter Druck geraten war, hatte sich bereits Ende April öffentlich hinter die Staatsanwaltschaft gestellt. Die Kritik sei unbegründet, in diesem Fall gehe das Recht der Öffentlichkeit vor.
Die Frage, wie weit darf das Recht der Öffentlichkeit auf Information ausgelegt werden, wie weit darf in die Privatsphäre eingegriffen werden bleibt damit vorerst unbeantwortet.
Letztlich geht es dabei (auch) um die Frage, ob die Medien ein Recht auf ein unfreiwilliges HIV-Outing haben – oder eben nicht. Eine wichtige Frage, an deren Beantwortung großes Interesse bestanden hätte.
Der überraschende Rückzug ist eine weitere erstaunliche Facette im Fall der wegen des Verdachts auf HIV-Übertragung verhafteten Sängerin.
Über die Verhandlung vor der Berliner Pressekammer wollte in ein Gastbeitrag Adam F. berichten. Adam hatte auf meine Suche nach einem Berichterstatter über die Verhandlung reagiert hat und sich bereit erklärt, zum Prozess zu gehen und zu berichten. So hätte er den Lesern von ondamaris (da ich selbst aufgrund anderer Termine nicht kann) einen Bericht aus erster Hand über diese wichtige Verhandlung ermöglicht. Dazu kommt es nun leider nicht – dennoch: auch an dieser Stelle ein besonders herzliches Dankeschön an Adam für sein Engagement!
Wie sich richtig verhalten, wenn wegen HIV-Übertragung ermittelt wird? In Großbritannien informieren zwei britische Aids-Organisationen in einer gemeinsamen Broschüre.
In Großbritannien haben zwei HIV-Organisationen gemeinsam einen Ratgeber für HIV-Positive heraus gegeben. Die Broschüre und Internetseite „Prosecutions for HIV Transmission“ soll über Strafverfolgung von HIV-Infektionen informieren.
Herausgegeben wird der Ratgeber gemeinsam vom National AIDS Trust (NAT) und dem Terrence Higgins Trust (THT). Er informiert u.a. über das geltende britische Recht im Umfeld der HIV-Infektion und gibt praktische Ratschläge für Personen, gegen die wegen fahrlässiger HIV-Infektion ermittelt wird. Er gibt ebenso Ratschläge für Personen, die überlegen, eine Anzeige gegen eine andere Person wegen HIV-Übertragung zu stellen.
In Großbritannien liegt die Zahl der Ermittlungsverfahren gegen Positive wegen HIV-Übertragung höher als in Deutschland. Nur ein kleiner Teil der britischen Ermittlungsverfahren mündet auch in Anklagen.
Der National AIDS Trust betonte, man trete weiterhin für eine Abschaffung der Kriminalisierung der HIV-Infektion ein – da aber Ermittlingsverfahren stattfänden, wolle man allen Beteiligten zuverlässige und verständliche Informationen bieten.
Weitere Informationen:
Terrence Higgins Trust 22.05.2009: New guide explains prosecutions for HIV transmission
Terrence Higgins Trust: Criminal prosecutions for transmitting HIV als Website oder als pdf
pinknews 22.05.2009: Charities launch guide on prosecutions for HIV transmission
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Aids-Beratung – kompetent, verlässlich, vor allem: vertraulich. Eigentlich selbstverständlich. Außer wenn. Zum Beispiel wenn es um Prominente geht. Oder wenn „Aids-Betreuer“ in der Presse plaudern.
Beratung sollte unabhängig, kompetent und vor allem vertraulich erfolgen. Ganz selbstverständlich erscheint vielen, dass kompetente Aids-Beratung diese Kriterien erfüllt und diesen Ansprüchen auch in der praktischen Arbeit gerecht wird.
Doch – was für Aids-Berater der Aids-Hilfen selbstverständlich gilt (und durch umfangreiche Qualitätssicherungs-Maßnahmen auch fortlaufend sichergestellt und optimiert werden soll), ist noch lange nicht in jeder anderen Aids-Organisation üblich.
So gibt es auch „Aids-Betreuer“ und „Aids-Betreuerin“.
‚Aids-Betreuerin‘ mag keine gängige Bezeichnung sein – aber scheinbar eine, deren Standards zumindest andere, vermutlich weit lockerere als die professionellen Standards der Aidshilfe sind.
„Sie hat einen völlig gesunden Eindruck gemacht, man merkt ihr die Krankheit nicht an“, so die Ärztin, die sich seit 22 Jahren um HIV-Patienten kümmert. „Es gibt auch einen Arzt, der sie im Gefängnis behandelt. Trotzdem war sie ganz dankbar dafür, dass ich ihr mein Wissen angeboten habe.“
So berichtet eine ‚Aids-Betreuerin‘ über die gesundheitliche Situation und Versorgung der verhafteten Sängerin, und ergänzt direkt zu deren psychischer Verfassung
„Sie schien mir nicht stabil zu sein und auch nicht zuversichtlich. Verständlich in dieser Situation. Ich konnte nur versuchen, sie zu trösten.“
Damit ist das Ende der Indiskretionen noch nicht erreicht, so wird auch über Kleidung, Körperpflege, Haftbedingungen berichtet.
Das ganze nicht bei einer Berater-Schulung, z.B. um eine Weiterbildung mit einem Fallbeispiel anonym zu illustrieren. Sondern in der Boulevard-Presse, mit Nennung des Namens der ‚betreuten‘ Person, unter dem Titel „Aids-Beraterin X hat sie in der Zelle besucht und berichtet in der Y“ [Name der ‚Betreuerin‘ mit X und der Zeitung mit Y ersetzt].
„Alle Beraterinnen und Berater verfügen über ausreichende Erfahrung, wurden speziell für die Online-Beratung geschult und dem Datenschutz verpflichtet“ – der Anspruch, der selbstverständlich ist für Beraterinnen und Berater der Aidshilfen (hier am Beispiel der Online-Beratung), scheint für andere andere Organisationen so nicht uneingeschränkt zu gelten.
Danke an K. für den Hinweis!
„Mit HIV vogelfrei für die Medien“ – schade, dass sich auch manche „Aids-Betreuer“ an dieser fragwürdigen Inszenierung beteiligen.
„vertraulich – verlässlich – kompetent“, unter diesem Motto wirbt die Online-Beratung der Aidshilfen für ihre Angebote. Und skizziert damit kurzgefasst den Standard, der für jegliche Gesundheitsberatung gelten sollte.
Vertraulichkeit steht dabei nicht grundlos an erster Stelle. Dass Privates z.B. zu Gesundheit und Psyche in den Medien ausgeplaudert wird, ist bei diesen Standards nicht vorgesehen.
Leider halten sich nicht alle, die im Aids-Bereich aktiv sind, an diese Standards. Ein Grund mehr, genau hinzuschauen, von wem man sich beraten lässt. Und im Zweifelsfall sich auf die bewährte Arbeit derjenigen Organisationen zu verlassen, die sich verpflichtet haben diese Standards einzuhalten: die in der Deutschen Aids-Hilfe zusammengeschlossenen Aids-Hilfen.
Die Darmstädter Staatsanwaltschaft habe sich bei der Verhaftung einer Sängerin wegen Verdachts auf HIV-Infektion korrekt verhalten und auch korrekt darüber berichtet, äußerte der hessische Justizminister bei einer Anhörung heute im Rechtsausschuss des Hessischen Landtags.
Doch – da sei nichts fragwürdig, meint der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn, wie die FR meldet:
„Bei der Abwägung zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Sängerin und dem Recht der Medien auf Information habe in diesem Fall der Anspruch der Medien Vorrang, sagte Hahn am Mittwoch bei einer Sitzung des Landtags- Rechtsausschusses in Wiesbaden.“
Weder in der Arbeit der Darmstädter Staatsanwaltschaft, noch in der Berichterstattung der Darmstädter Staatsanwaltschaft sehe er Fehler, betonte Hahn. Vielmehr bezeichnete er die Vorgehensweise laut FAZ als „rechtlich zulässig und fachlich geboten“.
Demgegenüber hatten sowohl die Grünen am 22.4.2009 als auch die SPD am 28.4.2009 betont, hier seien Persönlichkeitsrechte nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Hahn gab in der Anhörung u.a. an, bereits am Donnerstag vor Ostern von dem Fall und der bevorstehenden Aktion informiert worden zu sein. Die Verhaftung erfolgte am darauf folgenden Samstag. Hahn sagte, er habe zu keinem Zeitpunkt Veranlassung gehabt, einzugreifen.
Andreas Jürgens, rechtspolitischer Sprecher der Landtagsfraktion der Grünen, betonte
„Es bleibt dabei, dass wir die Sache unterschiedlich werten. Nach unserer Auffassung ist die Staatsanwaltschaft mit ihrer Informationspraxis über das Ziel hinausgeschossen, es wurden Persönlichkeitsrechte verletzt. Wir haben erhebliche Zweifel daran, dass in diesem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens diese nicht wieder rückholbaren Informationen an die Öffentlichkeit hätten gegeben werden dürfen.“
Heike Hoffmann, rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, äußerte die Ansicht, im Hinblick auf das Verbot einer unnötigen Bloßstellung sei die von der Staatsanwaltschaft Darmstadt herausgegebene Information über eine HIV-Infizierung kritisch zu betrachten.
Unterdessen bestätigte das Berliner Landgericht, dass am 19. Mai die Pressekammer mündlich über den Widerspruch des Axel-Springer-Verlags gegen die Anordnung des Landgerichts verhandeln wird, nicht über das Ermittlungsverfahren gegen die Sängerin zu berichten.
Aktualisierung: Das Landgericht Berlin teilte am 18.5.2009 ohne Angabe von Gründen mit, dass der Verhandlungstermin „kurzfristig vom 19. Mai 2009 auf den 28. Mai 2009, 13.30 Uhr, Saal 143 verleg“ wurde.
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weitere Informationen:
ondamaris 26.04.2009: Die Patientenakte und der Staatsanwalt
FR 29.04.2009: Hahn stellt sich hinter Staatsanwalt
FAZ 29.04.2009: Minister: Justiz handelte korrekt im Fall Benaissa
Grüne Hessen 29.04.2009: Rechtsausschuss zum Fall Nadja B. – GRÜNE sehen weiterhin Verletzung der Persönlichkeitsrechte
SPD Hessen: Auch bei Ermittlungsverfahren gegen Prominente müssen die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden
alivenkickin 29.04.2009: HIV Positive für vogelfrei erklärt
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Wie sicher sind Patientenakten beim Arzt, in der Klinik? Hat der Staatsanwalt Zugriff auf Patientendaten, wenn er will? Im Fall der verhafteten Sängerin scheint es so …
Am 11. April wurde eine Sängerin verhaftet, mit dem Vorwurf der fahrlässigen HIV-Infektion. „Sicherungshaft“, wegen „des dringenden Verdachts, weiterhin ungeschützten Geschlechtsverkehr mit verschiedenen Männern zu haben“.
Ein unappetitlicher Vorgang. Einer, der bald auch die handelnde Staatsanwaltschaft und den hessischen Justizminister in Erklärungsnöte bringt.
Ein Vorgang allerdings auch, der am Rande auf eines hinweist: Patientenakten sind nicht so sicher, wie manche es glauben.
Der ‚Spiegel‘ berichtet in einem Artikel über den Fall (Ausgabe 17/2009, S. 93):
„Am 25. März ordnet ein Darmstädter Amtsrichter ein immunologische Gutachten an, das klären soll, ob die Sängerin den Künstlerbetreuer angesteckt hat. Eine Woche später lässt er ein Frankfurter Klinikum durchsuchen und X‘ Krankenakte kopieren.“
Der Staatsanwalt (der laut FAZ „diese Angaben nicht kommentieren“ wollte) „lässt die Krankenakte kopieren“ – einfach so?
Wer hat denn das Recht, meine Daten als Patient einzusehen?
Unterliegen diese Daten nicht der ärztlichen Schweigepflicht?
Besteht nicht zwischen Arzt und Patient ein besonderes Vertrauensverhältnis?
Das Bundesministerium für Gesundheit erläutert die Rechtslage (in der Broschüre „Patientenrechte in Deutschland“, 5. Auflage September 2007, pdf):
„Die den Patienten betreffenden Informationen, Unterlagen und Daten sind von Ärzten, Pflegepersonal, Krankenhäusern und Krankenversicherern vertraulich zu behandeln. Sie dürfen nur mit Zustimmung des Patienten oder auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen weitergegeben werden.“
Zudem haben Ärzte (wie Zahnärzte, Apotheker und Hebammen) nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 Strafprozeßordnung (StPO) das Recht, das Zeugnis über das, was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut worden ist, zu verweigern. § 97 Abs. 1 und 2 StPO ergänzt dies um ein Beschlagnahmeverbot:
§97 (1) 2.: „Der Beschlagnahme unterliegen nicht … Aufzeichnungen, welche die in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3b Genannten über die ihnen vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt; …“, und
§97 (2) Satz 2: „Der Beschlagnahme unterliegen auch nicht Gegenstände, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte, Zahnärzte, Psychologischen Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen erstreckt, wenn sie im Gewahrsam einer Krankenanstalt oder eines Dienstleisters, der für die Genannten personenbezogene Daten erhebt, verarbeitet oder nutzt, sind, sowie Gegenstände, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a und 3b genannten Personen erstreckt, wenn sie im Gewahrsam der in dieser Vorschrift bezeichneten Beratungsstelle sind.“
Entsprechend kommt z.B. der Landesbeauftragte für den Datenschutz Mecklenburg-Vorpommern zu dem Schluß
„Den Mitarbeitern sollte durch einen entsprechenden Hinweis in der Dienstanweisung bewusst werden, dass Beschlagnahmen von Patientenunterlagen durch die Staatsanwaltschaft in der Regel unzulässig sind und Akten nicht heraus gegeben werden dürfen …“ (Der Landesbeauftragte für Datenschutz Mecklenburg-Vorpommern: „Datenschutz im Krankenhaus“,S.74, pdf)
Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Frage der Patientenakten geäußert:
„Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muß und darf erwarten, daß alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche Verfassung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unberufener gelangt.“ (BVerfGE 32, 373, 380)
Das BVerfG ergänzt sogar explizit
„Andererseits läßt sich ein solcher Eingriff [Einblick in die Patientenkartei, d.Verf.] nicht generell mit dem Interesse an der Aufklärung von Straftaten rechtfertigen, die allein dem Patienten zur Last gelegt werden. Wird bei einem Arzt die Karteikarte des Beschuldigten ohne oder gegen dessen Willen beschlagnahmt, so liegt darin in aller Regel eine Verletzung des dem Einzelnen zustehenden Grundrechts auf Achtung seines privaten Bereichs.“ (ebenda)
Wie also kommt ein Darmstädter Amtsrichter an die Krankenakte aus dem Klinikum?
Laut Aussage des Frankfurter Fachanwalts für Medienrecht Felix Damm („Beckmann“, 27.04.2009) ist es „zu einer Beschlagnahme gekommen“.
Was erst recht viele Fragen aufwirft, z.B. die nach der Vertraulichkeit des Arzt-Patient-Verhältnisses.
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weitere Informationen:
Unabhängiges Zentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein: Datenschutzrechte der Patienten
Deutsches Ärzteblatt 2008: Krankenunterlagen: Wer darf Einsicht nehmen?
Der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn habe die Rechte einer Sängerin, die wegen des Verdachts auf HIV-Infektion verhaftet worden war, nicht ausreichend geschützt. Die Grünen Hessen fordern ihn zur Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Landtags auf.
Am 10.4.2009 war eine Sängerin wegen des Verdachts auf HIV-Infektion verhaftet worden. Zahlreiche Details aus ihrem Privatleben gelangten an die Öffentlichkeit.Die Deutsche Aids-Hilfe kritisierte die Verhaftung als „unverhältnismäßige Aktion der hessischen Justiz“.
Nun gerät der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn unter Druck. Die hessischen Grünen haben einen „dringenden Berichtsantrag“ eingebracht, der am Mittwoch, 29.4.2009 im hessischen Landtag behandelt werden soll.
Der rechtspolitische Sprecher der Landtagsfraktion der Grünen, Andreas Jürgens, zum Berichtsantrag:
„Mit einem dringlichen Berichtsantrag für die Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags am Mittwoch kommender Woche wollen wir in Erfahrung bringen, ob und wann Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) Kenntnis davon hatte, dass die Staatsanwaltschaft die Verhaftung der Beschuldigten als öffentliche Inszenierung plante und danach sehr intime Einzelheiten aus dem Ermittlungsverfahren veröffentlichte. Außerdem wollen wir wissen, was er unternommen hat, um die Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten zu wahren. Es kann nicht angehen, dass im Verantwortungsbereich des Justizministers eine Beschuldigte öffentlich zur Schau gestellt wird und der Minister dazu bis heute anhaltend schweigt.“
Jürgens begründet den Antrag u.a.
„Immerhin ist die Staatsanwaltschaft im Gegensatz zu den Gerichten weisungsgebunden. Letztendlich ist daher der Justizminister verantwortlich für alle Handlungen der Staatsanwaltschaft. Es kann nicht sein, dass eine Staatsanwaltschaft so mit den Persönlichkeitsrechten von Beschuldigten verfährt und der verantwortliche Justizminister so tut, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun.“
Der Antrag umfasst einen detaillierten Fragenkatalog aus 13 Punkten zum Verhalten der hessischen Justiz und des Justizministers.
Jörg-Uwe Hahn ist seit 5.2.2009 hessischer Justizminister und gleichzeitig stellvertretender Ministerpräsident Hessens. Seit 2005 ist er Landesvorsitzender der hessischen FDP.
weitere Informationen:
Grüne Hessen 22.04.2009: Umstände der Verhaftung von Nadja B. und die Rolle von Justizminister Hahn müssen dringend aufgeklärt werden
Grüne Hessen 22.04.2009: Dringlicher Berichtsantrag (pdf)
ad-hoc-news 29.04.2009: Rechtsausschuss des hessischen Landtags diskutiert Fall Benaissa
SPD Hessen 28.04.2009: Auch bei Ermittlungsverfahren gegen Prominente müssen die Persönlichkeitsrechte gewahrt werden
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Ist Kriminalisierung von HIV, von HIV-Positiven ein geeignetes Mittel, die HIV-Infektionszahlen zu senken? Einige Beiträge angesichts der Verhaftung einer Sängerin wegen HIV-Übertragung erwecken den Eindruck. Was ist HIV – ein Verbrechen? Oder ein Virus?
Der Fall einer Sängerin, die wegen des Verdachts verhaftet wurde, einen Sex-Partner mit HIV infiziert zu haben, geht breit durch die Medien. Mancher Artikel, einige Berichte wägen ab, argumentieren, überlegen. Viele hingegen spitzen zu, überzeichnen, kaprizieren sich auf vermeintliche Horror-Geschichten. Einige benutzen eine Sprache, die eher von Terrorbekämpfung bekannt ist, reden von Virusschleuder, Todesengel oder Biowaffe. Manche schwingen die ganz große Keule, phantasieren von ‚lebenslang‘ oder fordern Verschärfung des Rechts, mehr Kriminalisierung.
Worum geht es?
Ist HIV ein Virus?
Oder ein Verbrechen?
Kriminalisierung – was bedeutet das bei HIV, und was sind ihre Konsequenzen?
Kriminalisierung von Positiven
In zahlreichen Staaten häufen sich Urteile gegen HIV-Positive. In manchen Staaten wird gar eine Verschärfung des Strafrechts gefordert. Die Kriminalisierung von HIV scheint immer breiteren Raum zu gewinnen – aber ist sie ein probates Mittel? Mit Justitia gegen Positive?
„HIV ist ein Virus, kein Verbrechen!“, betonte Edwin Cameron auf der XVII Internationalen Aids-Konferenz in Mexiko am 8. August 2008 in seiner Rede „Criminal Statutes and Criminal Prosecutions in the Epidemic: Help or Hindrance?“. Er forderte eine ‚Kampagne gegen Kriminalisierung‘.
Edwin Cameron ist Richter am Supreme Court of Apeal in Südafrika. Er lebt offen HIV-positiv und ist u.a. Autor des Buches „Witness to AIDS“ (deutsch: ‚Tod in Afrika – mein Leben gegen Aids‘).
In Deutschland wendet sich u.a. auch Pro Familia gegen Kriminalisierung. „Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Kriminalisierung ein Klima des Leugnens, der Verheimlichung und der Angst schafft und damit einen Nährboden für kontinuierliche und schnelle Ausbreitung von HIV“, betonte der Bundesverband Pro Familia Ende November 2008.
Und auch UNAIDS, die Aids-Organisation der Vereinten Nationen, betont (policy paper „Criminalization of HIV Transmission“, pdf) das Strafrecht sei nicht dazu geeignet, die HIV-Übertragungsrate zu senken. Es gebe keinerlei Evidenz dafür, dass mit einer breite Anwendung des Strafrechts bei der HIV-Infektion HIV-Übertragungen verhindert werden könnten. Vielmehr müssten die allgemeinen Menschenrechte auch für HIV-Positive gewahrt werden. Zudem empfiehlt UNAIDS HIV-Tests und vertrauliche Beratungsangebote.
Kriminalisierung hingegen wird – z.B. nach der (von der Deutsche Aids-Hilfe kritisierten) Verhaftung einer Sängerin – von interessierter Seite gelegentlich auch hierzulande gefordert, eine Verschärfung des Strafrechts angemahnt. So bezeichnet der Osnabrücker Strafrechts-Professor Arndt Sinn HIV-Positive im Interview mit der FR (17.04.2009) als „Gefährdungspotenzial“ und fordert die Einführung eines „Gefährdungstatbestands“.
Folgen der Kriminalisierung der HIV-Infektion
Wenn nun angesichts des Falles der Verhaftung einer Sängerin von manchen Stellen eine verschärfte Kriminalisierung gefordert wird – welche Folgen mag diese haben?
Die gesellschaftlichen Folgen, die aus zunehmender Kriminalisierung resultieren, hat u.a. der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Rolf Rosenbrock beschrieben:
„Ich bin immer davon ausgegangen, dass diese polizeistaatlichen Vorstellungen, mit Gewalt könne man das Risiko in der Bevölkerung auf Null bringen, in totalitären Wahnphantasien enden.“ (Rolf Rosenbrock, „Entscheidend ist die Kommunikation, in Deutsche Aids-Hilfe (Hg.): Jahrbuch 2007/2008)
Und die Folgen für Aids-Prävention und die Vermeidung von HIV-Neuinfektionen?
Nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Welche ‚Anreize‘ setzt dann eine zusätzliche Kriminalisierung?
Bizarre Folgen hätte eine Verschärfung der strafrechtlichen Bedrohung von HIV-Positiven, darauf weisen Kritiker hin: Nicht-Wissen wird wieder attraktiver als Wissen, nicht zuletzt aus Angst vor Repression – mit all seinen Konsequenzen.
Wer nicht weiß, dass er HIV-Positiv ist, weiß sich sicher vor strafrechtlicher Bedrohung, angesichts seines Nicht-Wissens. Auch wenn er sich beim Sex unsafe verhält, er mag sich selbst gefährden, ist aber von rechtlichen Folgen (einer Gefährdung Dritter) sicher.
Dies kann zu gravierenden Konsequenzen führen. Bereits jetzt, so zeigen zahlreiche Studien, ist ein Großteil der HIV-Neuinfektionen auf Personen zurück zu führen, die selbst bisher nichts von ihrer eigenen HIV-Infektion wissen. Die Zahl der ungetesteten HIV-Positiven, sie dürfte steigen durch zunehmende Kriminalisierung, warnen Präventionsexperten.
Und, ergänzen Behandler, wer nicht von seinem Status als HIV-Positiver weiß, bekommt keine entsprechende medizinische Betreuung, keine Behandlung, keine antiretrovirale Therapie. Ist nicht nur als nicht behandelter Positiver infektiöser, sondern vor allem selbst im Risiko einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands, einer Verschlechterung seiner späteren Behandlungsmöglichkeiten, eines vorzeitigen Todes.
Nicht von seinem HIV-Status zu wissen, kann potenziell ein Risiko sein. Für die eigene Gesundheit (als HIV-Infizierter, der von seiner eigenen Infektion nicht weiß), aber auch für die öffentliche Gesundheit insgesamt.
Nicht von seinem HIV-Status zu wissen wird wieder attraktiv, wenn Positive noch mehr als bisher stigmatisiert, kriminalisiert werden.
Die Kriminalisierung der HIV-Infektion erschwert Prävention, verschlechtert die medizinische Situation Betroffener und riskiert eine Verschlechterung der epidemiologischen Situation.
Und damit geht es in der aktuellen Debatte um weit mehr als ’nur‘ den‘ Staatsanwalt in meinem Bett‚ – es geht darum, ob die Aids-Bekämpfung in Deutschland weiterhin auf Aufklärung, Information, Selbstbestimmung und Verantwortung setzt und damit erfolgreich ist. Oder ob populistische Impulse von Boulevard-Presse und Präventions-Nicht-Experten zu einem Rollback führen.
Dies, darauf weisen Kritiker hin, ist die bizarre, bestürzende Konsequenz von Vorschlägen à la Sinn. Sie warnen vor rechtspolitischem Populismus mit drastischen Public-Health-Konsequenzen.
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Es ist zu hoffen, dass verbale Geisterfahrten und journalistische Amokläufe der vergangenen Tage sich bald wieder legen (oder der nächsten Sau zuwenden, die durch das mediale Dorf getrieben wird). Debatten über eine Weiterentwicklung und Optimierung von HIV-Prävention sind oft sinnvoll, manchmal erforderlich. Gerade das Statement der Deutschen Aids-Hilfe (‚HIV-Therapie und Prävention‚) zur Frage der Präventionsmethode ‚Viruslast unter Nachweisgrenze‘ zeigt, dass diese Debatten auch geführt werden. Allerdings ist diesen Debatten statt aufgeregter Platitüden und auflagengeilem Populismus eher ein Klima von konstruktivem Dialog, Nachdenklichkeit und zielorientiertem Handeln förderlich.
In der Diskussion über HIV und Strafrecht wird gerne unterschlagen, dass in Deutschland wie auch in unseren europäischen Nachbarstaaten bereits seit Jahren Rechtsvorschriften existieren, die u.a. regeln wie zu verfahren ist, wenn eine Person einer anderen Schaden für Leib und Leben zufügt. Diese allgemeinen Regelungen können auch auf HIV angewendet werden – und werden es auch, wie gelegentliche Prozesse, ein aktuelles Urteil in Kanada und eine aktuelle Studie (Pärli 2009) zeigen. Es gibt keinerlei Hinweise, dass diese bestehenden rechtlichen Regelungen nicht ausreichen.
Wo sie im bestehenden Recht Lücken sehen, erklären und begründen die Kriminalisierungs-Befürworter nicht. Weswegen ein Sonder-Recht besser als allgemein gültige Vorschriften sein sollte, ebenfalls nicht.
Und die Folgen, die solcherlei Verschärfungen haben könnten?
Über potenzielle Folgen für HIV-Prävention, für HIV-Positive, für die Entwicklung der Infektionszahlen machen sie sich oftmals scheinbar keine Gedanken. Oder doch? Schielen sie schon auf die steigenden Zahlen, um dann zum nächsten Schlag ausholen zu können?
So laufen die Apologeten einer zunehmenden Kriminalisierung Gefahr, sich als Brandstifter zu betätigen, als Brandstifter einer Verschlechterung der Situation von HIV-Positiven, vor allem aber auch als Apologeten einer Verschlimmerung der HIV-Epidemie in Deutschland. Und mittelfristig zu einem ‚law-and-order-Staat, zu ‚old-school- Public Health‘, zu Gauweilereien und anderen längst in ihrem Versagen als untauglich erkannten Konzepten.
Polizeistaatliche Vorstellungen weisen nicht nur -wie Rosenbrock treffend betont- den Weg in totalitäre Wahn-Phantasien. Sie gefährden auch die Erfolge, die 25 Jahre Aids-Prävention in Deutschland erreicht haben. Erfolge, die nicht mutwillig und leichtsinnig riskiert werden sollten.
Erfolgreiche Aids-Bekämpfung braucht nicht mehr, sie braucht weniger Kriminalisierung!
Eine junge Frau wird unvermittelt verhaftet – und die Medien geraten in Aufruhr, die Schlagzeilen der Titelseiten glühen rot. Aids, Schuld, Gefängnis schreien sie uns an. Als habe es keine jahrelange Aids-Prävention gegeben, werden alte Klischees bemüht – und Präventionserfolge riskiert.
Rufen wir uns zunächst den Sachverhalt in Erinnerung. Einer jungen Frau wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, Sexpartner mit HIV infiziert zu haben. Sie wird verhaftet, mit dem Vorwurf gefährlicher Körperverletzung. Dabei geht es bisher um staatsanwaltliche Ermittlungen – nicht um eine Anklage, geschweige denn um eine Verurteilung. Sondern um einen Verdacht.
Die Medien erfahren von diesen Ermittlungen – von der ermittelnden Staatsanwaltschaft.
Und nicht nur das, der zuständige Pressesprecher der Staatsanwaltschaft gibt darüber hinaus gerade Boulevard-Medien bereitwillig Interviews (Quelle: (1)).
Eine Pressearbeit der Staatsanwaltschaft, die Fragen aufwirft, hier z.B.:
– War es überhaupt erforderlich, die Person festzunehmen?
– Und war es erforderlich, angesichts einer eventuellen Tat, die schon vor Jahren (2004 und 2005) stattgefunden haben soll?
Aber neben dem konkreten Ermittlungs-Verhalten stellen sich erst recht Fragen an die freudige Auskunftsbereitschaft der Staatsanwaltschaft:
– Was macht erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft sich in diesem Fall von sich aus aktiv an die Presse wendet?
– Warum war es notwendig, den vollen Namen der betreffenden Person zu nennen?
– War es tatsächlich zwingend notwendig, den HIV-Status dieser Person offen zu legen, und dann gegenüber den Medien? Ist der HIV-Status der beschuldigten Person als Faktum bekannt, oder wurde auch hier nur ein Verdacht an die Medien gegeben?
– Worin besteht der „dringende Tatverdacht“ verbunden mit „Wiederholungsgefahr„, die als Begründung für die plötzliche Festnahme angeführt werden?
– Was hat die Staatsanwaltschaft veranlasst, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen so völlig hintan zu stellen gegenüber dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit?
– Besteht die Unschuldsvermutung nicht mehr?
Fragen über Fragen, denen sich weitere hinzu gesellen, wie die, ob aktuelle Erkenntnisse in Sachen Infektiosität (EKAF-Statement) überhaupt berücksichtigt wurden, oder die, warum -wenn die Gesundheit der Bevölkerung so wichtig ist- derart lange mit Reaktionen gewartet wurde.
Für die Medien wurde der ‚Fall‘ durch das Verhalten der Staatsanwaltschaft, durch Pressemitteilung und bereitwillige Interviews erst recht zum ‚gefundenen Fressen‘ – und mit zusätzlicher Attraktivität versehen, gab es doch gar Staatsanwälte als Quelle zu zitieren.
Entsprechend gerieren sich Medienvertreter auch, als die Anwälte der Verhafteten sich mit einer einstweiligen Verfügung zur Wehr setzen. Und sich auf die Pressefreiheit berufen.
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, Ger Neuber, kommentierte Kritik am Verhalten der Staatsanwaltschaft kühl mit den Worten „Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat.“
Ganz im Gegenteil, man wolle weiter machen: „“In der konkreten Situation sehen wir uns nach wie vor verpflichtet, den äußeren Tatbestand der Vorwürfe den Medien mitzuteilen.“ (laut taz)
Geraten so Staatsanwaltschaften in Gefahr, sich bewusst oder unbewusst zum Helfer der Medien zu machen – und die Belange, insbesondere die Schutzinteressen der betroffenen Personen, gegen die sie ermitteln, aus den Augen zu verlieren?
Und – beschwören Staatsanwaltschaften nicht so geradezu die Gefahr herauf, dass jegliches faire Verfahren unmöglich oder zumindest erschwert wird, die Unschuldsvermutung ausgehöhlt, der Beklagte in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt und das Verfahren vorgeprägt wird?
Oder ist die Staatsanwaltschaft gar nur ganz modern, setzt sich auf den Zug der „litigation PR“ (dem Managen der Kommunikation in rechtlichen Auseinandersetzungen)? Und die Anwälte spielen gar mit, mit ihrer einstweiligen Verfügung, die gerade Boulevard-Journalisten nur noch mehr herausfordern muss?
Der bzw. hier die Dumme im ganzen Vorgang: die Verhaftete mit ihren Persönlichkeitsrechten – und indirekt HIV-Positive und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, sowie die Aids-Prävention.
Oder ist der Staatsanwaltschaft, die kühl sagt “Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat” nicht bewusst, welche Folgen ihr Handeln für das Bild von HIV-Positiven und für HIV-Prävention haben kann? Wie sehr sie Diskriminierung und Stigmatisierung Tür und Tor öffnet?
Ist der Staatsanwaltschaft nicht bewusst, dass sie hier -wie selbst die Deutsche Aids-Stiftung beklagt und die TV-Nachrichten (2) bemerken – potenziell Präventionserfolge gefährdet?
Über Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte hinaus – die eigentliche, über den konkreten Fall hinaus weisende Kernfrage lautet deswegen m.E.: seit wann betreiben Staatsanwaltschaften Aids-Prävention?
Was (und wer) legitimiert, vor allem auch was qualifiziert eine Staatsanwaltschaft, sich als Player auf dem Gebiet der Aids-Prävention zu gerieren?
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(1) Schertz Bergmann Rechtsanwälte: „Einstweilige Verfügung gegen BILD im Fall X“, online auf presseecho.de
(2) ZDF heute journal 16.04.2009
Litigation-PR-Blog 16.04.2009: PR-Periskop I: Bärendienst für X
3A 16.04.2009: HIV-Behandlerinnen fordern sofortige Freilassung von Nadja Benaissa – Inhaftierung unverhältnismäßig
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auch lesen:
koww 17.04.2005: Keine Gelegenheit auslassen …
Antiteilchen 17.04.2009: Manchmal fragt man sich wer in Bwerlin alles Richter werden darf
alivenkickin 17.04.2009: Der Spießrutenlauf
taz 17.04.2009: Ende der Unschuldsvermutung
SZ 16.04.2009: Intimes, inszeniert und vorgeführt
SZ 16.04.2009: Auf das Wie kommt es an
„Medien können sich doch bei der Entscheidung, was und wie sie berichten, nicht nur von der Frage leiten lassen, was erlaubt ist. Sie müssen sich die Frage stellen, was richtig ist. Und was notwendig ist. Ich weiß nicht, ob es erlaubt war, über den Verdacht gegen eine Sängerin, über ihr Intimleben und ihre HIV-Infektion zu berichten. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nicht notwendig war.“ Stefan Niggemeier
Steven Milverton 18.04.2009: HIV in der öffentlichen Wahrnehmung
FAZ 19.04.2009: Der Staatsanwalt in meinem Bett
DAH-Blog 15.05.2009: Deutschland disst den Superstar
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Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH) kritisiert die Verhaftung einer jungen Frau wegen angeblich bewussten Infizierens von Sexualpartnern mit dem HI-Virus.
Dazu erklärt Marianne Rademacher, Frauenreferentin der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.: „Die junge Frau sollte so schnell wie möglich freigelassen werden. Ihre Verhaftung ist nach Einschätzung der uns bisher vorliegenden Informationen eine unverhältnismäßige Aktion der hessischen Justiz. Wir fordern die Medien auf, sachlich über den Fall zu berichten und nicht vorzuverurteilen. Die Verantwortung für den angeblich ungeschützten Sexualverkehr wird allein der jungen Frau zugeschoben, ohne nach der Mitverantwortung ihrer Sexualpartner zu fragen. Die deutsche Politik der HIV- und Aidsbekämpfung wird aber gerade deshalb als beispielhaft betrachtet, weil sie von der Verantwortung jedes einzelnen, von der Solidarität und der Bekämpfung jeder Art von Stigmatisierung ausgeht. Die hessische Justiz will offenbar ein Exempel statuieren. Die Justiz ist und darf aber keine Akteurin der HIV-Prävention in Deutschland sein.“
Seit den 1990er Jahren haben die Verurteilungen im Zusammenhang mit HIV-Übertragungen zugenommen. Das ist nicht ohne Auswirkungen auf die Präventionsarbeit im HIV/Aids-Bereich geblieben. Die öffentlichkeitswirksame Bestrafung von Menschen mit HIV/Aids kann aber leicht die Illusion entstehen lassen, der Staat habe das Problem unter Kontrolle, und so Personen dazu veranlassen, ihr Schutzverhalten (Safer Sex) zu vernachlässigen. Strafrechtliche Prozesse haben in solchen Fällen keine abschreckende Wirkung. Denn nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung führt unter Umständen dazu, dass Menschen es vorziehen, sich aus Angst vor Repressionen nicht testen zu lassen. Die DAH geht weiterhin von gemeinsamer Verantwortung aller Beteiligten in einvernehmlichen sexuellen Kontakten aus. Das war und bleibt die Basis unserer Arbeit.
[Pressemitteilung der Deutschen Aids-Hilfe vom 14.04.2009]
[15.04.2009 abends: Namen und identifizierende Merkmale aus Text und Kommentaren entfernt]
Ein HIV-positiver Mann ist in Kanada wegen zweifachen Mordes schuldig gesprochen worden.
Der jetzt 52jährige Johnson A. ist HIV-infiziert und weiß seit 1996 von seiner HIV-Infektion. Nach kanadischem Recht ist er durch eine Anweisung der Gesundheitsbehörden verpflichtet, seine SexpartnerInnen von seiner HIV-Infektion zu informieren.
A. hatte dennoch fortgesetzt ungeschützten Sex mit verschiedenen Frauen. Trotz Fragen seiner Sex-Partnerinnen nach HIV sagte A. ihnen bewusst nicht die Wahrheit.
Von elf Sexpartnerinnen von A. sind inzwischen sieben HIV-positiv, vier wurden HIV-negativ getestet. Zwei 49 und 51 Jahre alte Frauen verstarben inzwischen an Aids-bedingten Krebserkrankungen.
Am 30. August 2003 wurde A. verhaftet. Ihm wurde die Gefährdung des Lebens von elf Frauen durch von grob fahrlässiges Verhalten vorgeworfen. Die Verteidigung von A. betonte in dem Verfahren, A. sei depressiv und krank.
A. wurde wegen der Infektion der zwei Frauen, die später an den Folgen von Aids starben, verurteilt. Zudem wurde er der sexuellen Nötigung in insgesamt elf Fällen für schuldig befunden.
Der Anwalt des Verurteilten betonte, dieses Urteil werde für viele HIV-Positive ein Anlass sein, nun erst recht sehr genau zu überlegen, ob sie ihren HIV-Status bei sexuellen Beziehungen offen legen.
Der Presse zufolge ist dies in Kanada der erste Fall einer Verurteilung wegen Mordes aufgrund HIV-Infektion. Das Strafmaß soll am 7. Mai verkündet werden.
[via]
weitere Informationen:
theglobeanddmail 05.04.2009: Hamilton man found guilty of murder by spreading HIV
cbcnews 05.04.2009: Ontario man found guilty in HIV murder trial
Udo Schuklenk BioethicsForum 31.10.2008: Why Some HIV Transmissions Should Be Punished
aidsmap 07.04.2009: Guilty verdict in first ever murder trial for sexual HIV transmission
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In Norwegen stellt ein spezieller Paragraph die Infektion mit HIV unter Strafe. Aktivisten fordern nun seine Abschaffung.
Positive und Aids-Hilfen in Deutschland (und anderen Nachbarstaaten) diskutieren darüber, welche Auswirkungen das Statement der EKAF hat. „Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen“, lautet die neu publizierte Stellungnahme der Deutschen Aids-Hilfe.
HIV-Positive in Norwegen hingegen haben ein ganz anderes Problem. Noch immer sind sie besonders von einem speziellen Strafrechts-Paragraphen bedroht.
Der Paragraph 155 des norwegischen Strafgesetzbuchs wurde bereits 1902 eingeführt zum Schutz der Allgemeinheit vor Infektionskrankheiten. §155 wurde nach Angaben norwegischer Aktivisten jedoch bisher nur auf HIV angewandt und deshalb selbst im Land oftmals als „der HIV-Paragraph“ bezeichnet.
Der Paragraph besagt
„Any person who, having sufficient cause to believe that he is a bearer of a generally contagious disease, willfully or negligently infects or exposesanother person to the risk of infection shall be liable to imprisonment for a term not exceeding six years if the offense is committed willfully and to imprisonment for a term not exceeding three years if the offense is committed negligently. Any person who aids and abets such an offense shall be liable to the same penalty. If the aggrieved person is one of the offender’s next-of-kin, a public prosecution shall be instituted only at the request of the aggrieved person unless it is required in the public interest.“ (Quelle http://hiv-manifesto-norway.blog.com)
HIV-Aktivisten in Norwegen engagieren sich nun für eine Abschaffung des Paragraphen. Sie betonen, dieser Paragraph wiege HIV-Negative in falscher Sicherheit, unterminiere Bemühungen um die Förderung der Gesundheit und stelle für HIV-Positive ein bedeutsames psychologisches Hindernis dar.
Weltweit ist einerseits eine Tendenz zu beobachten, auf HIV stärker mit strafrechtlichen Mitteln und Kriminalisierung zu reagieren. Andererseits werden verstärkt Bemühungen unternommen, aufzuzeigen, dass die Kriminalisierung von HIV und HIV-Positiven erfolgreiche Aids-Prävention erschwert, wenn nicht unmöglich macht.
Die norwegischen HIV-Aktivisten betonen, die Kriminalisierung von HIV stelle einen Irrweg des Kampfes gegen Aids dar. Sie fordern die norwegische Regierung auf, den Parapraphen 155 abzuschaffen.
weitere Informationen: HIV Manifest (norwegischer Text) HIV Manifesto (englischer Text)
Ten Reasons to Oppose the Criminalizatioon of HIV-Exposure or Transmission (open society institute / soros foundation)
deutsche Übersetzung „10 Gründe gegen Kriminalisierung der HIV-Infektion“ (angefertigt von der Deutschen Aids-Hilfe; pdf)
[via poz and proud]
Nachtrag:
22.01.2009: Die Deutsche Aids-Hilfe unterstützt das norwegische Manifest gegen die Kriminalisierung der HIV-Infektion
poz 10.03.2009: Norwegian Manifesto Fights HIV Criminalization
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‚Unwissen schützt vor Strafe nicht‘, so könnte das Motto eines Urteils in der Schweiz lauten. Ein Mann wurde wegen fahrlässiger HIV-Infektion verurteilt – obwohl er selbst von seiner HIV-Infektion nicht wusste.
Das Bundesgericht der Schweiz (das höchste Schweizer Gericht) hat am 13. Juni ein bemerkenswertes Urteil gesprochen: ein Mann soll seine Partnerin fahrlässig mit HIV angesteckt haben. Der Mann wusste nicht von seiner HIV-Infektion – es habe aber konkrete Anzeichen für die eigene Infektion gegeben, so das Bundesgericht, deswegen ‚fahrlässiges Verhalten‘.
Wie die NZZ berichtet, hatte der Mann ungeschützten Sex mit seiner Partnerin. Bei der Frau wurde später eine HIV-Infektion diagnostiziert, und mit einem Virus-Typ, der eine Infektion durch den Mann als nach Ansicht des Bundesgerichts ‚medizinisch nachgewiesen‘ erscheinen lässt.
Der Mann hatte kein positives Ergebnis eines HIV-Tests. Er hatte auch zuvor mit anderen Partnerinnen ungeschützten Sex, unter anderem auch mit einer Frau, von der er wusste dass sie HIV-positiv ist.
Genau hier setzte das Bundesgericht an. Er habe, da er Risikokontakte hatte, die Möglichkeit einer eigenen Infektion nicht ausschließen können. Er habe konkrete Anzeichen für die mögliche eigene HIV-Infektion gehabt. Folglich hätte er Schutzvorkehrungen treffen müssen. Insofern sei sein Verhalten fahrlässig gewesen.
Das Bundesgericht widersprach damit einem vorherigen auf Freispruch lautenden Urteil des Züricher Obergerichts. Dieses Gericht hatte noch geurteilt, es bestehe keine Rechtspflicht, sich nach ungeschützten Sex vor dem nächsten ungeschützten Sex auf HIV testen zu lassen.
Der Mann wurde vom Bundesgericht zu einer bedingten Gefängnisstrafe von neuen Monaten sowie einer Geldstrafe von 30.000 Franken und Schadenersatz verurteilt. (Urteil 6B-235/2007)