Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 2

Die Situation HIV-Infizierter war beklemmend. Auch ich habe noch 1988 mein erstes größeres Interview für den Marburger Express noch unter Pseudonym gegeben, mein erster Fernsehauftritt kostete mich ein Drittel meiner Kanzlei. Im Beirat der Deutschen Aidshilfe brach ich 1988 das Tabu, öffentlich über die eigne Infektion zu sprechen und andere danach zu fragen. Über allem hing damals noch die Drohung, wir würden alle schnell dahinsiechen. Schulungen zu Sterbebegleitungen und Sterbemeditationen fanden bundesweit reichlich statt. Für den Ernstfall wollte man gerüstet sein. Die Bilder stimmten damals scheinbar. Sie waren geprägt von Menschen, deren Krankheit erst im Spätstadium diagnostiziert werden konnte und in deren Behandlung die Medizin noch im der Phase des Try and Error war. Den einfach nur Infizierten mit einer langen gesundheitlich stabilen Phase konnte man erst ab Herbst 1984, der Einführung des ersten HIV-Antikörpertests, entdecken, und den lange symptomarm oder symptomlos lebenden behandelten Infizierten erst ab den pharmazeutischen Fortschritten Mitte der neunziger Jahre. Ich habe mir in Marburg extra noch im September 1999 in einem ansonsten sehr sensiblen Portrait die Schlagzeile eingefangen: „Den Tod seit fünfzehn Jahren überlebt“. Diese Bilder waren immer sehr mächtig. Und unser Kampf ging darum, ihnen die Macht dadurch zu nehmen, dass wir ein Gesicht zeigten, das wahre Leben.

Obwohl die Beratungsgruppe, die seit 1984 tätig war, in erster Linie Testberatung machte, führte die allgemeine politische Kultur Marburgs, die uns geprägt hat, dazu, HIV auch als eine gesellschaftspolitische Herausforderung zu begreifen. 1987 stand dann die offizielle Gründung der Marburger Aids-Hilfe e.V. an. Zu den Finanzierungsverhandlungen in der Stadt reiste auf unseren Wunsch der inzwischen habilitierte Reinhard Brodt von der Frankfurter Infektionsambulanz an, um erfolgreich der Marburger Uniklinik Paroli zu bieten. Überhaupt bekamen wir in der Anfangszeit viel Unterstützung aus Frankfurt. Rafael Lewental und Peter Josefiok von der AHF halfen bei Veranstaltungen mit eigenen Erfahrungen aus. Die Teilhabemöglichkeit an Ausbildung und Diskussion in der Frankfurter und in der Hessischen Aids-Hilfe haben uns wichtige Unterstützung gegeben. Und dann war die Aidshilfe Marburg ziemlich nah am Leben dran. Während an vielen Orten nur streng geheime Positiventreffen unter dem Dach der Aids-Hilfe erfolgten, eine Mitarbeit aber unerwünscht war, bestimmten sie in Marburg die Diskussionen mit. Wenn ich damals auch beklagte, wie übrigens auch heute noch, dass zu wenige Menschen mit ihrem HIV Status offen umgehen, so zwingt die historische Perspektive mich doch, anzuerkennen, es war in Marburg eine Menge sichtbar los. Und das wurde vom Unfeld der Aids-Hilfe, der Tuntonia und häufig auch aus dem Schwulenreferat des Asta mitgetragen. Vor allem Florian, Wilfried, Reinhild und auch ich brachten offensiv, manchmal penetrant und nervend, die positive Sicht des Lebens ein. Heiße öffentliche Diskussionen der Marburger Positiven mit der Schwulengruppe und der Aids-Hilfe im Cafe am Grün verursachten einen erhöhten Supervisionsbedarf bei den MitarbeiterInnen des Vereins. Andrerseits bekam ich, als es meinem Freund Jörg ganz dreckig ging, unaufgefordert das Angebot eines schwulen Altenpflegers, er habe mit ein paar Freunden aus dem Pflegebereich gesprochen. Eine vierundzwanzig Stundenpflege könnten sie ehrenamtlich leisten, wenn wir Bedarf daran hätten. Das rührt mich auch heute noch zu Tränen. Im Arbeitskreis Aids beim Gesundheitsamt der Stadt Marburg, waren die Aids-Hilfe und Dr. Hornung lange Zeit die einzigen, die mehrere Kranke und Infizierte vor Ort kannten. Dort wurde für den ersten Spritzenautomaten gestritten, gegen heimliche Tests im Uniklinikum, um Methadonvergabe. Es gab Veranstaltungen zu Aids und Ethik u.a. mit Hans-Peter Hauschild, Sophinette Becker und dem Katholischen Stadtdekan im Buchladencafe am Grün. Die Strömungen, der Verein zur Förderung der Debattenkultur, angesiedelt beim roten Stern, veranstalteten für uns eine ganze Drogenreihe. Die schwule Kultur bescherte uns unvergessliche Benefizkleinkunstabende. Ich selbst durfte zusammen mit Uwe Kerkmann und Klaus Stehling unter anderem mit den Programmen „Sturzbetroffen“, „Pilze zum Lunch“ und „ich will nicht nur Schokolade“ beitragen. Die Waggonhalle, das Theater neben dem Turm, die Pfarrkirche, das KFZ, das Cafe am Grün, die Ortenberggemeinde und natürlich die Stadt Marburg gaben uns für die schrill künstlerische Facette der Arbeit bereitwillig ihre Räume. Klar, ein traditionsreiches Cafe in der Oberstadt, wollte Charlotte von Mahlsdorf nicht lesend in ihren Räumen haben. Das war aber dann für Tuntonia, das Schwulenreferat und die Urninge der Aids-Hilfe immer ein Fest, wenn man von einer Demo gegen Dyba noch im Fummel gewandet gleich zum Konditern gehen konnte.

Trotz allem war die Marburger Aidshilfe nie wirklich mein Ort, Ich habe da nie irgendwelche Funktionen vereinsrechtlicher Natur erfüllt. Räume waren für mich eher die Frankfurter und die Deutsche Aids-Hilfe und das Haus 68 in Frankfurt. Der Verein konnte und kann immer auf meine solidarische Unterstützung zählen, aber mein Ort war er nicht, weil seine Größe nicht zuließ, übergreifend politisch zu agieren. Klar, Gespräche in der Anfangszeit mit Uta Bednarz, Harald Jaekel, Peter von der Forst und Behruz Foroutan waren zu ihrer Zeit hilfreich, so wie heute Gespräche mit den engagierten Menschen in Offenbach und in Marburg mit Mario. Aber ich suchte damals keine Gruppe, in der man sein Elend gemeinsam bearbeitet, verarbeitet, trägt, die aber im übrigen völlig asexuell war. Oder anders, ich war auf der Suche nach Arbeitsfeldern, in denen ich eine Chance hat, nicht nur das vereinsinterne Klima zu verändern, sondern das leichtere Sprechen über HIV zu befördern. Dafür gab es geeignetere Rahmen als den Marburger Verein, der mich bei der Suche danach immer tatkräftig unterstützt hat, froh war, wenn ich meinen unersättlichen Diskussionsbedarf im Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe, Im nationalen Aids Beirat, in Frankfurt oder bei Kongressen und Tagungen deckte. Marburg habe ich immer wieder als Zaungast mitbekommen. Fein war der denkwürdige Gottesdienst für die Drogentoten der Stadt in der vollen Pfarrkirche mit Frau Bundesmann-Lotz. Für die Trauer gibt es inzwischen auf der Homepage einen virtuellen Friedhof für Drogentote. Die Schwierigkeiten, dass akzeptierender Drogengebrauch bei aller Grundüberzeugung des Vereins bei hauptamtlichen Mitarbeitern an Grenzen stößt, die zum Handeln zwingen, habe ich mitbekommen wie auch die Hürden, die die Verantwortlichen überspringen mussten. Wir haben viele Verluste erleben müssen. Florian und Ziggy leben nicht mehr. Sie haben dazu beigetragen, dass sich die Marburger Aids-Hilfe offensiv der Überlebensbedingungen von iv DrogenuserInnen angenommen hat. Der dringend benötigte Kontaktladen legt davon ebenso Zeugnis ab, wie jetzt das längst schon überfällige Streiten für einen Konsumraum.

Marburgs schwules Leben sehe ich seit geraumer Zeit nur noch aus der Ferne und mit Wehmut. Da scheinen mir mal wieder sieben dürre Jahre angesagt zu sein. Bleibt nur zu hoffen, dass die Akteure das Porzellan nicht endgültig zerdeppern sondern für zukünftige Aktivisten nur verstauben lassen. Meine Sicht von Marburgs schwulem Leben, meist mit der Aids-Hilfe als Mitveranstalter, ist geprägt von zwei Abenden im Rathaus zur Eröffnung des schwulen Herbstes. Einer davon waren die „Rosa Spuren im braunen Dickicht“, an dem mehr als ein Dutzend Männer und eine Frau gestaltend teilgenommen haben. Es gab unzählige Kleinkunst- und Trash-Abende im KFZ, Großveranstaltungen wie Hella von Sinnen in der ausverkauften Stadthalle, 1978 eine schwule Hardcore-Filmreihe im KFZ, die selbst mir teilweise zu heftig war. Sommerfeste im Schülerpark, Vortragsabende und Lesungen, Theater, es war schon eine bunte Mischung, an der beitragen zu können auch meine Entwicklung geprägt hat. Diese Facette schwulen Lebens vermisse ich in Offenbach. Es war einfach schön, sich von Manfred Schmidt, der inzwischen in Nürnberg Leiter des Beratungsteams der dortigen Aids-Hilfe ist, über den Einfluss der Bundeswehr auf die Reformbestrebungen des § 175 in den sechziger Jahren informieren zu lassen, manches über Geschlechtsidentitätenverwirrungen bei Indianern zu erfahren, kurz jede Menge Individualisten zu erleben, die an ihren Vorlieben und Themen partizipieren ließen.

In den Diskussionen, die ich inzwischen auf Hessischer Ebene mit der Marburger Aids-Hilfe erlebe, nehme ich immer erfreut wahr, dass dort die Begeisterung für die Buntheit des Lebens noch lebendig ist. Das hat richtig Spaß gemacht, mit Daniela Wais und Mario Ferranti bei der Erarbeitung des Leitbildes der Hessischen Aidshilfen über das Leben und die Notwendigkeiten der Arbeit von Aids-Hilfe zu diskutieren. Und ich weiß auch sehr zu schätzen, dass sich die Marburger Aids-Hilfe politisch dafür stark gemacht hat, die posT, das Magazin der Hessischen und der hannöverschen Aids-Hilfen, zu ermöglichen. Sie ist inzwischen eingestellt aber immer noch runterzuladen von www.ondamaris.de. Dort wird der Diskurs über das Leben mit HIV ernsthaft gepflegt. Dazu gehört, auch das Gespräch über Risikomanagement von Infizierten unter Therapien, zu pflegen. Das war lange ein Tabuthema, weil offensichtlich befürchtet wurde, die bloße Bekanntgabe wissenschaftlicher Ergebnisse, bedeute das Ende des Kondomgebrauchs und sei gesellschaftlich nicht zu vermitteln. Das ist natürlich Humbug, denn sexuelle Gesundheit bedeutet mehr und nicht zwangsläufig die Abwesenheit von HIV. Es zeichnet sich ab, dass erfolgreich behandelte HIV-Infizierte nicht mehr infektiös sind. Man soll also nicht ihre angebliche aber real nicht vorhandene Gefährlichkeit heranziehen, um rigide im gesamten schwulen Sex das Kondomgebot durchzusetzen. Es gibt viele Gelegenheiten, in denen es sinnvoll oder geboten ist. Aber wenn man Prävention gegen die Hepatitis machen will, bieten sich die von Gießen und Marburg durchgeführten Impfkampagnen an, Syphilis, Tripper und Co verlangen andere Strategien und letztlich muss der einzelne Mensch alles noch in seine Trieb- und Sehnsuchtsstrukturen einbauen können. Es ist ohnehin ein schwieriges Feld. Darin öffentlich nicht anzuerkennen, dass es neben dem Kondom auch zu respektierende andere Wege und Wünsche gibt, macht krank und wird unter anderem auf meinem Rücken ausgetragen. Da tut es gut, Mitstreiter auch in Marburg zu haben, die diese Bürde wegräumen wollen.

An die Marburger Kultur, Presse und Politik, an die soziale Szene der Stadt vom Betreuungsverein über den fib, die Lebenshilfe bis zur Bürgerinitiative Sozialpsychiatrienpie, an Teile der Justiz und an viele Marburgerinnen und Marburger geht mein Dank. Dass ich meine Art von Offenheit von vielen solidarisch unterstützt leben konnte, war in den Achtzigern und Anfang der Neunziger keine Selbstverständlichkeit. Danke für die Einbindung in der Stadt.

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(Bernd Aretz: ‚Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 1‚ erschien am 03.09.2012)

Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 1

Zum inzwischen ja sattsam abgefeierten dreißigjährigen Jubiläum von HIV und Aids gibt es von Bernd Aretz noch im Nachhinein einen Text aus dem Frühjahr 2007, also etwa ein Jahr vor der EKAF Erklärung über die Nichtinfektiösität der gut therapierten HIV-Infizierten. In diesem Rücklick anläßlich des 20 jährigen Jubiläums der Marburger Aidshilfe gibt er einen sehr persönlichen Eindruck von dem Leben als positiver schwuler Mann in der Provinz und der Bedeutung der Aidshilfe Marburg, für ihn.Der Text war dann für die Festbroschüre gar zu opulent, so dass er hier erstmalig in voller Länge veröffentlicht wird. Die Aidshilfe ist inzwischen fünf Jahre älter. Schenken wir also die Veröffentlichung der Aidshilfe Marburg zum Fünfungzwanzigsten (in zwei Teilen, Teil 1 heute, Teil 2 am 5.9.2012):

Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe

Fünf mal Pommes rot/weiß war die Standardbestellung in der Gerichtsschänke gegenüber der Profamilia, wenn das Team der Aidshilfe nach getaner Beratung sich zum Diskutieren und Pläneschmieden am großen Tisch versammelte. Die Köpfe rauchten, die Aschenbecher quollen über, man bediente sich großzügig am immer wieder nachbestellten Standardgericht der Gruppe. Derweil wurden die Aktionen geplant. Das Klima war grauenhaft. Die Liste der anzugehenden Aufgaben lang. Prof. Krause von der Hautklinik bestritt, dass Marburg ein Problem mit HIV und Aids habe, im übrigen könnten die Patienten, die man ohnehin am liebsten von hinten sehe, doch nach Frankfurt gehen, da seien sie doch gut aufgehoben. Eine Aids-Hilfe brauche man hier wirklich nicht. Das war 1987. Da war ein kleiner Kreis um Uta Bednarz, Cristoph Gutenbrunner, Harald Jaekel und Behruz Foroutan schon seit drei Jahren beratend zu Gange gewesen. Ich hatte schon 1984 auf der Aids-Station 68 in Frankfurt die Testamente zweier sterbender Marburger Männer beurkundet. Das war zwar standesrechtlich nicht zulässig, weil ich dazu meinen Amtsbezirk verlassen musste, aber der Klinik war es nicht gelungen, in Frankfurt einen Notar zu finden, der sich ganz kurzfristig dieser Aufgabe gestellt hätte. Meine Dienstaufsicht hat auf meine sofort erfolgte Selbstanzeige das Verfahren gleich eingestellt. Im Klinikum wurde heimlich getestet und der einzige, der dort das Fähnlein einer vorurteilsfreien Lehre aufrecht hielt, war der Psychosomatiker Wolfram Schüffel, der einmal im Semester HIV und ethische Fragen auf dem Lehrplan hatte und dazu – auch betroffene – ExpertInnen von außen zum vortragen einlud.

Der Test war heiß umstritten, die deutsche Aids-Hilfe lehnte ihn, ab, die Marburger und Frankfurter boten ihn an. Harald Jaekel verfasste im Juni 1987 ein Papier „Kann die Mitgliedschaft regionaler Aids-Hilfen in der Deutschen Aids-Hilfe von einer strikten Ablehnung des HIV Tests abhängig gemacht werden?“ Er bestand auf dem Recht auf Wissen, auch wenn es noch keine therapeutischen Interventionsmöglichkeiten gab, und fand es unethisch, wie die meisten Mitarbeiter von Aids-Hilfen bundesweit, zwar selbst gestestet zu sein, Ratsuchenden dieses Recht übervorsorglich aber abzusprechen.

Die schwule Szene war ein zu bearbeitendes Feld. Erwünscht war da in Marburg die Aids-Hilfe nicht. Man könne doch den Kindern im Coming out, deren Leben ohnehin schwer genug sei, nicht auch noch die Angst vor HIV aufladen. Widerstand erregte der Plan, sich mit einem Button „Aids-Hilfe Marburg“ unter das feiernde Volk zu mischen und sich so als Anzusprechender anzubieten. Die Veranstalter, die mich als Redner zu einer schwulen Demo in Marburg eingeladen hatten, versuchten vergeblich, mir HIV und Aids als Thema auszureden.

Ganze Bevölkerungsgruppen waren abgeschrieben. Die repressive Drogenpolitik war offensichtlich gescheitert und forderte täglich mehrere Opfer in der Bundesrepublik. Alles was man zur Entschärfung der Situation forderte, nämlich saubere Spritzen, Methadon, Notschlafplätze, Anlaufstellen, Druckräume und – damals eigentlich noch völlig undenkbar – Originalstoffvergabe, insgesamt eine die Menschen akzeptierende Politik war dem Vorwurf ausgesetzt, wir bestärkten die Menschen in ihrer Abhängigkeit. Lange mussten sich Abhängige erst eine HIV-Infektion zuziehen, um sich die Gnade zu erkaufen, die Aufnahmekriterien für ein Substitutionsprogramm zu erfüllen. Und auf Gegenliebe für eine rationale Drogenpolitik konnte man bei dem zuständigen Vertreter der Marburger Staatsanwaltschaft wahrlich nicht hoffen. Er sah es nicht als sein Recht, schon gar nicht als seine Pflicht an, seine Stimme gegen die verfehlte Repressionspolitik zu erheben. In unseligster Tradition ging er davon aus, er habe die Gesetze anzuwenden und nicht zu beurteilen. Kein Wort von ihm zu dem Skandal, dass trotz bekannten Drogengebrauchs in den Vollzugsanstalten abhängige Gefangene keinen Zugang zu sauberen Spritzbestecken haben. Dazu gehört dann, bei jeder neuen Statistik des Robert Koch Institutes Tränen zu vergießen und Unverständnis dafür zu heucheln, dass immer noch Infektionen stattfinden. Im Drogenbereich ist eine Teilerklärung dafür ganz einfach. Der Staat schafft in den Vollzugsbedingungen für abhängige Gefangene eine Situation, in der sie sich infizieren müssen, auch mit Hepatitis C.

Für Migranten gab es nichts und die Unterstützung der dritten Welt – und sei es nur durch die Skandalisierung von Zuständen – war nun auch nicht jedermanns Anliegen. Aber die Aidshilfe war mittendrin im Thema.

Broschüren in persisch und türkisch und japanisch wurden von den Marburgern erstellt, die Zusammenarbeit mit der Blindenstudienanstalt, mit der Interessensgemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen gesucht, die ganzen Netzwerke der Stadt immer wieder aktiviert und umgekehrt solidarisch unterstützt. Bundesweit wird es erst jetzt wieder Thema, wie man denn Migranten muttersprachliche Informationsbroschüren zukommen lassen kann. Eine einzelne Aids-Hilfe ist damit überfordert, es wird aber zurzeit gibt es Anstrengungen, eine vernünftige Linkliste zum Download zu erstellen. In der alltäglichen Betreuungsarbeit begegnet Aids-Hilfe inzwischen ohnehin Menschen aus allen Kontinenten.

Die Situation infizierter Frauen wollte bedacht sein. Infizierte Frauen wurden ungeniert zur Abtreibung gedrängt, die Perspektive von infizierten Müttern, die erleben, dass ihre Kinder erwachsen werden, war noch undenkbar. Heute liegt die Übertragungsrate während der Geburt von Müttern auf ihre Kinder in Deutschland unter zwei Prozent. Und wir freuen uns, dass eine unserer früh infizierten Frauen inzwischen gewollt und bewusst Mutter geworden ist.

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(Bernd Aretz: ‚Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 2‘ erscheint am 5.9.2012)

UNAIDS-Direktor Michel Sidibé: die Welt steht tief in der Schuld der Lesben-, Schwulen- und Transgender-Communities

Michel Sidibé, Generaldirektor von UNAIDS, erinnert an die Verdienste und Errungenschaften von Schwulen, Lesben und Transgender (LGBT) m Kampf gegen Aids in den vergangenen 30 Jahren:

„The global AIDS response would never have reached where it is today without their courageous, inspiring and consistent action and activism over the last 30 years.“

Sidibé weist darauf hin, dass es Schwule waren, die Anfang der 19080er Jahre die ersten Organisation zur Unterstützung und Pflege gründeten. Dass es Schwule, Lesben und Transgender waren, die Mitte der 1980er Jahre in einer Zeit der weitgehenden Ignoranz durch die offizielle Politik mit selbst kreierten Kampagnen Druck machten, nach Lösungen verlangten. Dass es eine Gruppe von schwulen Männern war, die 1983 die ‚Denver Prinzipien‚ als erstes bedeutendes Statement der Rechte von Menschen mit HIV verfassten.

UNAIDS-Generaldirektor Michel Sidibé bei der Eröffnung der Konfernez "HIV, law and human rights" in Dakar am 7. Februar 2011 (Foto: UNAIDS)
UNAIDS-Generaldirektor Michel Sidibé bei der Eröffnung der Konfernez "HIV, law and human rights" in Dakar am 7. Februar 2011 (Foto: UNAIDS)

Sidibé betont die nicht zu unterschätzende Bedeutung von ACT UP als einer der ersten Organisationen, die die Schwulen-, Lesben- und Transgender-Bewegung mit der Bürgerrechts-Bewegung zusammen gebracht habe, um wirtschaftliche und politische Lösungen der Aids-Krise zu verlangen.

Die heutigen Erfolge auch in der Behandelbarkeit von HIV beruhten, so Sidibé, auf diesem Engagement der Lesben-, Schwulen- und Transgender-Bewegungen in den 1980er und 1990er Jahren.

„Today’s treatment success sprang from this bold and „outside the box“ grassroots leadership of the LGBT community in the 1980s and ’90s.“

Diese Erfolge hätten jedoch einen bitteren Beigeschmack, da schwule Männer immer noch weit überproportional von HIV betroffen seien:

„After 30 years of the world’s strongest HIV programs led by the LGBT community, the AIDS epidemic is still taking a tragic and disproportionate toll on LGBT communities all over the world. In the United States, gay and bisexual men comprise less than two percent of the population, yet they have accounted for at least half of new HIV infections and cumulative HIV cases since the first cases were reported in the 1980s.“

Es sei eine bittere Ironie, dass ausgerechnet einige derjenigen Staaten, die am meisten von den Errungenschaften der letzten Jahre der Aids-Bekämpfung profitiert hätten, auch diejenigen Staaten seien, die am deutlichsten Schwule, lesben und Transgender diskriminieren und verfolgen.

Die Welt stehe tief in der Schuld der Lesben-, Schwulen- und Transgender-Communities weltweit. Es sei nun an der Zeit, dieser Schuld gerecht zu werden, danke zu sagen:

„The world owes the LGBT community a great debt. Now it is time to repay our debt of thanks. Those of us in positions of global leadership must stand by LGBT people all over the world and say, „You are not alone. We are in this together.““

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Michel Sidibé: The AIDS Response Owes a Great Debt to LGBT Communities
in: Huffington Post 20.07.2012

Felix-Rexhausen-Preis 2012 für ‚Der Aids-Krieg‘

Für seine Dokumentation ‚Der Aids-Krieg‘ erhält Jobst Knigge den Felix-Rexhausen-Preis 2012. Der Preis wird seit 1998 jährlich vom Bund Lesbischer und Schwuler JournalistInnen (BLSJ) verliehen.

Der BLSJ begründet

„Autor Jobst Knigge stellt Erinnerungen von Zeitzeugen Archivaufnahmen gegenüber, ergänzt durch bislang nie gezeigte Privat-Fotos und Filme. Zu Wort kommen Menschen, die in den 1980er-Jahren plötzlich und unvorbereitet mit dem Thema Aids konfrontiert wurden, sei es als Infizierte, als verantwortliche Politiker oder als Betreuer von Sterbenden. Knigge gelingt es auf anrührende und zugleich informative Weise, an die Jahre nach dem Aufkommen der Immunschwächekrankheit zu erinnern. Spannend erzählt, beleuchtet die Dokumentation eine Zeit, in der erstmals in aller Öffentlichkeit über schwulen Sex gesprochen wurde und in der lange nicht klar war, wie “Der Aidskrieg” ausgehen würde – ob zum Beispiel im Kampf um geeignete Maßnahmen gegen die Epidemie demokratische Grundrechte auf der Strecke bleiben würden.“

Die Preise wurden am 14. Juli 2012 in München überreicht.

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BLSJ 14.07.2012: Felix-Rexhausen-Preis 2012: Nomierungen stehen fest
WDRdok: Der Aids-Krieg

„rare cancer seen in 41 homosexuals“ – vor 31 Jahren berichtet die New York Times erstmals über AIDS

„Rare cancer seen in 41 homosexuals“, unter diesem Titel berichtete die New York Times am 3. Juli 1981 (heute vor 31 Jahren) erstmals in der breiten Öffentlichkeit über das, was später als Aids bezeichnet wurde.

Eine ungewöhnliche Häufung von Fällen des ansonsten seltenen Kaposi Sarkoms unter jungen Homosexuellen war Fachleuten aufgefallen. Wenige Wochen zuvor, im Juni 1981 erschien ein erster Bericht über das, was später ‘Aids’ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‘MMWR’).

Anfang Juli 1981, zum Zeitpunkt des ersten Berichts in der New York Times, war noch nichts über Ursache, Erreger und Verbreitungswege bekannt.

„The cause of the outbreak is unknown, and there is as yet no evidence of contagion“,

doch Ärzte beschrieben die Situation bereits als „rather devastating„. Zwar sei Krebs nicht übertragbar, aber für den Ausberuch könne auch ein Virus oder Umweltfaktoren verantwortlich sein, spekuliert der Autor bereits. Es gebe erste Hinweise auf einen Verursacher.

„Cancer is not believed to be contagious, but conditions that might precipitate it, such as particular viruses or environmental factors, might account for an outbreak among a single group.“ Und „The medical investigators say some indirect evidence actually points away from contagion as a cause.“

Die Fälle beträfen überwiegend Homosexuelle mit vielen Sexpartnern:

„most cases had involved homosexual men who have had multiple and frequent sexual encounters with different partners, as many as 10 sexual encounters each night up to four times a week“.

Dies bedeute auch Entwarnung – für Heterosexuelle bestehe voraussichtlich keine Gefahr:

„Dr. Curran said there was no apparent danger to nonhomosexuals from contagion. “The best evidence against contagion,“ he said, “is that no cases have been reported to date outside the homosexual community or in women.““

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New York Times 03.07.1981: RARE CANCER SEEN IN 41 HOMOSEXUALS

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles begann 1981. Forscher beobachten eine seltsame Häufung von Pilzinfektionen und seltenen Lungenentzündungen bei Schwulen in Los Angeles, später auch in San Francisco und New York. Im Juni 1981 erscheint ein erster Bericht über das, was später ‚Aids‘ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‚MMWR‘). Schon wenig später berichtet mit der New York Times auch die erste Publikums-Zeitung, im März 1982 schließlich berichtet in Deutschland erstmals der ‚Spiegel‘, unter dem Titel “Schreck von drüben”.

So beginnt ‚die Geschichte von Aids‘ (bzw. von der Wahrnehmung von Aids, denn die Anfänge von HIV liegen weit früher).

So beginnt Anfang der 180er Jahre die Geschichte einer Epidemie, die bald das Leben (nicht nur) der Schwulen dramatisch verändert. Die Geschichte einer Infektion, die sich – zunächst schlei­chend, bald jedoch mit massiver Wucht – in die Leben vieler Menschen drängt, auch in meines.

2012, gut dreißig Jahre später. Zahlreiche Feiern haben stattgefunden in den vergangenen Jahren, Jubiläen unzähliger Organisationen, die sich im Kampf gegen Aids engagiert haben. Was gab es zu feiern? 3 Jahre. Erinnern. Geschichte.

Geschichten.
Geschichten wie HIV sich mal schleichend langsam , mal überschlagend schnell in unsere, auch in mein Leben drängte, es aufzusaugen drohte.

Wie wichtig ist HIV in meinem Leben?
Ein weiter Bogen ließe sich spannen, von Ignoranz bis Dominanz, von Verharm­losen bis Hoff­nungslosigkeit, von Liebestrunkenheit bis zu tiefstem Absturz.
Fast wäre es wohl möglich, eine Art ‚Typologie der HIV-Relevanz‘ in meinem Leben zu erstellen – von Null auf Hundert, mit allerlei Achterbahn mittendrin.
Geht es auch wieder zurück? Hört das irgendwann einmal auf?

Anfang der 1980er

An die ersten Berichte über diese „neue Schwulen-Seuche“, wie sie damals tituliert wurde, kann ich mich gut erinnern, und auch an meine Reaktionen. „Haben die jetzt wieder etwas Neues gefunden, um uns weiter zu unterdrücken?“ Die Schwulen der Generation vor mir hatten mühsam gekämpft, um die Freiheiten, auch die sexuellen Freiheiten, zu erreichen, die ich nun gerade in vollen Zügen genoss. Wollten die uns das alles wieder weg nehmen? War da überhaupt etwas dran? Oder übertrei­ben die wieder mal?

Mit HIV (das diesen Namen erst später erhielt) wollte ich damals zunächst nichts zu tun haben. Okay, an das mit den Kondomen, da musste ich mich wohl gewöhnen. Ein kleiner, hauchdünner Schritt war es, mit dem HIV in mein Leben drang.

In Urlauben, gern an Frankreichs schwulen Stränden, erleben wir – anders als in den Homoszenen zuhause – weiterhin ‚das pralle Leben‘. Sex, als sei Aids ein fernes Gespenst, safer Sex etwas für neurotische Großstädter (die genau hier ihren Urlaub machen). Es ist Urlaub, die Sorgen sind fern, Kondome bei Franzosen anscheinend noch un­beliebter als bei uns. Weitgehend sorgenfrei scheint das schwule Standleben hier weiter zu toben.

Mitte der 1980er

Irgendwann begann Aids, mehr Raum in meinem Leben einzunehmen. Ob ich wollte oder nicht (nein, ich wollte nicht), HIV drängte sich mehr in mein Leben. Nicht schleichend, sondern ganz ra­sant. Wegschauen war vorbei. Zunehmend mehr Freunde und Bekannte erkrankten. Die ersten ster­ben.

Ende der 1980er

Und es wurde nicht besser. Monatelang, jahrelang nicht. Im Gegenteil.

Kein Zeichen von Hoffnung.
Kein Lichtstreif am Horizont.
Immer mehr Freunde und Bekannte kamen an, sagten dieses traurige „du, ich hab’s auch“.
Hoffnungslosigkeit schwang bei jedem Test, jeder Diagnose sofort mit.
Zahle ich jetzt den Preis für mein liederliches Lotterleben, wie sie es uns einzureden versuchen? Hat ‚es auch mich erwischt‘? Und wenn ja – wie lange habe ich noch?

Immer mehr Lover, Weggefährten, Mitstreiter starben.
Die Zahl der Trauerkarten und Einladungen zu Begräbnissen in unserem Briefkarten nahm irgend­wann ein Maß an, für das mir nur ein Wort in Erinnerung bleibt: ‚unerträglich‘

Um HIV kam ich nicht mehr herum. Aids war längst tief drin in meinem Leben.

Anfang der 1990er

Im Sommer 1989 lernte ich in Paris einen jungen Mann kennen. Eine ‚große Liebe‘ meines Lebens.Wir verbrachten traumhaft schöne Momente mit einander, positive Momente. Irgendwann in den 1980ern hatte ich selbst die Diagnose ‚HIV-positiv‘ bekommen. Auch er war positiv. Seelenver­wandte waren wir, Gefährten. (Ich habe über die Zeit mit ihm auf unserem privaten Blog 2mecs ge­schrieben „Einige Tage mit dir“.)

HIV hatte sich wieder weiter voran in mein Leben gedrängt, wieder eine Stufe mehr auf der Leiter der Aids-Eskala­tion, eine unerträgliche. Nicht nur waren große Teile meines persönlichen Umfelds HIV-positiv, nicht nur hatte ich selbst längst mein Testergebnis in der Tasche. Nein, nun war auch einer der Menschen, die mir am nächsten sind, einer den ich liebe, positiv – und erkrankte, erkrankte schwer.

Ich erlebte mit ihm, mit uns nicht nur ’sein‘ HIV, sei fortschreitendes Erkranken. Mir war nur zu bewusst: du er­lebst hier auch dein HIV. Du erlebst auch dich selbst – in irgend einer nicht allzu fernen Zukunft. So wie ihm wird es bald auch dir ergehen.

Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe.

Selten habe ich mein Leben elendiger empfunden.
Und lange hinterher stand immer wieder eine Frage im imaginären Raum meiner stillen Gedanken: Warum er? Warum ich nicht? Eine Frage, die heute nur schwer verständlich erscheinen mag. Eine Frage, auf die es keine ‚vernünftige‘ Antwort gibt. Keine Antwort die erträglich ist.

Mitte der 1990er

Irgendwann konnte ich auch meiner eigenen HIV-Infektion nicht mehr so locker umgehen wie zu­vor viele Jahre lang. Ich ging regelmäßig zum Arzt, ließ Werte kontrol­lieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu lassen.

Doch das funktionierte irgendwann nicht mehr. HIV drängte sich noch weiter vor in mein Leben, nahm nun eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Ich erkrankte oft, vielfach an ‚harmlosen‘ Dingen, doch zu­nehmend häufiger, schwerer.

Bis mein Körper irgendwann ’nein‘ sagte, nicht mehr wollte. Ich wachte eines Morgens auf, im Krankenhaus, unter Sauerstoff. PcP – eine der Erkrankun­gen, die damals Horror-Gefühle bei jedem Positiven auslösten. Eines der untrüglichen Zeichen: nun ist es soweit.

HIV begann, mein Leben zu dominieren.

1996

„Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Die Worte des Arztes waren eindeutig. Und sie überraschten meinen Mann und nicht, nicht mehr. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten.
Mein eigener Horizont war immer enger geworden. Reichte nur mit großer Mühe noch über mich, mein kleines beschissenes Leben, das pure Über-Leben bis zum nächsten Morgen hinaus

Die maximale Eskalationsstufe schien erreicht. HIV hatte sich so massiv in mein Leben gedrängt, das kaum noch Raum für anderes war. HIV hatte mein Leben okkupiert. Zu einhundert Prozent. Es fraß mich auf.

Immer noch 1996

„Es gibt da ein neues Medikament. Noch nicht in Europa zugelassen, aber gute Studiendaten.“ We­nige Wochen später. Der Arzt kann mir zaghaft Hoffnung machen.
Einige Wochen, einige Probleme mit der Krankenkasse, einen Arztwechsel später: plötzlich macht es ‚peng‘. Plötzlich, einige Wochen nachdem ich mit der neuen ‚Kombi‘ begonnen hatte. Eines Tages merkte ich ‚da ist ja doch noch Leben in dir‘. Wachte auf, fühl­te mich. Fühlte mich – ein klein wenig kräftiger. Ein Wort, ein Gedanke, der mir sehr lange nicht mehr gekommen war.

Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer – aber er sagte: viel­leicht kannst du doch die Hoheit über dein Leben zurück gewinnen, zumindest für einige Wochen, einige schöne Tage noch.

In den 2000ern

Ein Auf und Ab folgte. Wirken die Pillen? Und wie lange? Wann versagen sie wieder? Trotz aller neuen Hoffnungen, HIV war immer da, ganz vorne im Bewusstsein. Die Drohung des Sterbens war immer präsent.

Mein Leben mit HIV, mit den Pillen ist zu dieser Zeit nicht immer einfach. Die eine Kombi macht so massive Neben­wirkungen, dass ich mich kaum ohne Unterhose zum Wechseln aus dem Haus traue. Die andere führt zu Taubheit an den Füßen, Neuropathien. Irgendwann werden die Arme und Beine immer dün­ner, Löcher schleichen sich ins Gesicht – Lipodystrophie.

Und doch: ich lebe. Und ich lebe zunehmend besser. Lerne mit Neben- und Wechselwirkungen um­zugehen. Therapiewechsel. Irgendwann auch Kombi-Therapien, die ich ruhigen Gewissens als ‚ver­träglich‘ empfinde.

HIV ist noch da, nimmt zuerst weiter einen sehr großen Raum in meinem Leben ein. Aber der Raum wird kleine. Schleichend reduziert sich der Einfluss, den HIV auf mein Leben hat, dem ich ihm gewähren muss.

Und doch – HIV und Aids haben Wunden hinterlassen in mir, die nur sehr langsam heilen (tun sie das?). Schmerzen, die immer wieder aufbrechen. Schaue ich (was ich vermeide) in alte Adressbücher, schreit mich eine Einsamkeit des Zurückgelassenen an. Erinnere ich mich an früher, an Menschen, die ich liebe, mit denen ich mich engagierte, die mich durch mein, durch unsere Leben begleiteten – ist da eine unendliche Traurigkeit. Leere.

2012

Inzwischen, und schon seit einigen Jahren, kann und soll Aids wieder weit weniger Raum in mei­nem Le­ben einnehmen, deutlich weniger. Ja, es gibt noch die täglichen Pillen, die dreimonatigen Arztbesu­che. Gelegentliche Positiventreffen. Meine Site ondamaris.

In meinem Fühlen, in dem was mich persönlich beschäftigt, nimmt Aids hingegen seit Jahren weni­ger Raum ein. HIV okkupiert nicht mehr mein Leben. Ich versuche, ihm ständig weniger Raum zu­zugestehen. Eine kleine, ganz private ‚Normalisierung‘.
Das Leben ist längst zurück gekehrt, mit all seinen Freuden, Banalitäten und Alltagssorgen.

HIV – ist noch da, und wird es wohl, so keine Wunder geschehen, auch mein Leben lang bleiben.
Aber HIV dominiert nicht mehr mein Leben. Ist ein Teil davon, ein kleiner. Bestimmt es nicht mehr.

Im Gegenteil, in den letzten Jahren verliert es an Bedeutung, für mich, in meinem Leben, wird HIV zunehmend – unwichtiger.

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Was ich mir für die Zukunft wünsche?
Dass HIV und Aids wieder dorthin verschwinden, wo sie hingehören: in die Bedeutungslosigkeit.
Hier, und überall auf der Welt, unabhängig von Industrialisierung oder ‚Wohlstand‘.
Und dass der Weg, die Menschen die diesen Weg gegangen sind, die diesen Weg nicht überlebt ha­ben, erinnert werden.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Geschichten haben für gewöhnlich ein Ende.
Auch die Geschichte von Aids.

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Diesen Text habe ich als Gast-Beitrag für den ‚Teilzeitblogger‚ verfasst, der ihn am 14. Mai 2012 veröffentlicht hat.
Übernommen hat den Text auch thinkoutsideyourbox.

Meine erste positive Nacht hab ich im Nachtzug verbracht …

Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt, doch das war der beschissenste…

Gleich vorweg, ich war überhaupt nicht überrascht, ich war körperlich bereits diffus angeschlagen, unerträglich schlapp, Nachtschweiss, die üblichen Symptome würde ich sagen.
Ich hatte auch noch andere Gründe eine HIV-Infektion zu befürchten, aber das soll hier nicht das Thema sein.

Schon die Sprechstundenhilfe verhielt sich komisch, mir schwante Übles. Ich kam auch sofort dran.
Meine Hausärztin fackelte auch nicht lange, kaum sass ich wurde Tacheles gesprochen. „Herr Zero, es tut mir leid, aber der HIV-Test war positiv!“

Als das Rauschen in meinen Ohren und die Gedankenflut ein wenig abebbten hörte ich sie immer noch sprechen „…es wäre völlig in Ordnung wenn Sie weinen würden.“ Doch ich hatte mich schon wieder gefangen, ich war ja einer von der harten Sorte.
Ich unterhielt mich noch kurz mit ihr über die Medikation, leierte ihr eine ungefähre Lebenserwartung aus dem Kreutz ( ca. 5-10 Jahre), erhielt eine Überweisung in’s UNI-Klinikum Eppendorf und wurde der Arzthelferin zur erneuten Blutabnahme übergeben.
Die war auch echt geschockt und war persönlich sehr berührt, was ich nutzte um ein paar paar sehr geschmacklose Bemerkungen über AIDS-Kranke zu machen, ich hoffe die Leser verzeihen mir.

Na ja letztlich verliess ich die Praxis dann und war erstmal platt.
Meine erste Amtshandlung bestand darin einen Joint zu rauchen, unten auf einer Bank zwischen Balduintreppe und den Landungsbrücken. In meinem Gehirn kämpften 2 Funktionen gegeneinander an, die fahle, kalte Erkenntnis sich zu weit vorgewagt zu haben einerseits und der wirre Versuch alle Sexual-Kontakte seit meinem letzten Test 2 oder 3 Jahre zuvor aufzuschlüsseln.

Und das war die Stimmung des Tages, ich hatte in meinem Leben viel riskiert, Kämpfe, illegaler Kram, was Jungs halt so machen und ich hatte allen immer Schnippchen geschlagen, stolze Männer zu Boden geschickt, die schönsten Frauen gehabt und der Justiz den Finger gezeigt und das satt und reichlich… und jetzt würde ich dafür sterben. Und mir wurde in dem Moment auch klar von wem ich „es“ hatte. Was sich Monate später bestätigte ahnte ich mit (wie man so schön sagt) an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Michelle hiess die Gute und sie hatte mich nicht nur angesteckt, sie hatte es sogar vorsätzlich und geplant gemacht. Aber das ist wieder eine andere Geschichte….

Und da ja leider jeder Denkprozess zu seinem Ende führt gab mir das Schicksal einen letzten Judaskuss mit. Ich hatte auch mit grosser Wahrscheinlichkeit jemanden angesteckt, meine Ex-Freundin, die jetzt in Belgien wohnte und von der ich seit 3 Monaten oder so getrennt war.

Der schlimmste Moment an meinem „ersten Tag“ war in einer Telefonzelle. Meine Ex hatte sich so über meinen Anruf gefreut, dachte dass wir wieder zusammenkommen würden, aber ich musste ihr leider sagen was Fakt war.

Dieses Telefonat war wohl der schlimmste Moment in meinem Leben, ich heulte Rotz und Wasser. Ein gebrochener Mann.

In dieser Nacht fuhr ich mit der Bahn nach Belgien, Brüssel, eine Stadt in der ich vieles erlebt hatte.
Meine erste positive Nacht hab ich im DB-Nachtzug verbracht.

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„Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt …“ ist ein Beitrag von ‚Zero‘ [Pseudonym; Verfasser der Redaktion persönlich bekannt] im Rahmen der ondamaris-Reihe „unsere Geschichte(n)“.
Zero ist 38 Jahre alt und lebt in Hamburg. Er weiß seit 2000 von seiner HIV-Infektion, ist seitdem unter Therapie und unter Nachweisgrenze.

Danke an Zero für den Beitrag !

30 Jahre Aids … und „war da was?“

30 Jahre Aids wurden in den vergangenen Tagen und Wochen ‚zelebriert‘. Viel wurde geschrieben, erinnert, in Interviews, Geschichten und Berichten zurück geblickt.
Und doch – es war ein eigentümliches ‚Gedenken‘, zwar zurückblickend aber seltsam ahistorisch.

Viele der ’30 Jahre‘-Rückblicke, so scheint mir, sind gefühlt, gesehen, geschrieben aus der Sicht von heute, aus der Sicht einer HIV-Infektion, die oft als ‚auf dem Weg in die Normalität‘ dargestellt wird (so sehr ich anzweifle, dass dies zutreffend ist, siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche 2010).

Doch das Aids der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und der beginnenden 1990er Jahre hat mit diesem ’normalisierten HIV‘ nicht viel gemeinsam – und kann nicht aus dessen Blickwinkel betrachtet, mit dessen Maßstab gemessen werden.

Jenes Aids hieß: innerhalb weniger Jahre starben ganze Freundeskreise. Starben wahre Heerscharen junger Menschen. Nicht zufällig wecken diese ’schlechten Jahre‘ bei vielen derer, die sie überlebten, immer noch die Assoziation „beinahe wie in einem Krieg„.

In den USA wurden diese Jahre damals oft als ‚the gay holocaust‘ bezeichnet. So fehl am Platz diese Bezeichnung mir heute scheint (und auch damals schon schien, gerade angesichts der Einzigartigkeit des organisierten Mordes an den Juden Europas) – diese Bezeichnung lässt erahnen, wie ein Teil der Schwulen damals diese Zeit erlebte: als ein Massensterben eines großen Teiles derjenigen Menschen, die schwules Leben damals mit aufgebaut haben und mit ihrem Handeln und Denken prägten. Schwule Künstler, Musiker, Regisseure, Aktivisten der politischen Schwulenbewegungen, Gründer von Lederclubs, Philosophen, Vordenker, Weg-Suchende und Weg-Weisende – sie alle wurden innerhalb kürzester Zeit dahin gerafft. Starben. Weit vor ihrer Zeit, weit bevor sie ihre Ideen und Projekte zu Reife und Blüte bringen konnten. Es starb ein bedeutender Teil einer ganzen Generation junger schwuler Männer.

Jenes Aids wird oft als ‚altes Aids‘ bezeichnet – ganz so, als wären wir dieses „alte“ sehr gerne los, ließen es in der Versenkung verschwinden. Lange her, Vergangenheit, abgeschlossen und weit entfernt von unserer Realität von heute.

Doch jene Jahre, ihr Leben, ihr massenhaftes vorzeitiges Sterben haben unsere Gesellschaften, unser heutiges Leben – und ganz besonders das schwuler Menschen – verändert, auf drastische Weise beeinflusst. Auswirkungen, derer wir uns heute kaum noch bewusst sind. Geschweige denn dass wir sie verstanden, reflektiert, verarbeitet hätten. Oder uns gar fragten, ob wir einige der verloren gegangenen Ideen wiederfinden, die ein oder andere der nicht zu ende entwickelten Ideen weiter denken, manches vorzeitig und unfreiwillig abgebrochene, zerstörte Experiment weiterführen sollten – könnten – wollen.

All diese abgebrochenen Experimente, vorzeitig aus der Welt gefallenen Ideen, nicht zu ende geführten Projekte – sie sind nur äußerst selten thematisiert, erinnert, kritisch reflektiert – auch darauf hin, ob sie uns für heute etwas sagen könnten, auch wenn ihre Initiatoren, Propagandisten, geistigen Väter in eben jenen „schlechten Jahren“ des ‚alten Aids‘ vorzeitig aus ihrem Leben gerissen wurden.

Nur selten werden sie (Ideen und Projekte, wie auch ihre Protagonisten) wieder ins Bewusstsein gehoben, zutage gefördert und hinterfragt (wie in dem m.E. großartigen NGBK-Projekt der AG „Unterbrochene Karrieren“ (u.a. Frank Wagner, Thomas Michalak), 2003 mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet). Nur selten werden sie dem -ungeplanten, ungewollten, von Aids bedingten- Vergessen entrissen.

Es scheint fast, als wollten wir gar nicht wissen, uns möglichst nicht bewusst machen was Aids damals in uns, in unseren Biographien, in unseren Szenen – und damit: in dem Potential unserer zukünftigen Entwicklungen – anrichtete. Als wollten wir ja nicht die Tragweite dieser Verluste sichtbar werden lassen. Es scheint als wollten wir sie im Gegenteil schnellstmöglich und möglichst unauffällig ins Unsichtbare verschwinden lassen.

Die Zerstörungen und Verwüstungen, die Aids damals, Ende der 1980er und Anfang der 1990er in unseren Leben, unseren Szenen, unseren Kulturen anrichtete – wir sanktionieren, wir wiederholen sie mit unserem respektlosen und Geschichts-vergessenen Verdrängen, mit dieser Ignoranz nachträglich geradezu.

Interessant wäre m.E. zu erforschen, in wie weit die heutigen Realitäten gesellschaftlichen Lebens von Schwulen in Deutschland und Europa heute durch die Situation und Geschehnisse von Aids Ende der 1980er geprägt und verändert worden sind.

Heute, 30 Jahre nachdem Aids in das öffentliche Bewusstsein trat, und 15 Jahre nachdem die Aids-Konferenz von Vancouver ein Zeichen für den Aufbruch in eine Zeit eines anderen Lebens mit HIV setzte, ist es zudem an der Zeit, dass wir uns unseres schwierigen Erbes, der vorzeitig beendeten Projekte, der unvollendeten Ideen, der abgebrochenen Karrieren erneut besinnen. Uns ihnen stellen, sie würdigen und kritisch hinterfragen – auch darauf, was sie uns für unser heutige Leben sagen können.

Statt weiterhin zu vergessen, zu verdrängen, könnten wir beginnen, uns dieser Verluste bewusst zu werden – und mit ihnen umgehen zu lernen.

Im Bewusstsein der ihnen innewohnenden Chancen und Hoffnungen für unsere eigene vielfältige und bunte Zukunft – und aus Respekt vor all denen, die gestorben sind.

30 Jahre HIV – „Das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen“

Ulli Würdemann (52) hat Aids in allen Facetten miterlebt: die ersten Meldungen in den 1980ern, HIV-Diagnose 1986, seither Engagement in der Aidshilfe. 1996 totgesagt von den Ärzten, rettet ihn einer der ersten Proteasehemmer. Derzeit renoviert er mit seinem Mann Frank das Häuschen seiner Schwiegermutter am Stadtrand von Hamburg. Dort wollen die beiden zusammen alt werden. Auf der Baustelle sprach er mit aidshilfe.de.

Ulli, weißt du noch, wann du zum ersten Mal von Aids gehört hast?

Das war 1982 oder 1983, eine kleine Meldung in „Vermischtes“ der Süddeutschen Zeitung. Meine Reaktion war damals: Da sterben in Amerika ein paar Schwule an Krebs – was hat das mit mir zu tun? Irgendwann kam dann die Bezeichnung „Schwulenkrebs“ auf, HIV galt ja erst mal als reine Schwulenkrankheit. Seitdem war Sex für mich wieder mit Angst besetzt. Schon kurze Zeit später war es beinahe wie im Krieg: Fast jede Woche starben Freunde, Lover, Weggefährten. Ich dachte mir: Jetzt haben wir uns mit Müh und Not eine so große Freiheit erkämpft, auch eine große sexuelle Freiheit – und das nehmen sie uns nun alles weg!

Mitte der 90er dem Tod von der Schippe gesprungen, plant er jetzt fürs Alter: Ulli Würdemann. Foto: Jan-Hendrik Munzert
Mitte der 90er dem Tod von der Schippe gesprungen, plant er jetzt fürs Alter: Ulli Würdemann. Foto: Jan-Hendrik Munzert // leauné

Was genau drohte, verloren zu gehen?

In der Zeit vor Aids hatten wir ein „Ethos des Experimentierens“. Ich probierte damals wohl fast alles aus, wovon ich gehört und wozu ich Lust hatte. Schlimmeres als einen Tripper oder eine Syphilis gab es ja nicht. Wir erprobten die verschiedensten Lebensformen, zum Beispiel, was das Zusammenleben angeht. Dieses Ethos ist mit Aids den Bach runtergegangen. Heute gibt es relativ wenige Lebensstile, die unter uns Schwulen noch als gesellschaftlich konform gelten: irgendwo zwischen Safer Sex und Lebenspartnerschaft. Das empfinde ich als Rückschritt.

Wann hast du erfahren, dass du positiv bist?

Ich bin vor 25 Jahren gegen meinen Willen getestet worden. Mein Hausarzt meinte aus vermeintlicher Fürsorge, er müsse mal nachschauen, weil ich in diesem Jahr meine dritte Mandelentzündung hatte.

Wie bist du mit der Diagnose umgegangen?

Nach meinen ersten Erfahrungen mit Aidshilfe und Selbsthilfegruppen stellte ich es für mich beiseite. Ich wusste: Ich hab’s. Man konnte damals eh nichts machen. Ich ließ nur alle zwei Jahre meine Blutwerte checken, das war’s. Damals machte ich Karriere, kümmerte mich um mein Fortkommen. Das war eine Umgangsweise, die in mein Leben reingepasst hat. Für viele Positive ist das auch heute so: Verdrängung kann zu bestimmten Zeiten okay sein.

1995 und 1996 warst du dann wochenlang im Krankenhaus …

… wegen mehrerer Lungenentzündungen und einer Antibiotika-Allergie, die zu einem lebensbedrohlichen Lyell-Syndrom geführt hatte. Meine Haut warf große, entzündete Blasen und löste sich von meinen Beinen und Fußsohlen ab. Mein Immunsystem war völlig kaputt. Es war wirklich knapp bei mir. Es gab keine HIV-Medikamente mehr, die bei mir wirkten. Im Frühjahr 1996 sagte dann mein Arzt zu mir: Ich kann leider nichts mehr für dich tun. Ich spritz dich mit Cortison für zwei Wochen fit. Guck zu, dass du mit deinem Mann noch mal einen schönen Urlaub machst.

Hast du seinen Rat befolgt?

Ja, wir haben eine Kreuzfahrt im Mittelmeer gemacht und waren danach noch eine Woche in der Türkei, in einem Hotel direkt am Strand.

Ulli Würdemann 1981 (Foto: privat)
Ulli Würdemann 1981 (Foto: privat)

Wie ging es weiter?

Nach unserer Rückkehr wechselte ich die Klinik und kam zu einem tollen Arzt. Der hat sich dahintergeklemmt. Zuvor hatte ich selbst schon rausgefunden, dass in den USA gerade ein neues Medikament erprobt wurde: Crixivan, einer der ersten Proteasehemmer. Aber in eine Studie in Deutschland kam ich nicht rein, weil es mir schon zu schlecht ging. Mein Tod hätte den Forschern die Statistik versaut.

Wie bist du trotzdem an das Medikament rangekommen?

Mein Arzt besorgte es mir als Import, sobald es in den USA zugelassen war. Meine private Krankenkasse wollte das anfangs nicht zahlen. Sie übernahm die Kosten erst, nachdem Tex Weber von „Projekt Information“ – ihm ging es genauso schlecht wie mir – und ich beim Vorstand der Versicherung Druck gemacht hatten.

Crixivan hat dir das Leben gerettet.

Ja, schon nach drei Wochen hatte sich mein Befinden verbessert, und nach einiger Zeit zogen auch meine Blutwerte nach. Aber das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen.

Als du wieder hoffen durftest, was waren deine ersten Ideen?

Ich glaube, ein toller Urlaub – Aquitaine oder Bretagne. Das ist eine sehr raue Landschaft, sie kommt meinem norddeutschen Naturell entgegen. Ich mag Frankreich und die Franzosen sehr. Sie haben schöne Strände und machen guten Sex (lacht). Das ist ein Klischee, aber es ist wirklich so.

Ab wann hast du es gewagt, wieder in die Zukunft zu planen?

Früher war ich ein Mensch, der weit vorausgeplant hat. Als Frank und ich uns kennenlernten, hatten wir beide schon Vorstellungen davon, wie unser Lebensweg aussehen könnte: ein Häuschen im Grünen, später vielleicht ein Umzug nach Südfrankreich, weil es dort wärmer ist. All das warf dieses Scheißvirus über den Haufen. Damals wurde mein gedanklicher Horizont immer enger. Heute fände ich es schick, wenn ich 70 Jahre alt würde. Aber ich plane nicht mehr so lange im Voraus. Gerade stecken wir viel Zeit und Energie in unser Haus, wo wir es uns gemütlich machen wollen. Aber sollten wir in einigen Jahren feststellen, dass das Haus zu klein oder Hamburg nicht unsere Stadt ist, dann machen wir halt was anderes! Wir planen viel flexibler als früher.

Was hat dir geholfen, die schwere Zeit durchzustehen?

Mein Mann, seine Mutter, mein bester Freund und natürlich mein Arzt. Ohne sie hätte ich gar nicht solange durchgehalten, bis die Pillen aus USA angekommen waren. Aber auch die Tatsache, dass ich mich immer selbst um mein Überleben gekümmert habe. Als ich merkte, dass meine Ärzte an Grenzen kamen und ich immer kränker wurde, fing ich an, Fachzeitschriften zu lesen und zu Kongressen zu fahren. Damals merkte ich, dass das auch andere interessiert. Deshalb machte ich selbst Veranstaltungen, zum Beispiel über neue Therapieansätze oder das Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Viele HIV-Patienten waren in den 90er Jahren besser informiert als ihre Ärzte.

Nicht unbedingt besser informiert, aber sehr gut. Es war und ist wichtig, informiert zu sein. Ein Patient sollte wissen, was Nebenwirkungen sind, und sollte kritisch nachfragen können. Nur so kann er zusammen mit dem Arzt eine gute Entscheidung treffen und sie dann auch richtig umsetzen.

Ulli Würdemann ca. 1984 (Foto: privat)
Ulli Würdemann ca. 1984 (Foto: privat)

Meinst du, die meisten HIV-Patienten machen das so?

Nein, aber die medizinischen Realitäten haben sich ja auch verändert. Bald stehen 30 verschiedene HIV-Medikamente zur Auswahl. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten. Wer heute mit seiner Therapie anfängt, muss pro Tag vielleicht nur eine Pille schlucken. Patienten haben deshalb oft nicht den Bedarf, sich groß zu informieren. Aber später wird es dann schwierig, wenn zusätzliche Pillen kommen, wenn Resistenzen oder Nebenwirkungen wie Durchfälle auftreten.

Du lebst seit 29 Jahren mit deinem HIV-negativen Mann zusammen. Hast du manchmal noch Angst, Frank anzustecken?

Nein. Ich kann mich zwar an die ersten Zeiten erinnern, als wir uns fragten, ob wir dieselbe Zahnbürste benutzen dürfen. Aber solche Sorgen konnten uns die Ärzte schnell nehmen. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Wenn man weiß, dass man zusammen sein will, dann macht das keine Angst. Die Angst war eher: Was ist, wenn ich vor Frank sterbe?

Wenn du zurückblickst: hatten deine schlimmen Erfahrungen auch etwas Gutes?

Na klar, man wächst daran. Ich musste mich sehr früh mit Krankheit und Leid auseinandersetzen. Das war später hilfreich für mich. Ein Beispiel: Als meine Mutter an Krebs erkrankte, konnte ich mit ihr, aber auch mit ihrem Arzt umgehen. Ich hatte eine Ahnung, dass ich sie so annehmen musste, wie sie nun mal war. Bei ihr war es der klassische Fall: Jemand stirbt in ein paar Wochen, aber bekommt keine Morphiumpflaster gegen die Schmerzen, weil die süchtig machen könnten. Auf solche Situationen war ich damals vorbereitet: von den Fakten her, aber auch vom emotionalen Umgang damit.

Wie wichtig ist ein offener Umgang mit HIV?

Was das angeht, habe ich alles durch: vom Verdrängen übers Leugnen bis hin zum offensiven Umgang damit. Inzwischen ist das eine Selbstverständlichkeit für mich. Es gibt nur noch ganz wenige Situationen, wo ich es nicht sage.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Wenn ich anonymen Sex habe. Dann schaue ich, dass ich mein Verhalten vor mir und dem anderen verantworten kann. Aber ich muss nicht immer sagen, hallo, ich bin positiv. Oft kommt es sonst nicht zum Sex, sondern zu einer Fluchtreaktion oder zu einem Beratungsgespräch, und das ist in dem Moment von beiden Seiten nicht beabsichtigt. Auch in anderen Situationen erzähle ich es nicht ungefragt. Aber wenn es jemand wissen will, dann sage ich es. Auf Versteckspiele habe ich keine Lust mehr.

Hast du inzwischen Routine in Sachen „positives Coming-out“?

Mir hat es damals sicher geholfen, dass ich vorher schon mein schwules Coming-out hatte. Ich wusste ungefähr, wem ich es erzähle und wie ich es sage, dass ich positiv bin – bei Freunden, Lovern und am Arbeitsplatz. Aber die Angst vor den Reaktionen kommt immer wieder mal. Ich glaube nicht, dass man da eine Routine entwickeln kann.

Interview: Philip Eicker

Zur Person: Ulli Würdemann ist einer der bekannten deutschen HIV-Aktivisten und bloggt auf seiner Website Ondamaris über das Leben mit HIV. Geboren wurde er 1959 in Delmenhorst. Würdemann ist Wirtschaftsingenieur und war früher Consultant für Transportbetriebe und Verkehrspolitik. Seit 1993 ist er wegen seiner HIV-Infektion berentet.

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(Dieses Interview hat Philip Eickler mit mir geführt für das DAH-Blog; auch online bei Matthias Gerschwitz; eine verkürzte Version erscheint auch im Hamburger CSD-Magazin)

30 Jahre Aids – how to have sex in an epidemic

Am 5. Juni 1981, heute vor 30 Jahren, erschien die erste wissenschaftliche Publikation über das, was später (im Juli 1982) den Namen ‚Aids‘ bekam.

Etwa zur gleichen Zeit, 1982/83, erschien in San Francisco die erste Broschüre, mit der schwule Männer auf die neue Epidemie reagierten – und begannen, das später unter dem Namen ’safer sex‘ bekannt gewordene Konzept zu entwickeln:

how to have sex in an epidemic (Ausgabe Mai 1983)
how to have sex in an epidemic (Ausgabe Mai 1983)

Was können schwule Männer unternehmen, um eine Infektion mit HIV zu vermeiden – und dennoch versuchen ein erfülltes Sexleben zu haben?

„How to have sex in an epidemic: one approach“ wurde geschrieben von Richard Berkowitz (portraitiert in dem Dokumentarfilm ‚Sex positive‘) und dem 1993 verstorbenen Schriftsteller und Musiker Michael Callen, unter Anleitung ihres Arztes Joseph Sonnabend – und war die erste Sex bejahende Anleitung für risikomindernde Praktiken für schwule Männer.

Vorläufer der Broschüre war ein Artikel, den beide im November 1982 im ‚New York Native‘ veröffentlichten: „We Know Who We Are: Two Gay Men Declare War on Promiscuity“.

Callen und Berkowitz:

„the single greatest risk factor for contracting AIDS is a history of multiple sexual contacts with partners who are having multiple sexual contacts – that is, sex on the circuit. . . . We believe that it is the accumulation of risk through leading a promiscuous gay urban lifestyle, which has led to the breakdown of immune responses that we are seeing now.“

Sie zeigten sich damit damals als Vertreter der ‚multifaktoriellen Hypothese‘ zum Entstehen von Aids. Die ’single factor theory‘ setzte sich letztlich mit dem Entfdecken von HIV und der Erkenntnis, dass HIV die Ursache von Aids ist durch – doch Berkowitz ist sich noch heute sicher, dass es nur den Anhängern der Multi-Faktoren-Theorie möglich war. das Konzept des safer sex zu entwickeln:

„Safe sex was never – and could never – have been proposed in the terrifying early years by those who believed that if you had one broken condom you were dead. It was therefore left to the multifactorialists to invent safe sex.“

Eine weitere, ebenfalls zu dieser Zeit erschienene Broschüre, gilt ebenfalls als weiterer ‚Urvater‘ des Safer Sex Konzepts: das Flugblatt ‚Play Fair!‘ der Sisters of Perpetual Indulgence San Francisco (unter Leitung der ausgebildeten Krankenpfleger Sr. Florence Nightmare und Sr. Roz Erection).

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weitere Informationen:
Richard Berkowitz: How to have sex in an epidemic (may 1983) (mit Bildern des kompletten Textes der Ausgabe Mai 1983)
International gay & Lesbian Review 2003: Stayin‘ Alive: The Invention of Safe Sex
Michael H Merson, Jeffrey O’Malley, David Serwadda, Chantawipa Apisuk (6 August 2007). „The history and challenge of HIV prevention“ (pdf)
Sisters of Perpetual Indulgence: Play Fair! (1982)
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30 Jahre Aids: 5. Juni 1981 – der erste Bericht über eine neue Erkrankung

„Aids wird 30“ – der 5. Juni markiert den 30. Jahrestag der erstmaligen Beschreibung eines neuen Krankheitsbildes, das wenig später mit ‚Aids‘ bezeichnet wird. Aids wird 30.

5. Juni 1981: Der Wissenschaftler Michael Gottlieb von der UCLA informiert in einem Bericht publiziert im Mitteilungsblatt der us-amerikanischen CDC Centers für Disease Control and Prevention (dem “Morbidity and Mortality Weekly Report”, MMWR) über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und Lungenentzündungen (PcP) bei fünf ansonsten scheinbar völlig gesunden jungen schwulen Männern aus Los Angeles. Offenbar ist das Immunsystem bei den Männern zusammengebrochen:

“In the period October 1980 – May 1981, five young men, all active homosexuals, were treated for biopsy-confirmed Pneumocystis carinii pneumonia at three different hospitals in Los Angeles, California. Two of the patients died. The fact that these patients were all homosexuals suggests an association between some aspects of a homosexual lifestyle or disease acquired through sexual contact and Pneumocystis carinii pneumonia in this population.”
[Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), Vol. 30, Nr. 21, US Centers for Disease Control (CDC), 5. Juni 1981; Der damalige Bericht kann im Internet gelesen werden auf den Internetseiten der CDC (als pdf hier).]

Dieser Bericht gilt als die erste wissenschaftliche Veröffentlichung zu Aids.

Die ungewöhnliche Häufung seltener Erkrankungen bleibt zunächst jedoch namenlos. Schon bald ist allerdings von ‚Schwulen-Krebs‘ oder ‚Schwulen-Pest‘  (einem Begriff, den die Zeitschrift ‚Spiegel‘ in Übersetzung des US-amerikanischen Begirffs gay plague im ihrer Ausgabe vom 11. Juli 1983 prägt) die Rede, wissenschaftlich verbrämt als GRID (gay related immune deficiency). Erst am 27. Juli 1982 einigen sich die in den USA mit dem Blutspendewesen befassten Organisationen anlässlich einer Konferenz auf einen neuen Namen: AIDS für Acquired Immuno Deficiency Syndrome.

Das jetzige ‚Jubiläum‘ wird vermutlich Anlass für zahlreiche Artikel, Features und Rückblicke sein. Die Zeitschrift ‚Spex‘ (‚Magazin für Popkultur‘) widmet ihm einen Themen-Schwerpunkt in der aktuellen Ausgabe (Mai/Juni 20911).

Zu Wort kommt darin u.a. in einem sehr lesenswerten Interview der US-Kunstkritiker und Aids-Aktivist Douglas Crimp (u.a. „AIDS: Cultural Analysis/Cultural Activism, MIT Press (1988) und AIDS Demo Graphics (1990)).

Crimp erinnert an eine Zeit der ‚Pest‘, als schwule Männer eine – nicht ganz unbegründete – Angst hatten, man wolle ihnen ihre gerade erst errungenen Freiheiten, auch: sexuellen Freiheiten, wegnehmen.

„Eine homosexuelle Krankheit? – vollkommen unmöglich, schließlich handelt es sich bei Homosexualität um ein kulturelles Konstrukt. Mit dieser Einschätzung, dass es sich  bei der ganzen Sache um ein Komplott handelte, das schwule Männer davon abhalten sollte, Sex zu haben, oder ‚zu viel Sex‘ zu haben – wie viel auch immer das sein sollte -, habe ich über Jahre die Angst vor Aids verdrängt oder mich zumindest davon abgeschottet.“

Crimp berichtet und denkt nach über den Umgang der Kunst mit dem Thema Aids, von Benefizzen bis zu aktivistischen Künstlergruppen wie ‚General Idea‘ oder ‚Gran Fury‘, Kunst in der Nähe von ACT UP.

„Man konnte zwar Kunstwerke verkaufen, um Geld für die Aids-Forschung zu sammeln, aber die Vorstellung, dass Kunst sich direkt mit Aids befassen könne, kam niemandem in den Sinn. … ‚Kunst kann Leben retten‘. Aber das wurde damals nicht erkannt.“

Weitere Artikel des Schwerpunkts behandeln die erste chinesische Kino-Doku über HIV-Positive (‚Together‘), den Umgang der Pornoindustrie mit Aids (mit unhinterfragten ärgerlichen Behauptungen wie einem konstatierten „immer stärkeren Trend zu besonders unsafem Sex“‚ und „Infektionsraten in der Orgienkultur“), oder einem Artikel zu der Frage „wie aus Aids Werbung wurde“.

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Einen Überblick über Ereignisse aus 30 Jahren Aids bietet auch die ondamaris-Rubrik Aids-Zeiten.

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Die Jubiläen häufen sich – Aids wird 25, Aidshilfen werden 20 oder feiern ihr 25-jähriges Bestehen, nun ‚Aids wird 30‘.

Es sind Jubiläen mit seltsamem, mit bitterem Beigeschmack. Gibt es etwas zu feiern? Wohl kaum. Oder doch? Immerhin ist die Reaktion auf die neuartige Erkrankung bemerkenswert, die erreichten Ergebnisse nicht minder.

Der fade Beigeschmack bleibt, umso mehr, als derartige Jubiläen schnell zum wohlfeilen Anlass für muntere Benefizze und Bälle werden – und die Situation HIV-Positiver, ob in Europa oder in den Staaten Afrikas oder Asiens, in den Hintergrund gerät. Benefizze des Schön- und Reich-Seins, des sich Wohl Fühlens angesichts der eigenen Wohltätigkeit.

Aids? Aids-Tote? Leid? Stigmatisierung? War da was?

Blick zurück?
Blick nach vorn!

Ronald Reagan: Ehrungen für Aids-Ignoranten?

In den USA beginnen in diesen Tagen monatelange Jubelfeiern für Ronald Reagan, den 2004 verstorbenen 40. Präsidenten der USA. Selbst in Deutschland schlagen Politiker vor, ihn zu ehren, Straßen oder Plätze nach Reagan zu benennen. Doch – Ronald Reagan stand in Sachen Aids für Ignoranz, für Tausende Aids-Tote, für Desinteresse, das Leben kostete.

Am 6. Februar 1911 wurde Ronald Reagan in Tampico Illinois geboren. Nach einer Karriere als Schauspieler in zahlreichen ‚B-Movies‘ war er von 1981 bis 1989 der 40., Präsident der USA. Anlässlich seines 100. Geburtstags beginnen in den USA in diesen Tagen Feierlichkeiten zu Reagans Ehren, die als ‚Reaganiana‘ mit Konferenzen, Ausstellungen und anderen Events das ganze Jahr andauern sollen.

Ronald Reagan war als Politiker zu Lebzeiten stark umstritten. Der erzkonservative Republikaner, inzwischen zur Ikone rechter Politik geworden, stand zu Regierunsgzeiten für Abbau des Sozialstaats, Rekord-Verschuldung – und eine Ignoranz gegenüber der gerade beginnenden Aids-Krise, die viele Menschen das leben kostete.

„Die Regierung ist nicht die Lösung, die Regierung ist das Problem“, dieser Satz aus Reagans Rede anlässlich seiner Amtseinführung 1981 wirkt heute geradezu wie sein Credo, das Grund-Motto seiner Regierungszeit: weitgehende Entstaatlichung. Zum Ausdruck kommt auch das bipolare Denken Reagans – die Einteilung der Welt in ‚gut‘ und ‚böse‘, in ‚Freiheit‘ oder ‚Kommunismus‘, in ‚bösen Staat‘ und ‚gute Privatwirtschaft‘. Folgen der ‚Reagonomics‘ waren u.a. ein demontierter Sozialstaat und eine Staatsverschuldung in zuvor unbekannter Höhe.

Ronald und Nancy Reagan 1981 während der Parade zur Amtseinführung (Foto: wikimedia / White House Office)
Ronald und Nancy Reagan 1981 während der Parade zur Amtseinführung (Foto: wikimedia / White House Office)

In Reagans Amtszeit als US-Präsident fällt auch der Beginn der Aids-Krise. Im Juni 1981 wird erstmals über ungewöhnliche Erkrankungen bei ansonsten gesund scheinenden jungen schwulen Männern berichtet.

Der US-Präsident braucht fünf Jahre, bis er Stellung nimmt: am 17. September 1985 erwähnt er erstmals (!) überhaupt in einer öffentlichen Rede Aids – in Reaktion auf die Frage eines Reporters. Und es dauerte bis 1987 (am 1. April, Rede im Philadelphia College of Physicians), bis er ein öffentliches Statement zur HIV-Epidemie und Aids-Krise gab. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits über 45.000 Aids-Fälle allein in den USA gemeldet. Allein im Jahr 1987 starben 4.135 US-Amerikaner an den Folgen von Aids; insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt schon über 13.000 Menschen allein in den USA an Aids gestorben.

Am 31. Mai 1987, dem Vorabend der Eröffnung der 3. Internationalen Aids-Konferenz in Washington, forderte Reagan dann anlässlich eines Dinners der American Foundation for AIDS Research nach seinem jahrelangen Schweigen routinemäßige HIV-Zwangstests (und stieß auf der Konferenz mit diesem Vorschlag auf lebhafte Ablehnung). Im Juni 1987 setzte der US Public Health Service Aids auf die Liste derjenigen Erkrankungen, wegen der Menschen aus den USA abgeschoben werden konnten. Und einen Monat später folgte mit dem ‚Helms Amendment‘ die Einführung des US-Einreiseverbots für HIV-Positive.

Unterstützung für seine ultrakonservative Politik fand Reagan immer wieder bei dem 2008 verstorbenen rechtskonservativen Senators Jesse Helms, einer der aggressivsten Kämpfer gegen Rechte von Schwulen und Lesben in den USA – und einem Kämpfer für eine sehr konservative und restriktive Aids-Politik (Helms war Betreiber des erst am 4. Januar 2010n endgültig aufgehobenen US-Einreiseverbots für HIV-Positive).

‚Ignorance Kills‘, Ignoranz tötet – dieser Slogan der Aids-Aktivistengruppe ACT UP war direkte Reaktion auf eine von Ronald Reagan ausgehende US-Politik, die sich jahrelang weigerte, die Aids-Krise ernst zu nehmen.

Am 6. Februar 2011 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag von Ronald Reagan. Verteidigungsminister Guttenberg (CSU) fordert, einen Platz oder eine Straße in Berlin nach Ronald Reagan zu benennen. Dies nicht zu tun, sei geschichtsblind, sekundiert Martin Lindner (FDP).

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weitere Informationen:
salon.com 04.02.2011: Ronald Reagan cared more about UFOs than AIDS
LHBT pov 06.02.2011: Ronald Reagan’s Real Legacy: Death, Heartache and Silence Over AIDS
Welt 22.12.2010: Guttenberg fordert Ronald-Reagan-Platz in Berlin
towleroad 07.02.2011: Reagans Failure to Act
Larry Kramer in ‚The Advocate‘ 06.02.2011 (original 2004): Adolf Reagan
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HIV- und Aids- Geschichte(n) erzählen – Film-Projekt geht neue Wege

Geschichten vom Leben mit HIV erzählen –  in San Francisco geht das Filmprojekt „Generations HIV“ anlässlich des San Francisco Pride neue Wege.

Filmemacher aus der San Francisco Bay Area haben sich zusammen geschlossen für das Projekt „Generations HIV“. Sie wollen einen ‚Aids Quilt des 21. Jahrhunderts‘ entstehen lassen – eine Zusammenstellung von Geschichten über das Leben mit HIV und Aids unter Nutzung der Möglichkeiten neuer Medien.

Ein publikumswirksamer Ansatz: für zwei Wochen während des San Francisco Pride wird das Projekt einen Stand anbieten, auf dem jedermann und jederfrau seine / ihre Geschichte vom leben mit HIV erzählen kann. Die gesammelten Geschichten sollen Ausgangsmaterial für den Film werden, der in Zusammenarbeit mit Menschen mit HIV und Aids entstehen soll.

The HIV story project
The HIV story project

Mit einer ‚Video Story Telling Booth‘ wird das Filmprojekt – als offizielles Projekt des San Francisco Pride – vom 17. bis 30. Juni 2010 auf der Castro Street präsent sein. Lokale Aids-Organisationen können die ‚Booth‘ für jeweils drei Stunden für ihre Geschichte(n) als ‚Salon‘ einsetzen.

Eine Möglichkeit, seine Geschichte vom Leben mit HIV online über das Internet zu erzählen, soll das Projekt zukünftig ergänzen.

Quilts sind eine überwiegend US-amerikanische Tradition von Patchwork- / Stepp-Decken. Sie wurden in den 1980er / 90er Jahren zu einem riesigen Gedenk-Projekt für an den Folgen von Aids verstorbenen Menschen. Größter Aids Quilt ist der 1987 in San Francisco gestartete  „NAMES Project AIDS Memorial Quilt“, der aus derzeit etwa 5.750 Blöcken mit insgesamt über 44.000 individuellen Erinnerungs-Panels besteht.

weitere Informationen:
The HIV Story Project
The AIDS Memorial Quilt
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[via Joe.My.God]

Hoffnung, Teil 2

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: der zweite Teil einer zweiteiligen Geschichte von Michael Hemming, zu der er selbst anmerkt „zum Teil Fiktion, zum Teil sicher auch Realität“:

Ja er hatte auch schon einige Frauen kennen gelernt, die hatte er auf von den Datingseiten angeschrieben und hin und wieder kam es dann auch mal zu einem Kontakt. Er bevorzugte Datingseiten für Positive, da konnte er sich das erklären und das drum rum reden ersparen. Das was er immer irgend wie lustig fand waren die Namen die sich die Ladys gaben, Oceanqueen, Angel, She, Blueeye, Sonnenmeer usw. manchmal versuchte er aus den Namen Rückschlüsse auf die Person zu ziehen. Was ja seine Fantasie anregte aber was nicht wirklich irgendetwas über den Menschen hinter dem Namen aussagte. Es waren einige Kontakte dabei da stellte man sehr schnell fest dass das nie was geben würde weil man war so verschieden, es trennten einen Welten andere Kontakte waren einfach nur gut man konnte miteinander reden über alles was einem bedrückte und wieder andere das waren nach kurzer Zeit sehr intensive Gespräche, die vieles in einem auslösten und wieder Hoffnung machten dass da doch noch mehr ist als das was er bisher erlebt hatte. Nein bis jetzt hatte er die Hoffnung noch nicht verloren dass da draußen ein Mensch ist der zu ihm passte, mit dem er glücklich werden könnte, trotz all dem was er bisher an Tiefschlägen und Enttäuschungen erlebt hatte. Aber meistens blieben die Kontakte die er hatte nur eine virtuelle Vision. Also doch nur Träume. Und immer wieder musste er feststellen dass vorher alles viel viel einfacher war. Er ging raus, lernte jemanden kennen und man kam sich ab und zu mal näher, keine Gerede über irgendwelche Infektionen oder so was. Einfach nur Spaß haben und vielleicht auch mehr. Aber das hatte sich alles geändert, alles war neu und anders. Sogar die Frauen waren das. Viel komplizierter, nichts war mehr unbefangen, es gab da immer einen Haken. Dadurch dass diese Frauen auch sehr schlechte Erfahrung gemacht hatten fehlte ihnen das Vertrauen, was eigentlich notwendig ist um sich auf mehr als nur Gerede einzulassen. Das machte es nicht gerade leicht um ans Ziel seiner Träume zu kommen und das war nur ein Punkt von so vielen. Jeder wird vorsichtiger und sicher läuft man auch schneller weg, weil man will ja kein Risiko eingehen und wiedermal auf die Nase fallen. Also doch besser allein und sich sein Glück erträumen. Diese Selbstzweifel die immer wieder auf kamen, eine Ungewissheit, ein Wunsch, ein Traum aber bisher ist es immer nur ein Traum geblieben. Wie viele hatte er schon kennen gelernt die alle das gleiche suchten aber warum fragte er sich immer wieder wagte es keiner mal einen Schritt weiter zu gehen. Worauf warteten die denn alle, auf den Jungen auf dem weißen Pferd aber das hat Marius ja schon seiner Zeit gesungen der kommt nicht mehr da musst du schon selber gehen. Also geht doch auch endlich mal den ersten Schritt und sucht nicht immer nach Ausreden warum und wieso nicht. Aber eigentlich ist auch er nicht besser, er hat auch schon die unwahrscheinlichsten Ausreden benutzt um sich wieder mal zu verstecken um ja nicht mehr daraus werden zu lassen. Er war also auch nicht anders als all die anderen die sich da aufhielten um ihr Glück zu finden. Und doch zog es ihn immer wieder dort hin mit der Hoffnung doch mal das große Los zu ziehen, um das zu finden wovon er immer in der Zeit träumte wenn er wie so oft schon nur da lag und den Tag an sich vorbei ziehen ließ. Der Fernseher war eingeschaltet damit da eine Geräuschkulisse ist, dass vor lauter Stille nicht sein Kopf explodiert, was da gerade lief, war nicht wirklich wichtig für ihn, bunte Bilder und Geräusche halt. Und das war sein Leben, wenn er darüber mal so nachdachte, langweilig nicht wirklich prickelnd, es war eher so dass das Leben an ihm vorbei zog ohne dass er es eigentlich mitbekam geschweige denn überhaupt lebte. Sollte es etwa jetzt so bleiben bis zum Ende all seiner Tage, das war die Frage die er sich ständig stellte.
Und wieder saß er vor dem Rechner klickt sich auf irgendwelche Seiten, nur um seiner Einsamkeit zu entfliehen, um alte Bekannte zu treffen, um vielleicht neue Leute kennen zu lernen, um ein wenig zu reden, um das Gefühl zu haben das er doch nicht so allein ist. Obwohl er wusste das ist nur Augenwischerei, eine andere Art vor der Realität weg zu rennen. Aber was hatte er sonst noch, nichts. Das war das einzige was ihm noch geblieben ist. Und er stellte sich auch oft die Frage wen er dafür verantwortlich machen könnte, der Schuldige nein das wollte er nicht sein aber wen denn. Er war derjenige dem er das zu verdanken hatte, leider gab es da keinen anderen. Hätte er mal besser aufgepasst, sich geschützt dann würde sein Leben ganz normal weiter gehen, er hat es aber nicht und jetzt muss er dafür zahlen, so nannte er das dann. Das einzige was ihm da manchmal tröstete, es konnte jeden treffen auch wenn er es keinem wünschen würde aber warum gerade ihn. Immer wieder die gleichen Fragen, die gleichen Gedanken und immer wieder führten sie nur ins nichts. So verbrachte er seine Tage, alle liefen nach dem selben Schema ab, es gab keinen Tag was wirklich neues, aufregendes. Manchmal wünschte er sich das das alles vorbei wäre, einfach sterben und alles hat ein Ende. Danach dachte er kann es ja nur besser werden auch wenn er nicht wusste was danach eigentlich kommt oder ob da überhaupt was kommt. Einen Neuanfang das wäre es ohne Altlasten, alles hinschmeißen können und wieder ganz von vorne anfangen, Jungfräulich, das wäre es. Und was machte er, er lag auf seinem Sofa bis spät in die Nacht, damit er dann müde genug war um endlich schlafen zu können, ein paar Stunden ohne Gedanken oder Träume, einfach den Kopf leer zu haben. Und am nächsten Tag begann das gleiche Spiel wieder von vorne, jeder Tag war mehr oder weniger nur eine Wiederholung des vorherigen Tages und das schon jetzt sehr lange. Sein Tag beginnt jeden Tag gleich, Kaffee kochen und eine Zigarette, sein Frühstück und dann auf an den Rechner und da weiter machen wo er gestern aufgehört hat. Sein derzeitiges Leben und immer wieder die Hoffnung dass er es mal schafft aus diesem Leben auszubrechen.

Copyright dieses Textes: Michael Hemming
Vielen Dank an Michael Hemming für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Michael Hemmings Geschichte:
Hoffnung (Teil 1)
Hoffnung (Teil 2)

Hoffnung, Teil 1

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: der erste Teil einer zweiteiligen Geschichte von Michael Hemming, zu der er selbst anmerkt „zum Teil Fiktion, zum Teil sicher auch Realität“:

Wiedermal saß er vor seinem Rechner und sah sich in der großen Welt des Internets um, was suchte er eigentlich, klickte sich nur durch die Gegend, war mal hier, war mal da. War er ein Informationsjunkie oder war er nur neugierig und wollte alles wissen oder sah er sich nur Bilder an um seiner Fantasie Nahrung zu geben. Seine Lieblingsseiten waren diverse Foren und er war sehr gerne auf den diversen Datingseiten um neue Leute kennen zu lernen. Eigentlich war er ein ganz normaler junger Mann, leider ist das passiert mit dem er nie gerechnet hat, er wurde vor sehr langer Zeit als er im Krankenhaus war positiv getestet, damit hatte er nie gerechnet. Lungenkrebs ja, er war halt ein starker Raucher aber doch nicht so was, dabei gehörte er doch gar nicht zu den Leuten die nur durch die Betten gesprungen sind. Da war er doch ganz harmlos, ja er hatte hier und da mal eine Affaire oder auch Beziehungen aber das hielt sich doch in Grenzen. Als man ihm das damals sagte, das er positiv sei, wollte er sich das Leben nehmen, er sah alles nur noch düster/schwarz und hoffnungslos, was hatte er noch von seinem Leben zu erwarten. Nichts war plötzlich mehr so wie es davor war. Seine Freunde denen er das sagte was ihn da ereilt hat, haben sich alle langsam aber stetig von ihm getrennt. Keiner war plötzlich mehr da. Warum? Und wenn er dann draußen war und jemanden kennen lernte und dann versucht mehr als nur das Gespräch mit ihr zu führen war es auch ganz schnell vorbei wenn er vorsorglich sagte was mit ihm los war. Er hatte sich vorgenommen immer ehrlich zu sein aber das merkte er schnell führte zu nichts. Oder doch zu Enttäuschungen. Und mit der Zeit sah er alles nur noch schwarz und so hat er sich dann langsam aber immer mehr hinter seinem Rechner versteckt, da musste er wenn er andere Leute kennen lernte nicht erzählen was mit ihm los war. Man war ja anonym eigentlich man redete miteinander aber es war ja nur alles sehr oberflächlich. Auf der einen Seite fand er das gut, da er viele Leute kannte aber auf der anderen Seite fehlte ihm auch die persönliche Nähe, das zusammen sein. Aber er hatte lernen müssen das das persönliche plötzlich für ihn nicht mehr ging und so wurde es mit der Zeit halt unwichtig für ihn oder hatte er nur immer wieder die falschen Leute kennen gelernt. Und er hat sicherlich auch mit der Zeit den Mut verloren. Er kannte ja auch andere die damit keine Probleme hatten bei denen war alles wie vorher, die waren nicht so allein wie er, die hatten sogar eine Beziehung. Manchmal ertappte er sich wie er das alles hinter fragte und dann diese Aussagen bezweifelte das sie an sich so Glücklich sein sollten. Er konnte es sich nicht vorstellen dass er der Einzige war dem es so ging. Und eine Möglichkeit um aus diesem Kreislauf auszubrechen hat er bisher nicht gefunden und wirkliche Hilfe nein die fand er auch nicht. Er las die diversen Lebensratgeber, schön wie das alles geschrieben war und es klang auch immer sehr einfach das zu machen aber gebracht hat ihm das auch nichts. Also versteckte er sich weiter hinter dieser Kiste, da sah ihn niemand und keiner war da der ihm irgend welche dumme Sprüche sagte. So konnte er weiter in seiner Fantasiewelt leben. Er träumte sich seine Welt schön, aber es waren leider nur Träume. In seiner Fantasie hatte er das alles was ihm in der Realität fehlte, eine perfekte Beziehung, ein sorgenfreies Leben und er war auch immer glücklich. Nur sein richtiges Leben sah nur genau gegenteilig aus, keine Beziehung, Sorgen hatte er auch genug und glücklich nein das war er nicht wirklich. Alles nur eine Scheinwelt in der er lebte. Nichts war von seinem alten Leben übrig geblieben, es schien so als hätte ein neues Leben mit dem Tag dieser grauen vollen Information angefangen. Nur er konnte nicht davor weg rennen, so wie er es schon oft gemacht hatte in seinem Leben, es kam ja leider immer mit. Und so verbrachte er den größten Teil seines Tages damit im Netz nach irgend etwas zu suchen, wobei er noch nicht mal sagen konnte wo nach er suchte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war konnte er sich eigentlich schon nicht mehr vorstellen wirklich eine Beziehung zu führen, zu viele Eigenheiten hatte er sich in der Zeit seiner Einsamkeit angewöhnt, er hatte sich sein Leben so eingerichtet wie er es für gut hielt.

Copyright dieses Textes: Michael Hemming
Vielen Dank an Michael Hemming für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Michael Hemmings Geschichte:
Hoffnung (Teil 1)
Hoffnung (Teil 2)

Drei Engel

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 4): Drei Engel

Carola – war etwas ganz besonderes. Eines Tages fragte mich ein Gruppenfreund, ob wir nicht ein Caféprojekt für die Aidshilfe realisieren könnten – ich war sofort bereit, mitzumachen. Es gab bereits eine Projektgruppe in den Anfängen, die dabei war, Räume zu suchen und ich war von Anfang an mit Eifer dabei, alles zu planen und zu organisieren.

Jedenfalls fanden wir bald geeignete Räume in der Großgörschenstraße in Schöneberg – im Hochparterre gelegen – leider völlig heruntergekommen, so dass wir erst einmal kräftig renovieren mussten, bevor wir uns an die Einrichtung machen konnten. Viel Geld hatten wir auch nicht zur Verfügung, so dass wir mit sehr bescheidenen Mitteln uns Farbe besorgten und ans Werk gingen.

Eines Tages kam eine junge Frau herein – Typ „Uschi Glas“ – zierlich und mit munteren braunen Augen – ein Wuschelkopf voller Dauerwellen – auf den ersten Blick hielt ich sie für eine Hausfrau aus der Nachbarschaft. Sie stellte sich als Carola vor und machte sich tatkräftig ans Werk, uns zu unterstützen. Ihre Energie schien unerschöpflich. Carola war genau die Richtige, Menschen zu begeistern und auch anzuziehen – ihre Donnerstagabende mit Rainer-Bülowstraße unter dem Motto „Zur goldenen Rosette“ waren legendär. Im großen Raum des Cafés hatten wir die mittlere Deckenrosette plüschig mit Blattgold angestrichen – die Möbel waren gespendete ausrangierte Polstermöbel. Carola und Rainer untermalten die biedere Atmosphäre noch mit Pop und Rock aus den 70er Jahren – Marianne Rosenberg, Hanne Haller, um nur einige zu nennen und wir waren irgendwie in einer Stimmung, wie ich sie mir ähnlich auch auf der Titanic vorgestellt hatte. Wenn ich damals gewusst hätte, wie schnell unsere Hochstimmung wieder verfliegen würde.

Rainer aus der Bülowstrasse war damals nur noch kurz mit von der Partie – sein Traum war, noch einige Zeit in Amsterdam zu verbringen und er war damals gerade fleißig dabei, holländisch zu lernen. Er hat es dann ein Jahr später auch tatsächlich realisiert und ich habe ihn dann anlässlich von Wohnmobilreisen auch zwei oder dreimal in Amsterdam besucht. Er hatte auch seinen Hundetraum verwirklicht und sich damals bei einem Züchter einen wunderschönen kräftigen Berner Sennenhund ausgesucht. Rainer wohnte damals am Stadtrand in einer Sozialwohnung in „Kraiennest“ – wunderschön im Grünen gelegen und er war begeistert, dass er in einer Stunde mit der Bahn am Strand von Zandvoort sein konnte. Ich erinnere mich, dass wir uns dann während dieser Zeit auch einmal in Spanien zum gemeinsamen Urlaub mit den Hunden verabredet hatten. Damals hatte ich Freunde in der Nähe von Alicante, die sich dort eine kleine Bungalowanlage in Strandnähe aufgebaut hatten und sich rührend um ihre deutschen Gäste kümmerten. Barbara – eine Berlinerin und Rafael – ein feuriger Andalusier – beide um die 60 Jahre alt und gerade frisch berentet. Jedenfalls hatten wir dort zwei nebeneinander stehende Bungalows direkt mit Blick auf den Swimmingpool gemietet und Rainers Mutter, die damals in Süddeutschland lebte, hatte Stellung in einem noblen Strandhotel bezogen, wo wir sie dann auch öfters zu gemeinsamen Ausflügen abholten. Für unsere damaligen Verhältnisse war das eine schöne und entspannte Zeit – für mich auch jedes Mal ein Aufatmen nach den anstrengenden Monaten zuvor in Berlin. In Spanien hatten wir Meer und Berge satt, so dass wir mit den Hunden jeden Abend ausgepowert von unseren Ausflügen in die Anlage zurück kamen, wo uns Barbara und Rafael dann meistens am Grill mit selbst gemachter Riesenpaella und Sangria verwöhnten. Ich erinnere mich auch an die Panik, als eines Nachts eine verirrte El-Al-Frachtmaschine aus Israel in den Nachbarwohnblock stürzte und ich Rainer stundenlang versuchte telefonisch zu erreichen bis dann endlich die erlösende Nachricht kam, dass es ihm gut ginge. Unvergessener Rainer – eine Kerze die an zwei Enden lichterloh brannte, wie er öfters selbstironisch erwähnte.

Carola jedenfalls blieb mit uns zurück in Berlin, wo sie auch, so gut es ging, den Donnerstagabend ohne Rainer aufrecht hielt. In diesen Jahren habe ich mehrmals mit Carola einen Umzug mitgemacht – von Kreuzberg nach Steglitz, nach Moabit und – dann noch mal nach Steglitz, wo sie ihre 3 letzten Monate im Hospiz des Auguste – Viktoria – Krankenhaus verbrachte.

Carola, die zähe lebenslustige Mitstreiterin verlor von einem Tag zum nächsten ihr Gedächtnis – das heißt, sie wusste zwar noch wer sie war, aber konnte sich nichts mehr merken und bekam keinen roten Faden mehr in ihre Gedanken. Leider habe ich inzwischen vergessen (verdrängt?) welche opportunistische Infektion nun genau diesen Zustand hervorgerufen hatte – jedenfalls hatte sie eine fast vollständige Amnesie und ich teilte mir mit Reinhard die Wache an ihrem Bett – zuerst im Haupthaus des AVK – danach im dazugehörigen Hospiz in der Leonorenstraße in Lankwitz. Allerdings waren in den letzten Wochen auch zum Teil ihre in Süddeutschland und Hamburg wohnenden Familienangehörigen angereist, so dass wir uns ständig an ihrem Krankenbett die Klinke in die Hand gaben. Sie sah rein optisch aus wie das blühende Leben und es kam mir so vor, als wenn eine wunderschöne Orchidee ihren Lebenshauch verlor. Sie, die uns immer mit ihrer Lebensfreude und ihrer Kraft angesteckt hatte, lag nun mit ausdruckslosem Blick und kämpfte mit dem Leben. Und wie sie kämpfte. Sie musste ein unglaublich gutes und gesundes Herz gehabt haben, da ich mich erinnere, dass sie wochenlang trotz abgeschalteter Geräte noch wach und am Leben blieb.

Heute erinnere ich mich meist an sie, wenn ich im Café Positiv – nunmehr in der Bülowstrasse angesiedelt, ihr dort angebrachtes Foto – wo sie mit einem bunten Pagagei zusammen abgelichtet ist, anschauen kann. Unvergessene geliebte Carola.

Sabine Lange – liebe, liebe Sabine. Unser Engel. Engel der Aidskranken wurde sie mit Fug und Recht genannt. Unvergessene Sabine – die so vielen Kranken und Verzweifelten Trost und Mut zusprach – immerzu tatkräftig an ungezählten Krankenbetten selbstlos Hilfe leistete – bis es sie selbst traf und sie Mitte 1990 ein schnellwachsender bösartiger Tumor aus dem bis zuletzt aktiven Leben riss.

Ich lernte Sabine 1985 im Tropeninstitut Berlin kennen, wo sie als Krankenschwester bereits seit Jahren durch ihre sehr einfühlsame und mitmenschliche Art so etwas wie eine Institution war. Sie wurde von der damals einsetzenden Welle von zum HIV-Test eilenden Menschen ebenso überrollt wie die beratenden Ärzte und Ärztinnen im Tropeninstitut. Da der Test dort kostenlos – und anonym – durchgeführt wurde, zogen es viele aus den Betroffenengruppen vor, statt beim Arzt, die ersten Tests im Tropeninstitut durchführen zu lassen.

Sabine hatte eine so unnachahmlich feinfühlige Art, die zum Test gehörigen Fragen zu stellen, so dass sich jeder sofort zu ihr hingezogen fühlen musste und sich erst gar kein peinliches Gefühl einstellen konnte. Es wurde damals auch danach gefragt, wie eine mögliche Ansteckung erfolgt sein könnte und ihr vertraute man gerne das nötige an.

Sabine lernte ich aber erst persönlich kennen, als wir uns immer wieder in den diversen Krankenhäusern über den Weg liefen wo sie, neben ihrer unermüdlichen hauptamtlichen Arbeit als Streetworkerin für HIV-Aufklärung, Krankenbesuche machte. Sie kannte so viele Betroffene persönlich, die damals zu Tausenden in den Berliner Krankenhäusern lagen und fühlte sich für jeden einzelnen verantwortlich. Wenn wir uns begegneten, zog sie mich auf eine Bank, nahm meine Hand und ich war immer wieder aufs neue fasziniert wie lebhaft sie an allen Details meiner Interessen teilnahm – sei es nun das Projekt Café Positiv oder auch die Krankenbetreuung – wir zogen beide an einem Strang. Sie hatte so was liebevolles in ihrer Art, dass ich immer total beglückt war, wenn ich sie traf und wenn wir auch oft nicht länger als eine Viertelstunde miteinander hatten – es war etwas besonderes an ihr und das vermittelte sie jedem der mit ihr zu tun hatte. Bei Sitzungen und Tagungen, z.B. bei der Berliner Aids-Hilfe, wo sie auch, wenn immer möglich anwesend war, wurde ihre fachliche und sachliche Kompetenz immer gefragt und anerkannt.

Später dann zu sehen, wie sie immer weniger wurde durch ihre eigene Krankheit – und immer noch zu den Kranken eilte – das tat weh und dennoch gehörte es zu ihrem Leben, denn das war ihr Leben.

So habe ich oft erlebt, dass sie die Kranken noch mit ihrem fachlichen Wissen betreute – so nebenbei noch etwas zu essen kochte – oder selbstgekochtes von zu Hause mitbrachte, deren Wohnung schnell aufräumte und so gut es ging saubermachte. Heute noch ist es mir fast unvorstellbar, wo sie die Energie für alles aufbrachte. Und – bitte nicht falsch verstehen – sie hat um ihre Arbeit nie großes Gewese gemacht – es war selbstverständlich für sie zu helfen und sie wollte dafür keinen Dank und keine Ehrung. Den Verdienstorden des Landes Berlin, den sie 1988 für ihre Arbeit erhielt, nahm sie eher widerwillig denn freudig an – dafür war sie viel zu bescheiden. Aber diesen Orden hat sie wahrlich verdient – alle die sie kannten, werden das bestätigen. Sabine – liebe Sabine – ich denke an Dich – wir werden uns ganz sicher wieder begegnen.

Dr. Gerd Bauer war ebenfalls ein Engel der Aidskranken. Er hat so vielen Menschen in einer Zeit der Panik und Mutlosigkeit Trost und Zuspruch gegeben. Aber er war auch unerschrocken in seinem Kampf mit den Kranken – gegen die starre und teilweise unmenschliche Bürokratie. Eine Bürokratie der Krankenkassen, Versorgungsämter und Rentenanstalten, denen die er mit Zivilcourage und Unerschrockenheit widersprach und zuwiderhandelte. Man muss sich das heute mal vorstellen: in den chaotischen ersten Jahren von Aids starben die betroffenen Menschen wie die Fliegen – die das Leben etwas erleichternden Maßnahmen wie „Erteilung der Schwerbehinderung“, Rentengewährung usw. traten oft erst in Kraft oder wurden erst dann gewährt, wenn viele der Betroffenen bereits im Sarg lagen und nichts mehr von diesen Leistungen in Anspruch nehmen konnten.

Unerträglich für einen humanistisch denkenden Menschen wie Dr. Bauer. Er hat sehr vielen Kranken in ihrem Kampf gegen Behördenwillkür selbstlos beigestanden – leider ist auch er inzwischen einem Krebsleiden erlegen. Einer seiner damaligen Mitstreiter – ein junger Arzt in seiner damaligen Praxis am Kaiserdamm hat die Nachfolge seiner späteren Praxis an den Osramhöfen in der Seestraße bereits seit einigen Jahren in seinem Sinne übernommen. Ein wahres Glück für die Betroffenen, da es leider auch heute nicht alle der HIV-niedergelassenen Schwerpunktärzte wagen, im Zweifelsfalle den zaudernden Behörden Paroli zu bieten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Zum Glück hat sich aber das Klima doch inzwischen zu Gunsten der Betroffenen gewandelt, so dass die Zahl der Einsprüche gegen Behördenwillkür sichtbar gesunken ist.

Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel