Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 2

Die Situation HIV-Infizierter war beklemmend. Auch ich habe noch 1988 mein erstes größeres Interview für den Marburger Express noch unter Pseudonym gegeben, mein erster Fernsehauftritt kostete mich ein Drittel meiner Kanzlei. Im Beirat der Deutschen Aidshilfe brach ich 1988 das Tabu, öffentlich über die eigne Infektion zu sprechen und andere danach zu fragen. Über allem hing damals noch die Drohung, wir würden alle schnell dahinsiechen. Schulungen zu Sterbebegleitungen und Sterbemeditationen fanden bundesweit reichlich statt. Für den Ernstfall wollte man gerüstet sein. Die Bilder stimmten damals scheinbar. Sie waren geprägt von Menschen, deren Krankheit erst im Spätstadium diagnostiziert werden konnte und in deren Behandlung die Medizin noch im der Phase des Try and Error war. Den einfach nur Infizierten mit einer langen gesundheitlich stabilen Phase konnte man erst ab Herbst 1984, der Einführung des ersten HIV-Antikörpertests, entdecken, und den lange symptomarm oder symptomlos lebenden behandelten Infizierten erst ab den pharmazeutischen Fortschritten Mitte der neunziger Jahre. Ich habe mir in Marburg extra noch im September 1999 in einem ansonsten sehr sensiblen Portrait die Schlagzeile eingefangen: „Den Tod seit fünfzehn Jahren überlebt“. Diese Bilder waren immer sehr mächtig. Und unser Kampf ging darum, ihnen die Macht dadurch zu nehmen, dass wir ein Gesicht zeigten, das wahre Leben.

Obwohl die Beratungsgruppe, die seit 1984 tätig war, in erster Linie Testberatung machte, führte die allgemeine politische Kultur Marburgs, die uns geprägt hat, dazu, HIV auch als eine gesellschaftspolitische Herausforderung zu begreifen. 1987 stand dann die offizielle Gründung der Marburger Aids-Hilfe e.V. an. Zu den Finanzierungsverhandlungen in der Stadt reiste auf unseren Wunsch der inzwischen habilitierte Reinhard Brodt von der Frankfurter Infektionsambulanz an, um erfolgreich der Marburger Uniklinik Paroli zu bieten. Überhaupt bekamen wir in der Anfangszeit viel Unterstützung aus Frankfurt. Rafael Lewental und Peter Josefiok von der AHF halfen bei Veranstaltungen mit eigenen Erfahrungen aus. Die Teilhabemöglichkeit an Ausbildung und Diskussion in der Frankfurter und in der Hessischen Aids-Hilfe haben uns wichtige Unterstützung gegeben. Und dann war die Aidshilfe Marburg ziemlich nah am Leben dran. Während an vielen Orten nur streng geheime Positiventreffen unter dem Dach der Aids-Hilfe erfolgten, eine Mitarbeit aber unerwünscht war, bestimmten sie in Marburg die Diskussionen mit. Wenn ich damals auch beklagte, wie übrigens auch heute noch, dass zu wenige Menschen mit ihrem HIV Status offen umgehen, so zwingt die historische Perspektive mich doch, anzuerkennen, es war in Marburg eine Menge sichtbar los. Und das wurde vom Unfeld der Aids-Hilfe, der Tuntonia und häufig auch aus dem Schwulenreferat des Asta mitgetragen. Vor allem Florian, Wilfried, Reinhild und auch ich brachten offensiv, manchmal penetrant und nervend, die positive Sicht des Lebens ein. Heiße öffentliche Diskussionen der Marburger Positiven mit der Schwulengruppe und der Aids-Hilfe im Cafe am Grün verursachten einen erhöhten Supervisionsbedarf bei den MitarbeiterInnen des Vereins. Andrerseits bekam ich, als es meinem Freund Jörg ganz dreckig ging, unaufgefordert das Angebot eines schwulen Altenpflegers, er habe mit ein paar Freunden aus dem Pflegebereich gesprochen. Eine vierundzwanzig Stundenpflege könnten sie ehrenamtlich leisten, wenn wir Bedarf daran hätten. Das rührt mich auch heute noch zu Tränen. Im Arbeitskreis Aids beim Gesundheitsamt der Stadt Marburg, waren die Aids-Hilfe und Dr. Hornung lange Zeit die einzigen, die mehrere Kranke und Infizierte vor Ort kannten. Dort wurde für den ersten Spritzenautomaten gestritten, gegen heimliche Tests im Uniklinikum, um Methadonvergabe. Es gab Veranstaltungen zu Aids und Ethik u.a. mit Hans-Peter Hauschild, Sophinette Becker und dem Katholischen Stadtdekan im Buchladencafe am Grün. Die Strömungen, der Verein zur Förderung der Debattenkultur, angesiedelt beim roten Stern, veranstalteten für uns eine ganze Drogenreihe. Die schwule Kultur bescherte uns unvergessliche Benefizkleinkunstabende. Ich selbst durfte zusammen mit Uwe Kerkmann und Klaus Stehling unter anderem mit den Programmen „Sturzbetroffen“, „Pilze zum Lunch“ und „ich will nicht nur Schokolade“ beitragen. Die Waggonhalle, das Theater neben dem Turm, die Pfarrkirche, das KFZ, das Cafe am Grün, die Ortenberggemeinde und natürlich die Stadt Marburg gaben uns für die schrill künstlerische Facette der Arbeit bereitwillig ihre Räume. Klar, ein traditionsreiches Cafe in der Oberstadt, wollte Charlotte von Mahlsdorf nicht lesend in ihren Räumen haben. Das war aber dann für Tuntonia, das Schwulenreferat und die Urninge der Aids-Hilfe immer ein Fest, wenn man von einer Demo gegen Dyba noch im Fummel gewandet gleich zum Konditern gehen konnte.

Trotz allem war die Marburger Aidshilfe nie wirklich mein Ort, Ich habe da nie irgendwelche Funktionen vereinsrechtlicher Natur erfüllt. Räume waren für mich eher die Frankfurter und die Deutsche Aids-Hilfe und das Haus 68 in Frankfurt. Der Verein konnte und kann immer auf meine solidarische Unterstützung zählen, aber mein Ort war er nicht, weil seine Größe nicht zuließ, übergreifend politisch zu agieren. Klar, Gespräche in der Anfangszeit mit Uta Bednarz, Harald Jaekel, Peter von der Forst und Behruz Foroutan waren zu ihrer Zeit hilfreich, so wie heute Gespräche mit den engagierten Menschen in Offenbach und in Marburg mit Mario. Aber ich suchte damals keine Gruppe, in der man sein Elend gemeinsam bearbeitet, verarbeitet, trägt, die aber im übrigen völlig asexuell war. Oder anders, ich war auf der Suche nach Arbeitsfeldern, in denen ich eine Chance hat, nicht nur das vereinsinterne Klima zu verändern, sondern das leichtere Sprechen über HIV zu befördern. Dafür gab es geeignetere Rahmen als den Marburger Verein, der mich bei der Suche danach immer tatkräftig unterstützt hat, froh war, wenn ich meinen unersättlichen Diskussionsbedarf im Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe, Im nationalen Aids Beirat, in Frankfurt oder bei Kongressen und Tagungen deckte. Marburg habe ich immer wieder als Zaungast mitbekommen. Fein war der denkwürdige Gottesdienst für die Drogentoten der Stadt in der vollen Pfarrkirche mit Frau Bundesmann-Lotz. Für die Trauer gibt es inzwischen auf der Homepage einen virtuellen Friedhof für Drogentote. Die Schwierigkeiten, dass akzeptierender Drogengebrauch bei aller Grundüberzeugung des Vereins bei hauptamtlichen Mitarbeitern an Grenzen stößt, die zum Handeln zwingen, habe ich mitbekommen wie auch die Hürden, die die Verantwortlichen überspringen mussten. Wir haben viele Verluste erleben müssen. Florian und Ziggy leben nicht mehr. Sie haben dazu beigetragen, dass sich die Marburger Aids-Hilfe offensiv der Überlebensbedingungen von iv DrogenuserInnen angenommen hat. Der dringend benötigte Kontaktladen legt davon ebenso Zeugnis ab, wie jetzt das längst schon überfällige Streiten für einen Konsumraum.

Marburgs schwules Leben sehe ich seit geraumer Zeit nur noch aus der Ferne und mit Wehmut. Da scheinen mir mal wieder sieben dürre Jahre angesagt zu sein. Bleibt nur zu hoffen, dass die Akteure das Porzellan nicht endgültig zerdeppern sondern für zukünftige Aktivisten nur verstauben lassen. Meine Sicht von Marburgs schwulem Leben, meist mit der Aids-Hilfe als Mitveranstalter, ist geprägt von zwei Abenden im Rathaus zur Eröffnung des schwulen Herbstes. Einer davon waren die „Rosa Spuren im braunen Dickicht“, an dem mehr als ein Dutzend Männer und eine Frau gestaltend teilgenommen haben. Es gab unzählige Kleinkunst- und Trash-Abende im KFZ, Großveranstaltungen wie Hella von Sinnen in der ausverkauften Stadthalle, 1978 eine schwule Hardcore-Filmreihe im KFZ, die selbst mir teilweise zu heftig war. Sommerfeste im Schülerpark, Vortragsabende und Lesungen, Theater, es war schon eine bunte Mischung, an der beitragen zu können auch meine Entwicklung geprägt hat. Diese Facette schwulen Lebens vermisse ich in Offenbach. Es war einfach schön, sich von Manfred Schmidt, der inzwischen in Nürnberg Leiter des Beratungsteams der dortigen Aids-Hilfe ist, über den Einfluss der Bundeswehr auf die Reformbestrebungen des § 175 in den sechziger Jahren informieren zu lassen, manches über Geschlechtsidentitätenverwirrungen bei Indianern zu erfahren, kurz jede Menge Individualisten zu erleben, die an ihren Vorlieben und Themen partizipieren ließen.

In den Diskussionen, die ich inzwischen auf Hessischer Ebene mit der Marburger Aids-Hilfe erlebe, nehme ich immer erfreut wahr, dass dort die Begeisterung für die Buntheit des Lebens noch lebendig ist. Das hat richtig Spaß gemacht, mit Daniela Wais und Mario Ferranti bei der Erarbeitung des Leitbildes der Hessischen Aidshilfen über das Leben und die Notwendigkeiten der Arbeit von Aids-Hilfe zu diskutieren. Und ich weiß auch sehr zu schätzen, dass sich die Marburger Aids-Hilfe politisch dafür stark gemacht hat, die posT, das Magazin der Hessischen und der hannöverschen Aids-Hilfen, zu ermöglichen. Sie ist inzwischen eingestellt aber immer noch runterzuladen von www.ondamaris.de. Dort wird der Diskurs über das Leben mit HIV ernsthaft gepflegt. Dazu gehört, auch das Gespräch über Risikomanagement von Infizierten unter Therapien, zu pflegen. Das war lange ein Tabuthema, weil offensichtlich befürchtet wurde, die bloße Bekanntgabe wissenschaftlicher Ergebnisse, bedeute das Ende des Kondomgebrauchs und sei gesellschaftlich nicht zu vermitteln. Das ist natürlich Humbug, denn sexuelle Gesundheit bedeutet mehr und nicht zwangsläufig die Abwesenheit von HIV. Es zeichnet sich ab, dass erfolgreich behandelte HIV-Infizierte nicht mehr infektiös sind. Man soll also nicht ihre angebliche aber real nicht vorhandene Gefährlichkeit heranziehen, um rigide im gesamten schwulen Sex das Kondomgebot durchzusetzen. Es gibt viele Gelegenheiten, in denen es sinnvoll oder geboten ist. Aber wenn man Prävention gegen die Hepatitis machen will, bieten sich die von Gießen und Marburg durchgeführten Impfkampagnen an, Syphilis, Tripper und Co verlangen andere Strategien und letztlich muss der einzelne Mensch alles noch in seine Trieb- und Sehnsuchtsstrukturen einbauen können. Es ist ohnehin ein schwieriges Feld. Darin öffentlich nicht anzuerkennen, dass es neben dem Kondom auch zu respektierende andere Wege und Wünsche gibt, macht krank und wird unter anderem auf meinem Rücken ausgetragen. Da tut es gut, Mitstreiter auch in Marburg zu haben, die diese Bürde wegräumen wollen.

An die Marburger Kultur, Presse und Politik, an die soziale Szene der Stadt vom Betreuungsverein über den fib, die Lebenshilfe bis zur Bürgerinitiative Sozialpsychiatrienpie, an Teile der Justiz und an viele Marburgerinnen und Marburger geht mein Dank. Dass ich meine Art von Offenheit von vielen solidarisch unterstützt leben konnte, war in den Achtzigern und Anfang der Neunziger keine Selbstverständlichkeit. Danke für die Einbindung in der Stadt.

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(Bernd Aretz: ‚Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 1‚ erschien am 03.09.2012)

Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 1

Zum inzwischen ja sattsam abgefeierten dreißigjährigen Jubiläum von HIV und Aids gibt es von Bernd Aretz noch im Nachhinein einen Text aus dem Frühjahr 2007, also etwa ein Jahr vor der EKAF Erklärung über die Nichtinfektiösität der gut therapierten HIV-Infizierten. In diesem Rücklick anläßlich des 20 jährigen Jubiläums der Marburger Aidshilfe gibt er einen sehr persönlichen Eindruck von dem Leben als positiver schwuler Mann in der Provinz und der Bedeutung der Aidshilfe Marburg, für ihn.Der Text war dann für die Festbroschüre gar zu opulent, so dass er hier erstmalig in voller Länge veröffentlicht wird. Die Aidshilfe ist inzwischen fünf Jahre älter. Schenken wir also die Veröffentlichung der Aidshilfe Marburg zum Fünfungzwanzigsten (in zwei Teilen, Teil 1 heute, Teil 2 am 5.9.2012):

Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe

Fünf mal Pommes rot/weiß war die Standardbestellung in der Gerichtsschänke gegenüber der Profamilia, wenn das Team der Aidshilfe nach getaner Beratung sich zum Diskutieren und Pläneschmieden am großen Tisch versammelte. Die Köpfe rauchten, die Aschenbecher quollen über, man bediente sich großzügig am immer wieder nachbestellten Standardgericht der Gruppe. Derweil wurden die Aktionen geplant. Das Klima war grauenhaft. Die Liste der anzugehenden Aufgaben lang. Prof. Krause von der Hautklinik bestritt, dass Marburg ein Problem mit HIV und Aids habe, im übrigen könnten die Patienten, die man ohnehin am liebsten von hinten sehe, doch nach Frankfurt gehen, da seien sie doch gut aufgehoben. Eine Aids-Hilfe brauche man hier wirklich nicht. Das war 1987. Da war ein kleiner Kreis um Uta Bednarz, Cristoph Gutenbrunner, Harald Jaekel und Behruz Foroutan schon seit drei Jahren beratend zu Gange gewesen. Ich hatte schon 1984 auf der Aids-Station 68 in Frankfurt die Testamente zweier sterbender Marburger Männer beurkundet. Das war zwar standesrechtlich nicht zulässig, weil ich dazu meinen Amtsbezirk verlassen musste, aber der Klinik war es nicht gelungen, in Frankfurt einen Notar zu finden, der sich ganz kurzfristig dieser Aufgabe gestellt hätte. Meine Dienstaufsicht hat auf meine sofort erfolgte Selbstanzeige das Verfahren gleich eingestellt. Im Klinikum wurde heimlich getestet und der einzige, der dort das Fähnlein einer vorurteilsfreien Lehre aufrecht hielt, war der Psychosomatiker Wolfram Schüffel, der einmal im Semester HIV und ethische Fragen auf dem Lehrplan hatte und dazu – auch betroffene – ExpertInnen von außen zum vortragen einlud.

Der Test war heiß umstritten, die deutsche Aids-Hilfe lehnte ihn, ab, die Marburger und Frankfurter boten ihn an. Harald Jaekel verfasste im Juni 1987 ein Papier „Kann die Mitgliedschaft regionaler Aids-Hilfen in der Deutschen Aids-Hilfe von einer strikten Ablehnung des HIV Tests abhängig gemacht werden?“ Er bestand auf dem Recht auf Wissen, auch wenn es noch keine therapeutischen Interventionsmöglichkeiten gab, und fand es unethisch, wie die meisten Mitarbeiter von Aids-Hilfen bundesweit, zwar selbst gestestet zu sein, Ratsuchenden dieses Recht übervorsorglich aber abzusprechen.

Die schwule Szene war ein zu bearbeitendes Feld. Erwünscht war da in Marburg die Aids-Hilfe nicht. Man könne doch den Kindern im Coming out, deren Leben ohnehin schwer genug sei, nicht auch noch die Angst vor HIV aufladen. Widerstand erregte der Plan, sich mit einem Button „Aids-Hilfe Marburg“ unter das feiernde Volk zu mischen und sich so als Anzusprechender anzubieten. Die Veranstalter, die mich als Redner zu einer schwulen Demo in Marburg eingeladen hatten, versuchten vergeblich, mir HIV und Aids als Thema auszureden.

Ganze Bevölkerungsgruppen waren abgeschrieben. Die repressive Drogenpolitik war offensichtlich gescheitert und forderte täglich mehrere Opfer in der Bundesrepublik. Alles was man zur Entschärfung der Situation forderte, nämlich saubere Spritzen, Methadon, Notschlafplätze, Anlaufstellen, Druckräume und – damals eigentlich noch völlig undenkbar – Originalstoffvergabe, insgesamt eine die Menschen akzeptierende Politik war dem Vorwurf ausgesetzt, wir bestärkten die Menschen in ihrer Abhängigkeit. Lange mussten sich Abhängige erst eine HIV-Infektion zuziehen, um sich die Gnade zu erkaufen, die Aufnahmekriterien für ein Substitutionsprogramm zu erfüllen. Und auf Gegenliebe für eine rationale Drogenpolitik konnte man bei dem zuständigen Vertreter der Marburger Staatsanwaltschaft wahrlich nicht hoffen. Er sah es nicht als sein Recht, schon gar nicht als seine Pflicht an, seine Stimme gegen die verfehlte Repressionspolitik zu erheben. In unseligster Tradition ging er davon aus, er habe die Gesetze anzuwenden und nicht zu beurteilen. Kein Wort von ihm zu dem Skandal, dass trotz bekannten Drogengebrauchs in den Vollzugsanstalten abhängige Gefangene keinen Zugang zu sauberen Spritzbestecken haben. Dazu gehört dann, bei jeder neuen Statistik des Robert Koch Institutes Tränen zu vergießen und Unverständnis dafür zu heucheln, dass immer noch Infektionen stattfinden. Im Drogenbereich ist eine Teilerklärung dafür ganz einfach. Der Staat schafft in den Vollzugsbedingungen für abhängige Gefangene eine Situation, in der sie sich infizieren müssen, auch mit Hepatitis C.

Für Migranten gab es nichts und die Unterstützung der dritten Welt – und sei es nur durch die Skandalisierung von Zuständen – war nun auch nicht jedermanns Anliegen. Aber die Aidshilfe war mittendrin im Thema.

Broschüren in persisch und türkisch und japanisch wurden von den Marburgern erstellt, die Zusammenarbeit mit der Blindenstudienanstalt, mit der Interessensgemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen gesucht, die ganzen Netzwerke der Stadt immer wieder aktiviert und umgekehrt solidarisch unterstützt. Bundesweit wird es erst jetzt wieder Thema, wie man denn Migranten muttersprachliche Informationsbroschüren zukommen lassen kann. Eine einzelne Aids-Hilfe ist damit überfordert, es wird aber zurzeit gibt es Anstrengungen, eine vernünftige Linkliste zum Download zu erstellen. In der alltäglichen Betreuungsarbeit begegnet Aids-Hilfe inzwischen ohnehin Menschen aus allen Kontinenten.

Die Situation infizierter Frauen wollte bedacht sein. Infizierte Frauen wurden ungeniert zur Abtreibung gedrängt, die Perspektive von infizierten Müttern, die erleben, dass ihre Kinder erwachsen werden, war noch undenkbar. Heute liegt die Übertragungsrate während der Geburt von Müttern auf ihre Kinder in Deutschland unter zwei Prozent. Und wir freuen uns, dass eine unserer früh infizierten Frauen inzwischen gewollt und bewusst Mutter geworden ist.

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(Bernd Aretz: ‚Geburtstagsgrüße für die Aidshilfe – Teil 2‘ erscheint am 5.9.2012)

„HIV ist eher nebensächlich für uns“ – Interview mit Isabel und Rene, der „ersten hetero PoBe-Beziehung“

Positiv, hetero – und eine glückliche Beziehung, die zudem eine bemerkenswerte Geschichte hat. In zwei parallelen Interviews erzählen heute Isabel und Rene über sich und ihre ‚PoBe-Beziehung‘:

Isabel, Rene, ihr seid seit 4 Monaten fest zusammen. Mögt ihr euch zunächst kurz vorstellen?

Isabel: Ich bin gebürtige Sächsin, lebe aber schon seit 1985 im Großraum Düsseldorf, zähle inzwischen 36 Jahre und bin seit Ende 2000 positiv – infiziert von meinem Ex-Mann, der mir seinen HIV-Status verschwiegen hat. Seit 2002 nehme ich HIV-Medikamente und hab eigentlich keine größeren Einschränkungen dadurch. Habe aber auch das große Glück, eine Kombination zu nehmen, die nur einmal täglich verabreicht wird. Ich habe zwei Kinder – mein Sohn wurde 2003 geboren – durch ihn auch der frühe Therapiebeginn. Beruflich komme ich aus der Bank – ich habe vor 20 Jahren dort gelernt und bin bis heute im Konzern tätig.

Rene: Ich wurde 1972 in Quedlinburg geboren und lebe heute in Erfurt. Seit 1996 bin ich positiv getestet und seitdem in Therapie, die ich allerdings anfangs durch meine Suchterkrankung nicht regelmäßig eingenommen habe. Seit 2002 nehme ich die Medikamente allerdings durchgehend – meine Therapie besteht aus Kaletra und Truvada. Ich bin seit Jahren unter der Nachweisgrenze bei ca. 700 Helferzellen. Bis auf kleine Nebenwirkungen (Migräne) vertrage ich die Therapie ganz gut. Beruflich schlägt mein Herz grün (Garten- und Landschaftsbau) und nachdem ich nun körperlich und seelisch wieder hergestellt bin, hoffe ich, auch in diesem Bereich wieder voll durchstarten zu können.
Seit 4 Jahren bin ich komplett trocken – da hab ich gleich Nägel mit Köpfen gemacht und auch das Rauchen aufgehört.

Ihr seid euch nicht ganz zufällig begegnet – die Geschichte eurer Beziehung ist eng mit den ‚Positiven Begegnungen‘ verbunden?

Isabel: Für mich war es die 3. PoBe und ich freute mich darauf, wieder neue Leute kennenzulernen und alte Bekanntschaften aufzufrischen. Schnell hatte ich vertraute Gesichter wiederentdeckt und gesellte mich zu diesen. Dabei war neben vielen neuen Gesichtern eben auch das von René. Wir warfen uns schon mal den ein oder anderen verstohlenen Blick zu und wenn ich mich zum rauchen nach draußen schlich, tauchte er meist auch auf und wir unterhielten uns. Auf der Abschlussveranstaltung wurde „sein“ Video ausgestrahlt, welches im Workshop entstanden ist und ich zog den Hut vor seinem Weg. So tief hatte er mich natürlich in den vorangegangenen Tagen noch nicht in sein Leben blicken lassen und ich lernte einen ganz anderen René kennen. Kurz vor meiner Abfahrt kam er dann auf mich zu und fragte ganz höflich, ob er mir seine Telefonnummer geben dürfe. Es folgten dann Telefonate, Briefe und kleine persönliche Geschenkpäckchen über einen Zeitraum von 1,5 Jahren – wobei ich gestehen muss, dass ich mich schon teilweise ziemlich rar gemacht habe und René manches mal mehrere Wochen auf ein Lebenszeichen von mir warten musste. Allerdings war es toll für mich, trotzdem immer die wahre und echte Freude in seiner Stimme zu hören, wenn ich endlich mal wieder zum Hörer griff. Wir lernten uns, ohne es richtig zu bemerken, immer intensiver kennen und nachdem ich dann verschiedene Dinge in meinem Privatleben geregelt hatte, schrieb ich ihm kurz vor seinem 40. Geburtstag eine Nachricht, in der ich fragte, ob er an seinem Geburtstag den ganzen Tag auf Festnetz zu erreichen sei. Er hat recht schnell geahnt, worauf ich hinaus wollte und fragte ganz ungläubig an, ob ich eventuell vor habe, ihn besuchen zu kommen. Ja und bei diesem Besuch hat es dann ganz heftig gefunkt – seitdem verdienen die Mineralölkonzerne richtig gutes Geld an uns.

Rene: Ich war das erste Mal bei den Positiven Begegnungen und war überrascht von der Menge der Teilnehmer. Ich kam mir anfangs ein wenig verloren vor, stellte dann aber schnell fest, dass ich schon ein paar Leute durch die Positiv & Hetero Gruppe kannte. Mit dem Verlauf dieses Treffens taute ich nach und nach immer mehr auf und bemerkte interessante Menschen um mich herum. Im Gegensatz zu Situationen aus meinem früheren Leben erfuhr ich hier nicht Ablehnung und Diskriminierung, sondern mir wurde ehrliche Sympathie, Respekt und Anerkennung entgegen gebracht. Für mich war auf diesem Treffen klar, dass ich etwas bewegen möchte, dass heißt Gesicht zeigen. Deswegen habe ich auch beim Videoworkshop mitgemacht, bei dem ich glaube, recht authentisch rüber zu kommen.
Zu den Mahlzeiten fiel mir Isabel schon positiv auf und unsere Blicke trafen sich in der nächsten Zeit recht häufig. Das erste Grinsen war schon mit dabei. Nach den 4 Jahren meiner Abstinenz hatte ich wohl den Kopf frei, um das Projekt „zwischenmenschliche Beziehungen“ zu beginnen. Da ich noch nie in meinem Leben über einen längeren Zeitraum liiert war – sozusagen ein Langzeitsingle – aber immerhin nicht mehr bei Mutti wohnend – wollte ich hier einen ganz neuen Weg gehen. Das Treffen neigte sich am Sonntag dem Ende zu, als ich nach der Frühstückszigarette raus ging. Mit meiner Telefonnummer in der Hand und klopfendem Herzen in der Brust ging ich auf Isabel zu und gab ihr das Zettelchen. In den Satz: „Darf ich Dir meine Telefonnummer geben?“ legte ich all meine Hoffnung. Die Angst vor einem Korb war aber schon ganz schön groß.
Damals wusste ich noch nicht, wie verrückt diese Frau ist und dass sie keine Spielerin ist. Der Grundstein war gelegt…

Ihr beide seid also die erste hetero- „PoBe-Beziehung“, von der wir wissen, oder?
Weswegen seid ihr zu den ‚Positiven Begegnungen‘ gefahren?

Isabel: Klasse, so habe ich das noch gar nicht gesehen – aber es stimmt schon, ich habe bisher noch von keiner anderen hetero PoBe-Beziehung gehört.
Die Positiven Begegnungen sind für mich schon immer ein toller Ort gewesen, um neues Wissen zu erlangen, Wissen zu vermitteln und eben andere Betroffene kennenzulernen. Ich wurde für Bielefeld als Referentin angefragt, wäre aber auch als rein private Teilnehmerin gekommen. Im weitesten Sinne wollte ich also schon neue Menschen kennenlernen, aber keinesfalls einen neuen Partner. In Bielefeld war ich selbst noch gebunden, wenn auch nicht glücklich, so aber doch in einer Beziehung.
Ich hatte da erstmal einiges in meinem Leben auf die Reihe zu bekommen und war vom Thema Partnerschaft so bedient, dass ich ganz sicher erstmal nichts neues wollte.

Rene: In erster Linie ging es mir darum, positive Energie zu tanken. Eine mögliche Partnersuche stand keinesfalls im Vordergrund. Es war mir aber von vorneherein auch klar, dass es nicht tragisch wäre, wenn sich in diese Richtung etwas entwickeln würde.

Wie wichtig ist euer HIV-Status für euch in eurer Beziehung?

Isabel: Wir achten sehr aufeinander, können nachempfinden, wenn der Partner sich nicht wohl fühlt – ohne dass er sich großartig erklären muss.
Ansonsten nimmt der HIV-Status eher einen kleinen Raum in der Beziehung ein – es tut gut, sich vor dem Partner nicht verstecken oder verstellen zu müssen und natürlich ist es auch toll, spontan und unkompliziert Sex haben zu können.

Rene: Eigentlich ist der HIV-Status eher nebensächlich für uns.

Nach der ‚PoBe Bielefeld‘, dem Beginn eurer Beziehung – wie geht’s weiter?
Seid ihr auf Positiventreffen, oder auf den nächsten ‚Positiven Begegnungen‘ in Wolfsburg?

Isabel: Wir sind auf jeden Fall in Wolfsburg dabei und hoffen inständig, dass die gemeinsame Zimmerreservierung auch wirklich klappt! Und auch sonst sind wir gerade in der Phase, in der wir unser Glück mit anderen teilen möchten, ihnen davon erzählen möchten – so habe ich kürzlich Renés „Positiv & Hetero“ Gruppe bei einem Treffen besucht und auch in unseren örtlichen AIDS-Hilfen sind wir beide zusammen zu finden, wenn gerade Veranstaltungen auf die Tage fallen, an denen wir zusammen sein können. Für 2013 haben wir geplant, an einem Partnertreffen im Waldschlösschen teilzunehmen. Ich hoffe also sehr, dass wir zukünftig öfter mal als Pärchen auf Treffen zu finden sind.

Rene: Ich denke, hier hat Isabel die Frage komplett für uns beantwortet <lacht>

Heterosexuelle HIV-Positive haben es, scheint mir, oft schwerer, Beziehungs-Partner zu finden als Schwule, oder täusche ich mich da? Habt ihr einen Tipp für positive Heteros?

Isabel: Nun, es ist wohl generell schwer, den passenden Partner zu finden – noch dazu habe ich das Gefühl, dass viele Heteros doch dazu neigen, keine „gemischten“ Beziehungen eingehen zu wollen, was die Partnersuche nicht wirklich einfacher macht.
Ich habe aber erlebt, dass es durchaus legitim und auch möglich ist, sich in einen „negativen“ Partner zu verlieben und mit ihm zusammen zu sein. Die Hürden waren bei mir gar nicht so groß, wie ich es im Voraus immer befürchtet habe und der Umgang mit HIV wurde im Alltag ein ganz normaler.
Von daher kann ich nur den Tipp geben, auf das Herz zu hören und mit dem Selbstbewusstsein in eine neue Situation hineinzugehen, dass uns zusteht. Wir brauchen uns wegen nichts zu schämen oder zu verstecken.
In René habe ich mich nicht verliebt, weil er positiv ist, sondern weil er René ist.

Rene: Ich denke auch, dass man sich keinesfalls verstecken sollte, sondern sich einfach öffnen und in die Welt rausgehen muss. Frei nach dem Motto „wer nicht wagt, der nicht gewinnt“. Dank EKAF wird meiner Meinung nach auch vieles leichter. Ich denke, auch mit HIV sind wir vollwertige Menschen.

Isabel, Rene, ganz herzlichen Dank für das Interview!

Bernd Aretz ist traurig.

Mir fehlt meine Freundin Moni. Ich hatte sie beruflich kennengelernt. Sie war Sozialarbeiterin bei einem Verein zur Integration Behinderter und wir hatten gemeinsam einige Verfahren, die uns sehr berührten. Da ging es um Assistenz und Pflegeleistungen in Prozessen, in denen das verklagte Sozialamt zu Recht einräumte, die Hilfen seien völlig unzureichend, aber falsch behauptete, es sei an die Zeitvorgaben der Pflegeversicherung gebunden. Sie selber wollte das Sozialamt, trotz einer Arbeitsstelle auf dem ersten Arbeitsmarkt in ein bestimmtes Heim auf dem Lande abschieben. Im Laufe des Gerichtsverfahrens fragte ich bei dem benannten Heim nach, ob man dort überhaupt in der Lage sei, eine berufstätige Frau mit hohem Assistenzbedarf angemessen zu versorgen. Es stellte sich heraus, dass das Heim auf bettlägrige Pflegefälle und für Demenzkranke ausgerichtet war. Moni war, als es ihr noch besser ging, in der Welt herumgereist, hatte chinesisch gelernt, pflegte über das Internet eine reiche Korrespondenz. Unser Umgang war freundlich. Natürlich tranken wir auch schon mal in unserer Freizeit einen Kaffee im Café de Gass und schickten ihren Assistenten zum Eisessen, aber wir siezten uns, wir waren auf der selben Seite der Interessenvertretung von wechselseitiger Wertschätzung getragen professionell auf der selben Seite. Ich vertrat Menschen, die die Dienste der Lebenshilfe in Anspruch nahmen, wie auch Bewohner der Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie oder Schüler der Blindenstudienanstalt. Und sie organisierte Assistenzen und Pflege für Menschen die mit ihren seelischen oder körperlichen Besonderheiten nicht mehr im Heim und nicht mehr in der Herkunftsfamilie leben wollten.

Das Aidsgeschehen der ersten Jahre hatte mir nichts erspart. Die Begleitung des Dahinsiechens und Sterbens meiner engsten Freunde auch im häuslichen Umfeld, eigene Erkrankungen , massive wirtschaftliche Einbrüche aufgrund oder auch trotz meiner öffentlichen Präsenz hatten mich so gebeutelt, dass nichts mehr ging. Vor der Verrentung ( Das libri Korrekturprogramm bietet als Alternativen dazu an: Verrenkung Verrechnung oder Verrottung) war ich ein ganzes Jahr nur krank, am Ende, erschöpft und kaputt. Da wurde mir von Moni ein Päckchen zugespielt mit einem ausgedruckten Brief. Sie habe gehört, mir gehe es nicht gut. Das tue ihr sehr leid und da könne sie mir leider auch gar nicht helfen, aber vielleicht könnten mich die beiliegenden Kräuter, die üblicherweise in kleiner Tütenform geraucht werden, auf etwas andere Gedanken bringen. Es dauerte sicher zwei Monate, bis ich soviel Energie aufbringen konnte, mich für ein Geschenk zu bedanken, das mich zu Tränen gerührt hat. Sie hatte schon Angst, sie könnte mich irgendwie verärgert haben. Aber wieso denn. Es wurde einfach der Beginn einer der wesentlichsten Freundschaften meines Lebens.

Wir sprachen über die Liebe, bei ihr in den letzten Jahren sexuell eher über die Sehnsüchte. Sie verliebte sich natürlich immer wieder mal in ihre reizenden männlichen Assistenten. Aber bei einer Einschränkung die selbst das Halten einer Zigarette zum Gegenstand einer Hilfe macht, befindet man sich bei den ganzen Abhängigkeiten im Sumpfgebiet bis zum Hals im Morast. Darf ein Pfleger etwa als Assistent einen Dildo in die Hand nehmen? Ich konnte es gleichzeitig nachempfinden und streng konstatieren, dass das überhaupt nicht in Frage kommt, was sie ja auch selber wusste, nur nicht so gerne sehen wollte. Wir überlegten, die Männer kennenend, ob nicht vielleicht ein schwuler Callboy am ehesten für sie in Frage käme. Ich bin lange genug im schwulen Leben um zu wissen, dass da auch genügend hoch professionelle sensible Männer gibt. Aber irgendwie ist dann doch leider nichts daraus geworden. Aber wenigsten konnte ich mit ein paar sehr erotischen Plakaten der Deutschen Aids Hilfe aus der Ära Rainer Schilling die Phantasien beflügeln.

Moni hatte immer ein offenes Ohr für die sich häufenden körperlichen und seelischen Wehwehchen, für den Kampf schon wieder mal die nächste Einschränkung in das Selbstbild zu integrieren. Sie konnte natürlich die Schwierigkeiten nachempfinden, sich immer wieder auf neuen Ebenen auf Zeit einzurichten. Und wir hatten viel Spaß, gemeinsame Anteile von Familiengeschichte mit kriegsgeschädigten Vater, was nicht ohne Folgen auf die gesamten familiäre Systeme blieb. Wir sprachen über Literatur, natürlich über die Vorstellungen zum Sterben. Während ich mir am Liebsten vorsichtshalber auf die Brust tätowieren ließe: „keine Reamination“, kämpfte sie bis zum letzten dahingehauchten Atemenzug. Und wir haben gegessen, gelacht, ich habe ihr vorgelesen und sie versorgte mich immer wieder mal mit feinstem Räucherwerk. Ich vermisse das Mädel. Einen schönen Text von ihr gibt es unter http://www.ondamaris.de/wp-content/uploads/2011/12/posT200801.pdf (pdf) unter dem Titel „Richard oder die Liebe zu Bob Dylan.“

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles begann 1981. Forscher beobachten eine seltsame Häufung von Pilzinfektionen und seltenen Lungenentzündungen bei Schwulen in Los Angeles, später auch in San Francisco und New York. Im Juni 1981 erscheint ein erster Bericht über das, was später ‚Aids‘ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‚MMWR‘). Schon wenig später berichtet mit der New York Times auch die erste Publikums-Zeitung, im März 1982 schließlich berichtet in Deutschland erstmals der ‚Spiegel‘, unter dem Titel “Schreck von drüben”.

So beginnt ‚die Geschichte von Aids‘ (bzw. von der Wahrnehmung von Aids, denn die Anfänge von HIV liegen weit früher).

So beginnt Anfang der 180er Jahre die Geschichte einer Epidemie, die bald das Leben (nicht nur) der Schwulen dramatisch verändert. Die Geschichte einer Infektion, die sich – zunächst schlei­chend, bald jedoch mit massiver Wucht – in die Leben vieler Menschen drängt, auch in meines.

2012, gut dreißig Jahre später. Zahlreiche Feiern haben stattgefunden in den vergangenen Jahren, Jubiläen unzähliger Organisationen, die sich im Kampf gegen Aids engagiert haben. Was gab es zu feiern? 3 Jahre. Erinnern. Geschichte.

Geschichten.
Geschichten wie HIV sich mal schleichend langsam , mal überschlagend schnell in unsere, auch in mein Leben drängte, es aufzusaugen drohte.

Wie wichtig ist HIV in meinem Leben?
Ein weiter Bogen ließe sich spannen, von Ignoranz bis Dominanz, von Verharm­losen bis Hoff­nungslosigkeit, von Liebestrunkenheit bis zu tiefstem Absturz.
Fast wäre es wohl möglich, eine Art ‚Typologie der HIV-Relevanz‘ in meinem Leben zu erstellen – von Null auf Hundert, mit allerlei Achterbahn mittendrin.
Geht es auch wieder zurück? Hört das irgendwann einmal auf?

Anfang der 1980er

An die ersten Berichte über diese „neue Schwulen-Seuche“, wie sie damals tituliert wurde, kann ich mich gut erinnern, und auch an meine Reaktionen. „Haben die jetzt wieder etwas Neues gefunden, um uns weiter zu unterdrücken?“ Die Schwulen der Generation vor mir hatten mühsam gekämpft, um die Freiheiten, auch die sexuellen Freiheiten, zu erreichen, die ich nun gerade in vollen Zügen genoss. Wollten die uns das alles wieder weg nehmen? War da überhaupt etwas dran? Oder übertrei­ben die wieder mal?

Mit HIV (das diesen Namen erst später erhielt) wollte ich damals zunächst nichts zu tun haben. Okay, an das mit den Kondomen, da musste ich mich wohl gewöhnen. Ein kleiner, hauchdünner Schritt war es, mit dem HIV in mein Leben drang.

In Urlauben, gern an Frankreichs schwulen Stränden, erleben wir – anders als in den Homoszenen zuhause – weiterhin ‚das pralle Leben‘. Sex, als sei Aids ein fernes Gespenst, safer Sex etwas für neurotische Großstädter (die genau hier ihren Urlaub machen). Es ist Urlaub, die Sorgen sind fern, Kondome bei Franzosen anscheinend noch un­beliebter als bei uns. Weitgehend sorgenfrei scheint das schwule Standleben hier weiter zu toben.

Mitte der 1980er

Irgendwann begann Aids, mehr Raum in meinem Leben einzunehmen. Ob ich wollte oder nicht (nein, ich wollte nicht), HIV drängte sich mehr in mein Leben. Nicht schleichend, sondern ganz ra­sant. Wegschauen war vorbei. Zunehmend mehr Freunde und Bekannte erkrankten. Die ersten ster­ben.

Ende der 1980er

Und es wurde nicht besser. Monatelang, jahrelang nicht. Im Gegenteil.

Kein Zeichen von Hoffnung.
Kein Lichtstreif am Horizont.
Immer mehr Freunde und Bekannte kamen an, sagten dieses traurige „du, ich hab’s auch“.
Hoffnungslosigkeit schwang bei jedem Test, jeder Diagnose sofort mit.
Zahle ich jetzt den Preis für mein liederliches Lotterleben, wie sie es uns einzureden versuchen? Hat ‚es auch mich erwischt‘? Und wenn ja – wie lange habe ich noch?

Immer mehr Lover, Weggefährten, Mitstreiter starben.
Die Zahl der Trauerkarten und Einladungen zu Begräbnissen in unserem Briefkarten nahm irgend­wann ein Maß an, für das mir nur ein Wort in Erinnerung bleibt: ‚unerträglich‘

Um HIV kam ich nicht mehr herum. Aids war längst tief drin in meinem Leben.

Anfang der 1990er

Im Sommer 1989 lernte ich in Paris einen jungen Mann kennen. Eine ‚große Liebe‘ meines Lebens.Wir verbrachten traumhaft schöne Momente mit einander, positive Momente. Irgendwann in den 1980ern hatte ich selbst die Diagnose ‚HIV-positiv‘ bekommen. Auch er war positiv. Seelenver­wandte waren wir, Gefährten. (Ich habe über die Zeit mit ihm auf unserem privaten Blog 2mecs ge­schrieben „Einige Tage mit dir“.)

HIV hatte sich wieder weiter voran in mein Leben gedrängt, wieder eine Stufe mehr auf der Leiter der Aids-Eskala­tion, eine unerträgliche. Nicht nur waren große Teile meines persönlichen Umfelds HIV-positiv, nicht nur hatte ich selbst längst mein Testergebnis in der Tasche. Nein, nun war auch einer der Menschen, die mir am nächsten sind, einer den ich liebe, positiv – und erkrankte, erkrankte schwer.

Ich erlebte mit ihm, mit uns nicht nur ’sein‘ HIV, sei fortschreitendes Erkranken. Mir war nur zu bewusst: du er­lebst hier auch dein HIV. Du erlebst auch dich selbst – in irgend einer nicht allzu fernen Zukunft. So wie ihm wird es bald auch dir ergehen.

Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe.

Selten habe ich mein Leben elendiger empfunden.
Und lange hinterher stand immer wieder eine Frage im imaginären Raum meiner stillen Gedanken: Warum er? Warum ich nicht? Eine Frage, die heute nur schwer verständlich erscheinen mag. Eine Frage, auf die es keine ‚vernünftige‘ Antwort gibt. Keine Antwort die erträglich ist.

Mitte der 1990er

Irgendwann konnte ich auch meiner eigenen HIV-Infektion nicht mehr so locker umgehen wie zu­vor viele Jahre lang. Ich ging regelmäßig zum Arzt, ließ Werte kontrol­lieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu lassen.

Doch das funktionierte irgendwann nicht mehr. HIV drängte sich noch weiter vor in mein Leben, nahm nun eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Ich erkrankte oft, vielfach an ‚harmlosen‘ Dingen, doch zu­nehmend häufiger, schwerer.

Bis mein Körper irgendwann ’nein‘ sagte, nicht mehr wollte. Ich wachte eines Morgens auf, im Krankenhaus, unter Sauerstoff. PcP – eine der Erkrankun­gen, die damals Horror-Gefühle bei jedem Positiven auslösten. Eines der untrüglichen Zeichen: nun ist es soweit.

HIV begann, mein Leben zu dominieren.

1996

„Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Die Worte des Arztes waren eindeutig. Und sie überraschten meinen Mann und nicht, nicht mehr. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten.
Mein eigener Horizont war immer enger geworden. Reichte nur mit großer Mühe noch über mich, mein kleines beschissenes Leben, das pure Über-Leben bis zum nächsten Morgen hinaus

Die maximale Eskalationsstufe schien erreicht. HIV hatte sich so massiv in mein Leben gedrängt, das kaum noch Raum für anderes war. HIV hatte mein Leben okkupiert. Zu einhundert Prozent. Es fraß mich auf.

Immer noch 1996

„Es gibt da ein neues Medikament. Noch nicht in Europa zugelassen, aber gute Studiendaten.“ We­nige Wochen später. Der Arzt kann mir zaghaft Hoffnung machen.
Einige Wochen, einige Probleme mit der Krankenkasse, einen Arztwechsel später: plötzlich macht es ‚peng‘. Plötzlich, einige Wochen nachdem ich mit der neuen ‚Kombi‘ begonnen hatte. Eines Tages merkte ich ‚da ist ja doch noch Leben in dir‘. Wachte auf, fühl­te mich. Fühlte mich – ein klein wenig kräftiger. Ein Wort, ein Gedanke, der mir sehr lange nicht mehr gekommen war.

Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer – aber er sagte: viel­leicht kannst du doch die Hoheit über dein Leben zurück gewinnen, zumindest für einige Wochen, einige schöne Tage noch.

In den 2000ern

Ein Auf und Ab folgte. Wirken die Pillen? Und wie lange? Wann versagen sie wieder? Trotz aller neuen Hoffnungen, HIV war immer da, ganz vorne im Bewusstsein. Die Drohung des Sterbens war immer präsent.

Mein Leben mit HIV, mit den Pillen ist zu dieser Zeit nicht immer einfach. Die eine Kombi macht so massive Neben­wirkungen, dass ich mich kaum ohne Unterhose zum Wechseln aus dem Haus traue. Die andere führt zu Taubheit an den Füßen, Neuropathien. Irgendwann werden die Arme und Beine immer dün­ner, Löcher schleichen sich ins Gesicht – Lipodystrophie.

Und doch: ich lebe. Und ich lebe zunehmend besser. Lerne mit Neben- und Wechselwirkungen um­zugehen. Therapiewechsel. Irgendwann auch Kombi-Therapien, die ich ruhigen Gewissens als ‚ver­träglich‘ empfinde.

HIV ist noch da, nimmt zuerst weiter einen sehr großen Raum in meinem Leben ein. Aber der Raum wird kleine. Schleichend reduziert sich der Einfluss, den HIV auf mein Leben hat, dem ich ihm gewähren muss.

Und doch – HIV und Aids haben Wunden hinterlassen in mir, die nur sehr langsam heilen (tun sie das?). Schmerzen, die immer wieder aufbrechen. Schaue ich (was ich vermeide) in alte Adressbücher, schreit mich eine Einsamkeit des Zurückgelassenen an. Erinnere ich mich an früher, an Menschen, die ich liebe, mit denen ich mich engagierte, die mich durch mein, durch unsere Leben begleiteten – ist da eine unendliche Traurigkeit. Leere.

2012

Inzwischen, und schon seit einigen Jahren, kann und soll Aids wieder weit weniger Raum in mei­nem Le­ben einnehmen, deutlich weniger. Ja, es gibt noch die täglichen Pillen, die dreimonatigen Arztbesu­che. Gelegentliche Positiventreffen. Meine Site ondamaris.

In meinem Fühlen, in dem was mich persönlich beschäftigt, nimmt Aids hingegen seit Jahren weni­ger Raum ein. HIV okkupiert nicht mehr mein Leben. Ich versuche, ihm ständig weniger Raum zu­zugestehen. Eine kleine, ganz private ‚Normalisierung‘.
Das Leben ist längst zurück gekehrt, mit all seinen Freuden, Banalitäten und Alltagssorgen.

HIV – ist noch da, und wird es wohl, so keine Wunder geschehen, auch mein Leben lang bleiben.
Aber HIV dominiert nicht mehr mein Leben. Ist ein Teil davon, ein kleiner. Bestimmt es nicht mehr.

Im Gegenteil, in den letzten Jahren verliert es an Bedeutung, für mich, in meinem Leben, wird HIV zunehmend – unwichtiger.

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Was ich mir für die Zukunft wünsche?
Dass HIV und Aids wieder dorthin verschwinden, wo sie hingehören: in die Bedeutungslosigkeit.
Hier, und überall auf der Welt, unabhängig von Industrialisierung oder ‚Wohlstand‘.
Und dass der Weg, die Menschen die diesen Weg gegangen sind, die diesen Weg nicht überlebt ha­ben, erinnert werden.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Geschichten haben für gewöhnlich ein Ende.
Auch die Geschichte von Aids.

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Diesen Text habe ich als Gast-Beitrag für den ‚Teilzeitblogger‚ verfasst, der ihn am 14. Mai 2012 veröffentlicht hat.
Übernommen hat den Text auch thinkoutsideyourbox.

Meine erste positive Nacht hab ich im Nachtzug verbracht …

Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt, doch das war der beschissenste…

Gleich vorweg, ich war überhaupt nicht überrascht, ich war körperlich bereits diffus angeschlagen, unerträglich schlapp, Nachtschweiss, die üblichen Symptome würde ich sagen.
Ich hatte auch noch andere Gründe eine HIV-Infektion zu befürchten, aber das soll hier nicht das Thema sein.

Schon die Sprechstundenhilfe verhielt sich komisch, mir schwante Übles. Ich kam auch sofort dran.
Meine Hausärztin fackelte auch nicht lange, kaum sass ich wurde Tacheles gesprochen. „Herr Zero, es tut mir leid, aber der HIV-Test war positiv!“

Als das Rauschen in meinen Ohren und die Gedankenflut ein wenig abebbten hörte ich sie immer noch sprechen „…es wäre völlig in Ordnung wenn Sie weinen würden.“ Doch ich hatte mich schon wieder gefangen, ich war ja einer von der harten Sorte.
Ich unterhielt mich noch kurz mit ihr über die Medikation, leierte ihr eine ungefähre Lebenserwartung aus dem Kreutz ( ca. 5-10 Jahre), erhielt eine Überweisung in’s UNI-Klinikum Eppendorf und wurde der Arzthelferin zur erneuten Blutabnahme übergeben.
Die war auch echt geschockt und war persönlich sehr berührt, was ich nutzte um ein paar paar sehr geschmacklose Bemerkungen über AIDS-Kranke zu machen, ich hoffe die Leser verzeihen mir.

Na ja letztlich verliess ich die Praxis dann und war erstmal platt.
Meine erste Amtshandlung bestand darin einen Joint zu rauchen, unten auf einer Bank zwischen Balduintreppe und den Landungsbrücken. In meinem Gehirn kämpften 2 Funktionen gegeneinander an, die fahle, kalte Erkenntnis sich zu weit vorgewagt zu haben einerseits und der wirre Versuch alle Sexual-Kontakte seit meinem letzten Test 2 oder 3 Jahre zuvor aufzuschlüsseln.

Und das war die Stimmung des Tages, ich hatte in meinem Leben viel riskiert, Kämpfe, illegaler Kram, was Jungs halt so machen und ich hatte allen immer Schnippchen geschlagen, stolze Männer zu Boden geschickt, die schönsten Frauen gehabt und der Justiz den Finger gezeigt und das satt und reichlich… und jetzt würde ich dafür sterben. Und mir wurde in dem Moment auch klar von wem ich „es“ hatte. Was sich Monate später bestätigte ahnte ich mit (wie man so schön sagt) an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Michelle hiess die Gute und sie hatte mich nicht nur angesteckt, sie hatte es sogar vorsätzlich und geplant gemacht. Aber das ist wieder eine andere Geschichte….

Und da ja leider jeder Denkprozess zu seinem Ende führt gab mir das Schicksal einen letzten Judaskuss mit. Ich hatte auch mit grosser Wahrscheinlichkeit jemanden angesteckt, meine Ex-Freundin, die jetzt in Belgien wohnte und von der ich seit 3 Monaten oder so getrennt war.

Der schlimmste Moment an meinem „ersten Tag“ war in einer Telefonzelle. Meine Ex hatte sich so über meinen Anruf gefreut, dachte dass wir wieder zusammenkommen würden, aber ich musste ihr leider sagen was Fakt war.

Dieses Telefonat war wohl der schlimmste Moment in meinem Leben, ich heulte Rotz und Wasser. Ein gebrochener Mann.

In dieser Nacht fuhr ich mit der Bahn nach Belgien, Brüssel, eine Stadt in der ich vieles erlebt hatte.
Meine erste positive Nacht hab ich im DB-Nachtzug verbracht.

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„Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt …“ ist ein Beitrag von ‚Zero‘ [Pseudonym; Verfasser der Redaktion persönlich bekannt] im Rahmen der ondamaris-Reihe „unsere Geschichte(n)“.
Zero ist 38 Jahre alt und lebt in Hamburg. Er weiß seit 2000 von seiner HIV-Infektion, ist seitdem unter Therapie und unter Nachweisgrenze.

Danke an Zero für den Beitrag !

Hoffnung, Teil 2

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: der zweite Teil einer zweiteiligen Geschichte von Michael Hemming, zu der er selbst anmerkt „zum Teil Fiktion, zum Teil sicher auch Realität“:

Ja er hatte auch schon einige Frauen kennen gelernt, die hatte er auf von den Datingseiten angeschrieben und hin und wieder kam es dann auch mal zu einem Kontakt. Er bevorzugte Datingseiten für Positive, da konnte er sich das erklären und das drum rum reden ersparen. Das was er immer irgend wie lustig fand waren die Namen die sich die Ladys gaben, Oceanqueen, Angel, She, Blueeye, Sonnenmeer usw. manchmal versuchte er aus den Namen Rückschlüsse auf die Person zu ziehen. Was ja seine Fantasie anregte aber was nicht wirklich irgendetwas über den Menschen hinter dem Namen aussagte. Es waren einige Kontakte dabei da stellte man sehr schnell fest dass das nie was geben würde weil man war so verschieden, es trennten einen Welten andere Kontakte waren einfach nur gut man konnte miteinander reden über alles was einem bedrückte und wieder andere das waren nach kurzer Zeit sehr intensive Gespräche, die vieles in einem auslösten und wieder Hoffnung machten dass da doch noch mehr ist als das was er bisher erlebt hatte. Nein bis jetzt hatte er die Hoffnung noch nicht verloren dass da draußen ein Mensch ist der zu ihm passte, mit dem er glücklich werden könnte, trotz all dem was er bisher an Tiefschlägen und Enttäuschungen erlebt hatte. Aber meistens blieben die Kontakte die er hatte nur eine virtuelle Vision. Also doch nur Träume. Und immer wieder musste er feststellen dass vorher alles viel viel einfacher war. Er ging raus, lernte jemanden kennen und man kam sich ab und zu mal näher, keine Gerede über irgendwelche Infektionen oder so was. Einfach nur Spaß haben und vielleicht auch mehr. Aber das hatte sich alles geändert, alles war neu und anders. Sogar die Frauen waren das. Viel komplizierter, nichts war mehr unbefangen, es gab da immer einen Haken. Dadurch dass diese Frauen auch sehr schlechte Erfahrung gemacht hatten fehlte ihnen das Vertrauen, was eigentlich notwendig ist um sich auf mehr als nur Gerede einzulassen. Das machte es nicht gerade leicht um ans Ziel seiner Träume zu kommen und das war nur ein Punkt von so vielen. Jeder wird vorsichtiger und sicher läuft man auch schneller weg, weil man will ja kein Risiko eingehen und wiedermal auf die Nase fallen. Also doch besser allein und sich sein Glück erträumen. Diese Selbstzweifel die immer wieder auf kamen, eine Ungewissheit, ein Wunsch, ein Traum aber bisher ist es immer nur ein Traum geblieben. Wie viele hatte er schon kennen gelernt die alle das gleiche suchten aber warum fragte er sich immer wieder wagte es keiner mal einen Schritt weiter zu gehen. Worauf warteten die denn alle, auf den Jungen auf dem weißen Pferd aber das hat Marius ja schon seiner Zeit gesungen der kommt nicht mehr da musst du schon selber gehen. Also geht doch auch endlich mal den ersten Schritt und sucht nicht immer nach Ausreden warum und wieso nicht. Aber eigentlich ist auch er nicht besser, er hat auch schon die unwahrscheinlichsten Ausreden benutzt um sich wieder mal zu verstecken um ja nicht mehr daraus werden zu lassen. Er war also auch nicht anders als all die anderen die sich da aufhielten um ihr Glück zu finden. Und doch zog es ihn immer wieder dort hin mit der Hoffnung doch mal das große Los zu ziehen, um das zu finden wovon er immer in der Zeit träumte wenn er wie so oft schon nur da lag und den Tag an sich vorbei ziehen ließ. Der Fernseher war eingeschaltet damit da eine Geräuschkulisse ist, dass vor lauter Stille nicht sein Kopf explodiert, was da gerade lief, war nicht wirklich wichtig für ihn, bunte Bilder und Geräusche halt. Und das war sein Leben, wenn er darüber mal so nachdachte, langweilig nicht wirklich prickelnd, es war eher so dass das Leben an ihm vorbei zog ohne dass er es eigentlich mitbekam geschweige denn überhaupt lebte. Sollte es etwa jetzt so bleiben bis zum Ende all seiner Tage, das war die Frage die er sich ständig stellte.
Und wieder saß er vor dem Rechner klickt sich auf irgendwelche Seiten, nur um seiner Einsamkeit zu entfliehen, um alte Bekannte zu treffen, um vielleicht neue Leute kennen zu lernen, um ein wenig zu reden, um das Gefühl zu haben das er doch nicht so allein ist. Obwohl er wusste das ist nur Augenwischerei, eine andere Art vor der Realität weg zu rennen. Aber was hatte er sonst noch, nichts. Das war das einzige was ihm noch geblieben ist. Und er stellte sich auch oft die Frage wen er dafür verantwortlich machen könnte, der Schuldige nein das wollte er nicht sein aber wen denn. Er war derjenige dem er das zu verdanken hatte, leider gab es da keinen anderen. Hätte er mal besser aufgepasst, sich geschützt dann würde sein Leben ganz normal weiter gehen, er hat es aber nicht und jetzt muss er dafür zahlen, so nannte er das dann. Das einzige was ihm da manchmal tröstete, es konnte jeden treffen auch wenn er es keinem wünschen würde aber warum gerade ihn. Immer wieder die gleichen Fragen, die gleichen Gedanken und immer wieder führten sie nur ins nichts. So verbrachte er seine Tage, alle liefen nach dem selben Schema ab, es gab keinen Tag was wirklich neues, aufregendes. Manchmal wünschte er sich das das alles vorbei wäre, einfach sterben und alles hat ein Ende. Danach dachte er kann es ja nur besser werden auch wenn er nicht wusste was danach eigentlich kommt oder ob da überhaupt was kommt. Einen Neuanfang das wäre es ohne Altlasten, alles hinschmeißen können und wieder ganz von vorne anfangen, Jungfräulich, das wäre es. Und was machte er, er lag auf seinem Sofa bis spät in die Nacht, damit er dann müde genug war um endlich schlafen zu können, ein paar Stunden ohne Gedanken oder Träume, einfach den Kopf leer zu haben. Und am nächsten Tag begann das gleiche Spiel wieder von vorne, jeder Tag war mehr oder weniger nur eine Wiederholung des vorherigen Tages und das schon jetzt sehr lange. Sein Tag beginnt jeden Tag gleich, Kaffee kochen und eine Zigarette, sein Frühstück und dann auf an den Rechner und da weiter machen wo er gestern aufgehört hat. Sein derzeitiges Leben und immer wieder die Hoffnung dass er es mal schafft aus diesem Leben auszubrechen.

Copyright dieses Textes: Michael Hemming
Vielen Dank an Michael Hemming für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Michael Hemmings Geschichte:
Hoffnung (Teil 1)
Hoffnung (Teil 2)

Hoffnung, Teil 1

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: der erste Teil einer zweiteiligen Geschichte von Michael Hemming, zu der er selbst anmerkt „zum Teil Fiktion, zum Teil sicher auch Realität“:

Wiedermal saß er vor seinem Rechner und sah sich in der großen Welt des Internets um, was suchte er eigentlich, klickte sich nur durch die Gegend, war mal hier, war mal da. War er ein Informationsjunkie oder war er nur neugierig und wollte alles wissen oder sah er sich nur Bilder an um seiner Fantasie Nahrung zu geben. Seine Lieblingsseiten waren diverse Foren und er war sehr gerne auf den diversen Datingseiten um neue Leute kennen zu lernen. Eigentlich war er ein ganz normaler junger Mann, leider ist das passiert mit dem er nie gerechnet hat, er wurde vor sehr langer Zeit als er im Krankenhaus war positiv getestet, damit hatte er nie gerechnet. Lungenkrebs ja, er war halt ein starker Raucher aber doch nicht so was, dabei gehörte er doch gar nicht zu den Leuten die nur durch die Betten gesprungen sind. Da war er doch ganz harmlos, ja er hatte hier und da mal eine Affaire oder auch Beziehungen aber das hielt sich doch in Grenzen. Als man ihm das damals sagte, das er positiv sei, wollte er sich das Leben nehmen, er sah alles nur noch düster/schwarz und hoffnungslos, was hatte er noch von seinem Leben zu erwarten. Nichts war plötzlich mehr so wie es davor war. Seine Freunde denen er das sagte was ihn da ereilt hat, haben sich alle langsam aber stetig von ihm getrennt. Keiner war plötzlich mehr da. Warum? Und wenn er dann draußen war und jemanden kennen lernte und dann versucht mehr als nur das Gespräch mit ihr zu führen war es auch ganz schnell vorbei wenn er vorsorglich sagte was mit ihm los war. Er hatte sich vorgenommen immer ehrlich zu sein aber das merkte er schnell führte zu nichts. Oder doch zu Enttäuschungen. Und mit der Zeit sah er alles nur noch schwarz und so hat er sich dann langsam aber immer mehr hinter seinem Rechner versteckt, da musste er wenn er andere Leute kennen lernte nicht erzählen was mit ihm los war. Man war ja anonym eigentlich man redete miteinander aber es war ja nur alles sehr oberflächlich. Auf der einen Seite fand er das gut, da er viele Leute kannte aber auf der anderen Seite fehlte ihm auch die persönliche Nähe, das zusammen sein. Aber er hatte lernen müssen das das persönliche plötzlich für ihn nicht mehr ging und so wurde es mit der Zeit halt unwichtig für ihn oder hatte er nur immer wieder die falschen Leute kennen gelernt. Und er hat sicherlich auch mit der Zeit den Mut verloren. Er kannte ja auch andere die damit keine Probleme hatten bei denen war alles wie vorher, die waren nicht so allein wie er, die hatten sogar eine Beziehung. Manchmal ertappte er sich wie er das alles hinter fragte und dann diese Aussagen bezweifelte das sie an sich so Glücklich sein sollten. Er konnte es sich nicht vorstellen dass er der Einzige war dem es so ging. Und eine Möglichkeit um aus diesem Kreislauf auszubrechen hat er bisher nicht gefunden und wirkliche Hilfe nein die fand er auch nicht. Er las die diversen Lebensratgeber, schön wie das alles geschrieben war und es klang auch immer sehr einfach das zu machen aber gebracht hat ihm das auch nichts. Also versteckte er sich weiter hinter dieser Kiste, da sah ihn niemand und keiner war da der ihm irgend welche dumme Sprüche sagte. So konnte er weiter in seiner Fantasiewelt leben. Er träumte sich seine Welt schön, aber es waren leider nur Träume. In seiner Fantasie hatte er das alles was ihm in der Realität fehlte, eine perfekte Beziehung, ein sorgenfreies Leben und er war auch immer glücklich. Nur sein richtiges Leben sah nur genau gegenteilig aus, keine Beziehung, Sorgen hatte er auch genug und glücklich nein das war er nicht wirklich. Alles nur eine Scheinwelt in der er lebte. Nichts war von seinem alten Leben übrig geblieben, es schien so als hätte ein neues Leben mit dem Tag dieser grauen vollen Information angefangen. Nur er konnte nicht davor weg rennen, so wie er es schon oft gemacht hatte in seinem Leben, es kam ja leider immer mit. Und so verbrachte er den größten Teil seines Tages damit im Netz nach irgend etwas zu suchen, wobei er noch nicht mal sagen konnte wo nach er suchte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war konnte er sich eigentlich schon nicht mehr vorstellen wirklich eine Beziehung zu führen, zu viele Eigenheiten hatte er sich in der Zeit seiner Einsamkeit angewöhnt, er hatte sich sein Leben so eingerichtet wie er es für gut hielt.

Copyright dieses Textes: Michael Hemming
Vielen Dank an Michael Hemming für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Michael Hemmings Geschichte:
Hoffnung (Teil 1)
Hoffnung (Teil 2)

Drei Engel

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 4): Drei Engel

Carola – war etwas ganz besonderes. Eines Tages fragte mich ein Gruppenfreund, ob wir nicht ein Caféprojekt für die Aidshilfe realisieren könnten – ich war sofort bereit, mitzumachen. Es gab bereits eine Projektgruppe in den Anfängen, die dabei war, Räume zu suchen und ich war von Anfang an mit Eifer dabei, alles zu planen und zu organisieren.

Jedenfalls fanden wir bald geeignete Räume in der Großgörschenstraße in Schöneberg – im Hochparterre gelegen – leider völlig heruntergekommen, so dass wir erst einmal kräftig renovieren mussten, bevor wir uns an die Einrichtung machen konnten. Viel Geld hatten wir auch nicht zur Verfügung, so dass wir mit sehr bescheidenen Mitteln uns Farbe besorgten und ans Werk gingen.

Eines Tages kam eine junge Frau herein – Typ „Uschi Glas“ – zierlich und mit munteren braunen Augen – ein Wuschelkopf voller Dauerwellen – auf den ersten Blick hielt ich sie für eine Hausfrau aus der Nachbarschaft. Sie stellte sich als Carola vor und machte sich tatkräftig ans Werk, uns zu unterstützen. Ihre Energie schien unerschöpflich. Carola war genau die Richtige, Menschen zu begeistern und auch anzuziehen – ihre Donnerstagabende mit Rainer-Bülowstraße unter dem Motto „Zur goldenen Rosette“ waren legendär. Im großen Raum des Cafés hatten wir die mittlere Deckenrosette plüschig mit Blattgold angestrichen – die Möbel waren gespendete ausrangierte Polstermöbel. Carola und Rainer untermalten die biedere Atmosphäre noch mit Pop und Rock aus den 70er Jahren – Marianne Rosenberg, Hanne Haller, um nur einige zu nennen und wir waren irgendwie in einer Stimmung, wie ich sie mir ähnlich auch auf der Titanic vorgestellt hatte. Wenn ich damals gewusst hätte, wie schnell unsere Hochstimmung wieder verfliegen würde.

Rainer aus der Bülowstrasse war damals nur noch kurz mit von der Partie – sein Traum war, noch einige Zeit in Amsterdam zu verbringen und er war damals gerade fleißig dabei, holländisch zu lernen. Er hat es dann ein Jahr später auch tatsächlich realisiert und ich habe ihn dann anlässlich von Wohnmobilreisen auch zwei oder dreimal in Amsterdam besucht. Er hatte auch seinen Hundetraum verwirklicht und sich damals bei einem Züchter einen wunderschönen kräftigen Berner Sennenhund ausgesucht. Rainer wohnte damals am Stadtrand in einer Sozialwohnung in „Kraiennest“ – wunderschön im Grünen gelegen und er war begeistert, dass er in einer Stunde mit der Bahn am Strand von Zandvoort sein konnte. Ich erinnere mich, dass wir uns dann während dieser Zeit auch einmal in Spanien zum gemeinsamen Urlaub mit den Hunden verabredet hatten. Damals hatte ich Freunde in der Nähe von Alicante, die sich dort eine kleine Bungalowanlage in Strandnähe aufgebaut hatten und sich rührend um ihre deutschen Gäste kümmerten. Barbara – eine Berlinerin und Rafael – ein feuriger Andalusier – beide um die 60 Jahre alt und gerade frisch berentet. Jedenfalls hatten wir dort zwei nebeneinander stehende Bungalows direkt mit Blick auf den Swimmingpool gemietet und Rainers Mutter, die damals in Süddeutschland lebte, hatte Stellung in einem noblen Strandhotel bezogen, wo wir sie dann auch öfters zu gemeinsamen Ausflügen abholten. Für unsere damaligen Verhältnisse war das eine schöne und entspannte Zeit – für mich auch jedes Mal ein Aufatmen nach den anstrengenden Monaten zuvor in Berlin. In Spanien hatten wir Meer und Berge satt, so dass wir mit den Hunden jeden Abend ausgepowert von unseren Ausflügen in die Anlage zurück kamen, wo uns Barbara und Rafael dann meistens am Grill mit selbst gemachter Riesenpaella und Sangria verwöhnten. Ich erinnere mich auch an die Panik, als eines Nachts eine verirrte El-Al-Frachtmaschine aus Israel in den Nachbarwohnblock stürzte und ich Rainer stundenlang versuchte telefonisch zu erreichen bis dann endlich die erlösende Nachricht kam, dass es ihm gut ginge. Unvergessener Rainer – eine Kerze die an zwei Enden lichterloh brannte, wie er öfters selbstironisch erwähnte.

Carola jedenfalls blieb mit uns zurück in Berlin, wo sie auch, so gut es ging, den Donnerstagabend ohne Rainer aufrecht hielt. In diesen Jahren habe ich mehrmals mit Carola einen Umzug mitgemacht – von Kreuzberg nach Steglitz, nach Moabit und – dann noch mal nach Steglitz, wo sie ihre 3 letzten Monate im Hospiz des Auguste – Viktoria – Krankenhaus verbrachte.

Carola, die zähe lebenslustige Mitstreiterin verlor von einem Tag zum nächsten ihr Gedächtnis – das heißt, sie wusste zwar noch wer sie war, aber konnte sich nichts mehr merken und bekam keinen roten Faden mehr in ihre Gedanken. Leider habe ich inzwischen vergessen (verdrängt?) welche opportunistische Infektion nun genau diesen Zustand hervorgerufen hatte – jedenfalls hatte sie eine fast vollständige Amnesie und ich teilte mir mit Reinhard die Wache an ihrem Bett – zuerst im Haupthaus des AVK – danach im dazugehörigen Hospiz in der Leonorenstraße in Lankwitz. Allerdings waren in den letzten Wochen auch zum Teil ihre in Süddeutschland und Hamburg wohnenden Familienangehörigen angereist, so dass wir uns ständig an ihrem Krankenbett die Klinke in die Hand gaben. Sie sah rein optisch aus wie das blühende Leben und es kam mir so vor, als wenn eine wunderschöne Orchidee ihren Lebenshauch verlor. Sie, die uns immer mit ihrer Lebensfreude und ihrer Kraft angesteckt hatte, lag nun mit ausdruckslosem Blick und kämpfte mit dem Leben. Und wie sie kämpfte. Sie musste ein unglaublich gutes und gesundes Herz gehabt haben, da ich mich erinnere, dass sie wochenlang trotz abgeschalteter Geräte noch wach und am Leben blieb.

Heute erinnere ich mich meist an sie, wenn ich im Café Positiv – nunmehr in der Bülowstrasse angesiedelt, ihr dort angebrachtes Foto – wo sie mit einem bunten Pagagei zusammen abgelichtet ist, anschauen kann. Unvergessene geliebte Carola.

Sabine Lange – liebe, liebe Sabine. Unser Engel. Engel der Aidskranken wurde sie mit Fug und Recht genannt. Unvergessene Sabine – die so vielen Kranken und Verzweifelten Trost und Mut zusprach – immerzu tatkräftig an ungezählten Krankenbetten selbstlos Hilfe leistete – bis es sie selbst traf und sie Mitte 1990 ein schnellwachsender bösartiger Tumor aus dem bis zuletzt aktiven Leben riss.

Ich lernte Sabine 1985 im Tropeninstitut Berlin kennen, wo sie als Krankenschwester bereits seit Jahren durch ihre sehr einfühlsame und mitmenschliche Art so etwas wie eine Institution war. Sie wurde von der damals einsetzenden Welle von zum HIV-Test eilenden Menschen ebenso überrollt wie die beratenden Ärzte und Ärztinnen im Tropeninstitut. Da der Test dort kostenlos – und anonym – durchgeführt wurde, zogen es viele aus den Betroffenengruppen vor, statt beim Arzt, die ersten Tests im Tropeninstitut durchführen zu lassen.

Sabine hatte eine so unnachahmlich feinfühlige Art, die zum Test gehörigen Fragen zu stellen, so dass sich jeder sofort zu ihr hingezogen fühlen musste und sich erst gar kein peinliches Gefühl einstellen konnte. Es wurde damals auch danach gefragt, wie eine mögliche Ansteckung erfolgt sein könnte und ihr vertraute man gerne das nötige an.

Sabine lernte ich aber erst persönlich kennen, als wir uns immer wieder in den diversen Krankenhäusern über den Weg liefen wo sie, neben ihrer unermüdlichen hauptamtlichen Arbeit als Streetworkerin für HIV-Aufklärung, Krankenbesuche machte. Sie kannte so viele Betroffene persönlich, die damals zu Tausenden in den Berliner Krankenhäusern lagen und fühlte sich für jeden einzelnen verantwortlich. Wenn wir uns begegneten, zog sie mich auf eine Bank, nahm meine Hand und ich war immer wieder aufs neue fasziniert wie lebhaft sie an allen Details meiner Interessen teilnahm – sei es nun das Projekt Café Positiv oder auch die Krankenbetreuung – wir zogen beide an einem Strang. Sie hatte so was liebevolles in ihrer Art, dass ich immer total beglückt war, wenn ich sie traf und wenn wir auch oft nicht länger als eine Viertelstunde miteinander hatten – es war etwas besonderes an ihr und das vermittelte sie jedem der mit ihr zu tun hatte. Bei Sitzungen und Tagungen, z.B. bei der Berliner Aids-Hilfe, wo sie auch, wenn immer möglich anwesend war, wurde ihre fachliche und sachliche Kompetenz immer gefragt und anerkannt.

Später dann zu sehen, wie sie immer weniger wurde durch ihre eigene Krankheit – und immer noch zu den Kranken eilte – das tat weh und dennoch gehörte es zu ihrem Leben, denn das war ihr Leben.

So habe ich oft erlebt, dass sie die Kranken noch mit ihrem fachlichen Wissen betreute – so nebenbei noch etwas zu essen kochte – oder selbstgekochtes von zu Hause mitbrachte, deren Wohnung schnell aufräumte und so gut es ging saubermachte. Heute noch ist es mir fast unvorstellbar, wo sie die Energie für alles aufbrachte. Und – bitte nicht falsch verstehen – sie hat um ihre Arbeit nie großes Gewese gemacht – es war selbstverständlich für sie zu helfen und sie wollte dafür keinen Dank und keine Ehrung. Den Verdienstorden des Landes Berlin, den sie 1988 für ihre Arbeit erhielt, nahm sie eher widerwillig denn freudig an – dafür war sie viel zu bescheiden. Aber diesen Orden hat sie wahrlich verdient – alle die sie kannten, werden das bestätigen. Sabine – liebe Sabine – ich denke an Dich – wir werden uns ganz sicher wieder begegnen.

Dr. Gerd Bauer war ebenfalls ein Engel der Aidskranken. Er hat so vielen Menschen in einer Zeit der Panik und Mutlosigkeit Trost und Zuspruch gegeben. Aber er war auch unerschrocken in seinem Kampf mit den Kranken – gegen die starre und teilweise unmenschliche Bürokratie. Eine Bürokratie der Krankenkassen, Versorgungsämter und Rentenanstalten, denen die er mit Zivilcourage und Unerschrockenheit widersprach und zuwiderhandelte. Man muss sich das heute mal vorstellen: in den chaotischen ersten Jahren von Aids starben die betroffenen Menschen wie die Fliegen – die das Leben etwas erleichternden Maßnahmen wie „Erteilung der Schwerbehinderung“, Rentengewährung usw. traten oft erst in Kraft oder wurden erst dann gewährt, wenn viele der Betroffenen bereits im Sarg lagen und nichts mehr von diesen Leistungen in Anspruch nehmen konnten.

Unerträglich für einen humanistisch denkenden Menschen wie Dr. Bauer. Er hat sehr vielen Kranken in ihrem Kampf gegen Behördenwillkür selbstlos beigestanden – leider ist auch er inzwischen einem Krebsleiden erlegen. Einer seiner damaligen Mitstreiter – ein junger Arzt in seiner damaligen Praxis am Kaiserdamm hat die Nachfolge seiner späteren Praxis an den Osramhöfen in der Seestraße bereits seit einigen Jahren in seinem Sinne übernommen. Ein wahres Glück für die Betroffenen, da es leider auch heute nicht alle der HIV-niedergelassenen Schwerpunktärzte wagen, im Zweifelsfalle den zaudernden Behörden Paroli zu bieten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Zum Glück hat sich aber das Klima doch inzwischen zu Gunsten der Betroffenen gewandelt, so dass die Zahl der Einsprüche gegen Behördenwillkür sichtbar gesunken ist.

Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel

Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 3): Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe

Johannes – mein inzwischen liebgewonnener Freund mit den schwarzen Locken wurde von Monat zu Monat immer schwächer und hinfälliger. Wenn wir beide alleine waren, erzählte er mir von seinen Depressionen und ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen, dass wir alle in Kürze sterben müssten. Da ich immer der Ansicht bin, dass es so etwas wie Wunder gibt, widersprach ich ihm jedes Mal und versuchte ihm Mut zu machen so gut es ging. Er schlief oft bei mir oder ich bei ihm – wir hielten uns aneinander fest wie Ertrinkende – er konnte nicht mehr alleine leben – irgendwie verstand ich das auch bei seinen Ängsten. Er lebte noch 3 Jahre und verbrachte die letzten Monate seines Lebens auf dem Hausboot einer Freundin im Lauenburger Raum, so dass wir uns nur noch selten sehen konnten. Aber er liebte die Natur so sehr und war ihr dort nahe – und – er musste sich nicht täglich mit dem fortwährenden Sterben um uns herum auseinandersetzen – er konnte es einfach nicht mehr – hatte keine Kraft mehr.

Beerdigungen waren zu dieser Zeit en Vogue – fast wöchentlich – manchmal täglich ging ich zu einer Trauerfeier, die in meinem Freundeskreis anfielen. Da es meistens junge Menschen betraf, die wussten, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten und entsprechend vorgeplant hatten, handelte es sich immer um kleine oder größere Inszenierungen – manche außergewöhnlich und eher an Feste, denn an Trauerfeiern erinnernd. Meistens wurde – im Gegensatz zu den Beerdigungen von Großeltern und Verwandten, die ich erlebt hatte – die Lieblingsmusik der betroffenen Freunde in der Trauerhalle aufgelegt – manche baten darum, dass wir alle in weißer Kleidung mit einer weißen Rose zur Feier kamen……

Einer unserer Freunde, der auch beim Caféprojekt kurz mitgemacht hatte, er nannte sich Napoleon, besorgte sich noch zu Lebzeiten seinen Sarg, den er in seiner Wohnung aufbahrte – er kokettierte allerdings sehr oft – mir fast zu oft – mit seinem in Kürze zu erwartenden Ableben – lebte aber glücklicherweise noch weitere zehn Jahre. Irgendwie verstand ich ihn – und dann wieder auch nicht. Aber jeder hat das Recht, seine eigene Trauer seiner eigenen Art gemäß zu leben – und er war halt so.

Heinz war der Älteste in unserer Gruppe aus der Nachodstraße in Schöneberg – er musste damals bereits Ende 40 gewesen sein – sah jedoch durch seine weißen Haare schon etwas älter und reifer aus. Er war ein freundlicher Mann – Typ väterlicher Freund, der unablässig seinen kranken Zustand beklagte und es verstand, uns alle gleichzeitig auf Trab zu halten. Er hatte bereits beim bekannt werden seiner Infektion durch eine Serie von Vorerkrankungen bei den Behörden alles beantragt, was damals nur möglich war. Er war durch ein Notrufsystem ständig mit dem Deutschen Roten Kreuz verbunden und hatte als erster einen komplett funktionierenden Hauspflegedienst im Einsatz, der täglich seine Wohnung versorgte und auch für seine Pflege zuständig war. Den Schwerbehindertenausweis hatte er auch bereits seit Jahren erhalten, sowie die Übernahme von Telefon und Fernsehgebühren. Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln samt Begleitperson waren auch genehmigt – seine Wohnung hatte er mit Behörden- und Krankenkassenhilfe längst rollstuhlgerecht umbauen lassen. Da er jedoch gerne quengelte, hielt es kein Hauspflegedienst lange bei ihm aus – die neuen Pfleger und Pflegerinnen gaben sich fast täglich wechselnd die Klinke in die Hand. Interimsmäßig waren wir es bereits gewöhnt, bei ihm einspringen zu müssen – hatte er mal alle Pflege am Tage gehabt und ihm fiel dennoch meist etwas ein – musste sein Fernseher herhalten uns hinzubitten, denn da fiel die Programmierung immer bei Stromausfall aus – er konnte dann keine Programme mehr speichern. Wenn er nicht fernsehen konnte, hielt er uns per Telefonkommandos in Atem und so fuhr einer von uns meist schnell mal hin und stellte ihm seine Programme wieder so ein, dass er schauen konnte. Mehr als einer von uns hatte den heimlichen Verdacht, dass er bei Langeweile auch mal an der Sicherung drehte – weil er wusste, dass er dann wieder einen Grund hatte, uns schnell wieder herbeizurufen. Wir registrierten das jedoch mit einem Schmunzeln, denn trotz seiner ständigen Quengeleien hatten wir ihn recht gern gehabt.

Unvergessen sind seine Hilferufe – er wäre gerade heute sterbenskrank und bräuchte sofortige Hilfe. Eines Tages – so ein Hilferuf hatte mich mal wieder tagsüber im Büro erreicht und ich konnte gerade nicht sofort weg – von meinem Arbeitsplatz aus benötigte ich 15 Minuten – er hatte mir gerade mit ersterbender Stimme erklärt, dass es nun bald soweit sei und er sich überhaupt nicht mehr bewegen könne. Eine halbe Stunde später musste ich dienstlich außer Haus und sah Heinz am U-Bahnhof Spichernstraße im Ausgehanzug mit flottem Hut auf dem Kopf beschwingten Schrittes auf den U-Bahnhofeingang zusteuern. Ich glaubte erst mal an eine Fata Morgana – bis seine vorher am Telefon fast erloschene Stimme nun wieder erstaunlich kräftig wissen ließ, dass es ihm erstaunlicherweise danach wieder einigermaßen gegangen wäre und er nun zu einer Verabredung gehen könne. Nach diesem Vorfall hatte ich Mühe, bei neuerlichen Hilferufen ernst zu bleiben – bin aber dennoch meistens geeilt, da es ja auch mal tatsächlich nötig sein konnte. Heinz lebte noch 4 Jahre und ich habe, als er tatsächlich auf dem Sterbebett lag, die Lage zum ersten Mal falsch eingeschätzt. Da er in den Jahren zuvor so oft sein zu erwartendes Ableben erstaunlich real telefonisch beschrieben hatte, übersah ich dann die Zeichen, dass er nun wirklich schwächer wurde und war total bestürzt, als er dann tatsächlich endgültig eingeschlafen war. Ich werde ihn ganz sicher nie vergessen und habe ihm natürlich gerne die kleinen Mogeleien verziehen. Er hatte übrigens schon Jahre vor seinem Tode ein Grab auf dem Friedhof Westend gekauft und saß des öfteren dort auf einer Bank und trauerte über seine Lage und das konnte ich dann tatsächlich auch gut verstehen. Er ist der einzige aus meiner Gruppe, der eine Videoaufzeichnung für seine Familie hinterlassen hatte – ich habe sie damals für ihn realisiert und bis heute noch aufgehoben, da es doch ein sehr lebendige Erinnerung an ihn ist – wenn ich auch die Aufzeichnung zu diesem Zeitpunkt doch als verfrüht empfand – er lebte danach glücklicherweise noch einige Jahre.

Reinhard lernte ich im Café Positiv kennen – ein schlanker, blonder, gut aussehender junger Mann, der – wie ich – ebenfalls einen Bobtail besaß. Allerdings war sein Rüde im Gegensatz zu meiner Hündin ein Riese – er wog um die 80 Kilo hatte aber glücklicherweise das liebenswerte Gemüt eines Kleinkindes – ein seltsamer Kontrast. Über die Hunde fanden wir dann auch immer häufiger Gelegenheit, uns zu treffen, so dass wir auch gelegentlich mal mit den Hunden auf Reisen gingen. Reinhard hatte eine schwermütige Art – ich denke, dass das nicht ausschließlich mit seiner Infektion zu tun hatte. Sein Hauptproblem war – wie bei vielen von uns – dass er nur schlecht zuhause alleine sein konnte. Unsere Treffen waren auch oft durch unsere Arbeit als Betreiber des Café Positiv bedingt – im Laufe der Zeit jedoch wurde daraus eine nette Freundschaft, die sich auch weiter vertiefte, als ich für meinen Teil das Betreiberkollektiv verlassen hatte, weil mir die Begleitung von sterbenden Freunden doch zu diesem Zeitpunkt wichtiger schien. Er war von Beruf Krankenpfleger und hatte sich in den letzten Jahren mit einem Job als Altenpfleger bei einer Pflegestation noch etwas zu seiner Rente hinzuverdient. Manchmal nahm er mich auf seiner Tour mit und ich bewunderte seine liebevolle und fachlich ausgezeichnete Art, mit seinen Patienten umzugehen. Später haben wir uns oft bei der Betreuung von Freunden abgewechselt, wenn diese bettlägerig wurden oder ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.

Nach ungefähr 5 Jahren unserer gemeinsamen Arbeit wurde Reinhard zusehends depressiver, wobei ein Grund war, dass sein Hund an Nierenkrebs erkrankte und er leider auch mit bester tierärztlicher Hilfe nicht zu retten war. Wir waren damals oft zusammen in der Charité, wo es eine ausgezeichnete Veterinärmedizinische Ambulanz gab. Hinzu kamen Probleme mit einer unerwiderten Liebesbeziehung, was ihm zusätzlich sehr zu schaffen machte. Er mietete dann für ein Jahr mit einem Bekannten zusammen eine Wohnung in Valencia/Spanien – wo er aber dann leider nur zweimal für kurze Zeit war – er fand nirgendwo so richtig Ruhe. Jedenfalls – ich war im März 1996 gerade nach Spanien gezogen, als mich die Nachricht erreichte, dass Reinhard sich umgebracht hatte. Kurz zuvor bekam ich von Reinhard einen Brief, wo er mir schrieb, dass er einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen habe, er aber noch rechtzeitig gefunden wurde.

Später erfuhr ich dann, dass der Arzt im Krankenhaus, wo er nach dem Suizidversuch eingeliefert worden war nach wenigen Tagen mit seiner Entlassung einverstanden war und er lediglich das Versprechen abgeben musste, es nicht noch einmal zu versuchen. Reinhard fuhr direkt vom Urbankrankenhaus in Kreuzberg mit der U-Bahn Linie 6 nach Hause – wo er sich dann am U-Bahnhof Flughafen Tempelhof vor eine einfahrende U-Bahn stürzte. Seinen letzten Brief habe ich bis heute aufgehoben und bis heute habe ich noch das Gefühl versagt zu haben – auch wenn wir vor meiner Abreise nach Spanien einige Gespräche hatten, wo ich ihm gesagt hatte, wie sehr ich mich freuen würde, wenn er baldmöglichst mit nach Spanien kommen könne – Platz genug wäre für ihn da gewesen. Es sollte nicht sein.

Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel

Stress im Krankenhaus

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 2): Stress im Krankenhaus

Peter, der an diesem Abend den Satz mit „Komm setz Dich zu uns auf die Totenbank“ ausgesprochen hatte – ein sehr liebenswerter, gebildeter und kulturinteressierter Mensch – ehemaliger Beamter beim Innensenat, konnte ich noch bis zum März 1987 oft in unserer Gruppe treffen und mit fortschreitender Immunschwäche dann auch zuhause besuchen. Seine 80-jährige, in Hannover lebende Mutter kam so oft es eben ging nach Berlin in seine Wohnung in der Friedrichstraße. Sie strahlte eine so lebensbejahende ruhige Gelassenheit aus, dass man sich in ihrer Nähe sofort gut fühlte. Ich gönnte es Peter sehr, dass er seine geliebte Mama bis zuletzt in seiner Nähe haben durfte – sie war es auch, die seine Hand bis zum letzten Augenblick streichelte und festhielt. Ich war damals sehr traurig und niedergeschlagen, als ich dann in meinem Wagen nachts nach seinem Ableben vom Krankenhaus nach Hause fuhr – wissend, dass diese liebe ältere Dame nun alleine im Leben zurückblieb. Peter hatte es nun überstanden – seine Mutter musste nun mit ihrem Alleinsein zurechtkommen – so dachte ich damals sicher nicht ganz zu unrecht. Peter war ein großes Vorbild für mich, klaglos seine schwere Krankheit zu ertragen – immer gelassen und mit einem sanften Lächeln. Ich werde ihn sicherlich nie vergessen.

Aber erst einmal hatten wir in unserer Gruppe zusammen noch eine halbwegs schöne Zeit zusammen – so makaber sich das auch anhören mag. Wenn wir uns an unseren Gruppenabenden trafen, tranken wir zusammen Tee – irgendjemand hatte meistens Kuchen oder Kekse organisiert und wir redeten dann über alle anfallenden Themen – nicht ausschließlich über Krankheit, Sterben und Tod, obwohl diese Themen fast zwangsläufig großen Raum einnahmen. Fast wöchentlich starb jemand aus unserem Kreis, der trotz allem immer größer zu werden schien. Oft waren wir inzwischen an die 20 Personen, die sich nach wie vor zweimal die Woche abends zum Gedankenaustausch trafen – einzig und alleine privat organisiert – weitergeleitet durch die völlig überlastete Aidshilfe. Meine Zeit war erfüllt und ausgefüllt durch die tägliche Arbeit im Büro – Telefonate dazwischen, die sich um Pflegedienste, Aidshilfe, Hilfsanträge bei den Behörden drehten – sowie nach der Bürozeit Besuche in diversen Krankenhäusern, sowie bei Schwerkranken zu Hause. Trotz allem war das eine Zeit, die durch gefühlte Solidarität durchaus nicht unglücklich war – ich fühlte mich Eins mit den vielen neu gewonnenen Freunden. Absurd war, dass mein eigentlicher Freundeskreis glücklicherweise kaum betroffen zu sein schien – was sich bis heute so fortsetzt. Aber das sei hier nur am Rande erwähnt. Wichtig war jedoch, dass fast alle Freunde, ebenso wie meine Geschwister, von Anfang an liebevoll und unerschrocken mit mir umgingen und mir dadurch Kraft und Mut vermittelten. Hierzu gehören auch meine frühzeitig eingeweihten Kollegen vom Theater der Freien Volksbühne, insbesondere Hans Neuenfels, der damalige Intendant, sowie seine Frau, Elisabeth Trissenaar, die um die Ecke meiner damaligen Wohnung in der Pestalozzistraße wohnten und mich bei jedem Treffen liebevoll nach meinem Befinden fragten. Ebenso super verhielt sich der damalige Verwaltungsdirektor, Dr. Werner Obermeit, der mir immer das Gefühl vermittelte, weiter dazuzugehören und auch noch nach meinem Ausscheiden vom Theater weiter zu mir hielt. Ich erinnere mich, dass er – später am Schiller – Theater arbeitend, morgens, wenn ich mit Max, dem Bobtail, die Schlüterstraße entlang ging, mit quietschenden Reifen anhielt, um mir einen guten Morgen zu wünschen – ein ungewöhnlich liebenswerter Mensch. Leider ist er auch inzwischen nicht mehr am Leben.

Eines Abends fand eine Informationsveranstaltung eines Professors vom damaligen Virchow-Klinikum, Herrn Prof. Dr. Pohle bei der BerlinerAids-Hilfe statt, zu der wir in Scharen gekommen waren. Wir hatten damals bereits einige Freunde im Virchow-Krankenhaus die dort stationär lagen und um die wir uns kümmerten. Damals gab es eine neue HIV-Station auf dem Virchow – Gelände, Station „S“ – das „S“ stand für Seuche – gemäß der damaligen Ideologie, die in vielen Köpfen herrschte – ausgrenzen, absondern (ausmerzen??).

Aber die Vorstufe von Station „S“ war der Zustand, dass schwerkranke HIV-Patienten mit anderen Kranken zusammen in den Zimmern gemischt gelegt wurden – in der damaligen aufgeheizten Panikstimmung stellte sich das als Zumutung für die betroffenen Aids-Kranken heraus. Wir erlebten beispielsweise, dass todgeweihte und sterbende Patienten von Mitpatienten und ihren Besuchern regelrecht angemacht wurden. Nun mussten sie auch noch zu ihren körperlichen Leiden psychischen Stress in ihrer ohnehin nicht gerade passablen Lebenssituation aushalten. Sie mussten sich dafür rechtfertigen, dass sie ansteckend waren und wurden auch oft gefragt, wieso sie sich überhaupt hatten anstecken können. Ich drücke das hier bewusst neutral aus, obwohl es damals oft sehr unsachliche Auseinandersetzungen gab.

Damals wurde in fast allen Berliner Krankenhäusern die Besuchsregelung sehr locker gehandhabt – glücklicherweise, denn der Kontakt nach draußen war damals wie heute für die Betroffenen sehr wichtig und aufbauend. Im Virchow war das anders – ich erinnere mich daran, dass Punkt Besuchszeitanfang eine Glastür aufgeschlossen wurde – und Punkt Besuchende man von murrenden Pflegekräften schleunigst wieder hinausgeschoben wurde.

Das war unabhängig vom Zustand der Betroffenen – oft lagen sie alleine und im Sterben und es war nicht möglich, bei ihnen zu bleiben oder gar für die Partner, bei ihnen im Zimmer übernachten zu dürfen.

Die Negativerlebnisse im Virchow häuften sich derart, dass wir anfingen, in unseren sogenannten „Positivengruppen“ vor dem Virchow zu warnen. Wer es noch selbst in der Hand hatte, ließ sich damals ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus einliefern – das damals bereits mit seiner Station 30 vorbildlich war. Das Personal dort war gleich von Anfang an unter Professor Arastéh speziell auf die Bedürfnisse von HIV-Kranken ausgewählt und ausgebildet worden, so das auch die psychosoziale Betreuung neben der pflegerischen vorbildlich war.

Jedenfalls war ich extra zu dieser Informationsveranstaltung gegangen, mit der Absicht, den damaligen Leiter der Infektionsabteilung – zuständig auch für die Benennung und Einrichtung von Station „S“ – auf die Zustände in seiner Station anzusprechen.

Die Veranstaltung selbst verlief ruhig und problemlos – der Professor hielt seinen Vortrag sachlich und sicher auch fachlich einwandfrei. Er war damals eine Koryphäe auf dem Gebiet der klinischen Aids-Forschung.

Nachdem der Vortrag zu Ende war, ging ich aufs Podium und sprach den Professor auf die vorgenannten Zustände an und war einigermaßen sprachlos. Dieser so fachlich ausgezeichnet bewanderte Arzt wurde offensichtlich total überrascht, so dass er mir schon fast wieder leid tat. Nach einem Moment betretenen Schweigens über meine Dreistigkeit, ihn wegen solcher profanen Dinge anzusprechen, wiegelte er erst einmal ab und war auch sicher nicht erfreut, da ich offen aussprach, dass wir – die Betroffenen, offensichtlich unsere Mitfreunde vor dem Klinikum Virchow warnten. Um es kurz zu sagen – die Station „S“ behielt zwar in den nächsten Jahren ihren Namen, aber die Besuchszeiten wurden kurz darauf und in Zukunft großzügiger gehandhabt. Aber dennoch zogen es auch zukünftig immer mehr Betroffene vor, sich im AVK behandeln zu lassen – den schlechten Ruf hatte sich das Virchow – leider – über Jahre weiter bewahrt.

Reinhold gehörte auch zu unserer Gruppe – leider war es uns nur noch kurz beschieden, ihn bei uns haben zu dürfen. Er war – trotz fortgeschrittenen Stadiums der Infektion immer noch ein gut aussehender, stattlicher Mann Ende 30 – immer ein spitzbübisches Grinsen im Gesicht. Wie er mit seiner Krankheit umgegangen ist, fand ich fast unglaublich. Nie hörte ihn jemand jammern oder klagen – er fand in allen und allem etwas nettes. Seine Kommentare waren meist komisch heiter. Alle mochten ihn ausgesprochen gerne. Zunehmend fiel im das Laufen schwer, so dass er fast alle Wege, die er zu erledigen hatte, mit seinem Wagen fuhr. Er wohnte am Südstern in Kreuzberg. Eines Tages erzählte er so nebenbei, dass er sich heute mal wieder was nettes gegönnt habe – er konnte sich inzwischen kaum noch aufrichten – sein Gang war zähflüssig langsam und schleppend geworden, als wenn er eine große Last zu tragen habe – das hatte er natürlich auch….. Jedenfalls liebte er es in guten Tagen, in der Schlemmerabteilung des KaDeWe sich etwas zu gönnen und so war er wohl an diesem Tage – im Liegesitz, da er nicht mehr richtig aufrecht sitzen konnte zum KaDeWe gefahren – und hatte sich – irgendwie vom Parkhaus ins Kaufhaus rübergeschleppt, wo er es sich bei Austern und Champagner hatte gut gehen lassen. Er erzählte das immer noch freudig erregt, dass er es sich kräftemäßig immer noch leistete, sozusagen bereits auf dem Sterbebett ins KaDeWe zum Schlemmen zu fahren – ich fand das einfach Klasse. Er gehört mit zu den Vorbildern, wie man auch mit schwerster Krankheit umgehen kann.

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Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel

Die ‚Totenbank‘

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 1): Die ‚Totenbank‘

Diese Zeilen schrieb ich auf, weil ich befürchte, sonst zu vergessen – für meine Geschwister, für meine Freunde und ebenfalls für alle weiteren ungenannten, die in den letzten Jahren uneingeschränkt zu mir standen und zu mir hielten – denen ich allen danken möchte für Ihre Freundschaft und Solidarität

Jürgen wohnte in Schöneberg in der Feurigstrasse in einem dunklen Hinterhaus. Das Treppenhaus war so niedrig, dass ich nur mit eingezogenem Kopf die Treppen hinaufgehen konnte. Nach meinem Klingeln öffnete Jürgen, ein schlaksiger junger Mann. Ich hatte von der Deutschen Aidshilfe, bei der ich mich im September 1986 informiert hatte, die Telefonnummer von ihm erhalten. Er führte mich durch einen langen Korridor ins Wohnzimmer, wo sich an der hinteren Stirnseite eine mit schwarzem Leder bezogene Holzbank befand, auf der bereits 3 Männer Platz genommen hatten. Noch vor der eigentlichen Begrüßung rief einer der Männer, der letztendlich nur aus Haut und Knochen bestand: „Setz Dich man zu uns hier auf die Totenbank“. Sein Gesichtsausdruck war gutmütig – freundlich und ich spürte sofort Sympathie und Entsetzen gleichermaßen, denn zwei der beiden Männer bestanden nur noch aus Haut und Knochen, wobei sie lebhafte Augen hatten und im Laufe des Abends konnte ich feststellen, dass sie sich auch eifrig am Gespräch beteiligten.

Der dritte, ein gut aussehender Mann um die 30, mit schwarz gewellten Haaren, zog mich neben sich und murmelte so etwas wie: „musst Du nicht so ernst nehmen“. Ich war erleichtert und gerührt, ob der freundlichen Aufnahme und hörte erst mal den Gesprächen der anderen zu, die sich nun wieder ihrem vorherigen Thema zuwandten. Es waren ungefähr 15 Männer im Raum – einer dünner als der andere – alle so im Alter zwischen Anfang 20 und Ende 40.

Ich erfuhr, dass sie sich ein bis zweimal die Woche in wechselnden Privatwohnungen trafen und das alles beherrschende Thema war eigentlich „die Angst vor Tod und Sterben“ und die allgegenwärtige Hilflosigkeit. Mir wurde schlagartig klar, dass ich von nun an Mitverantwortung trug – und mich nicht mehr einfach so davon stehlen konnte und diese Männer allein ihrem Schicksal überlassen. In diesem Moment wurde ich zum Freund dieser Jungs und mir war bewusst, dass ich weiter an ihrer Seite bleiben würde. Was ich an diesem Abend noch nicht wusste, war, dass das zehn Jahre dauern würde, so lange, wie es dauerte, bis halbwegs zum Weiterleben helfende Medikamente gefunden waren – aber es waren noch lange nicht die Medikamente, die das HIV-Virus total abtöten konnten. Die gibt es leider bis zum heutigen Tage nicht. Noch nicht. Zehn Jahre später beendete ich meine selbst gewählte Aufgabe als Begleiter von Freunden beim Sterben, da ich 1996 nach Spanien zog.

Im Laufe der nächsten Stunden lernte ich in einem Chrashkurs die Grundbegriffe der opportunistischen Infektionen, d.h. komplementäre Krankheiten zu HIV/AIDS wie beispielsweise „Toxoplasmose“, “Pneumocystis carinii Pneumonie“(PCP) – eine HIV-typische Form der Lungenentzündung, „Cytomegalievirus“, „Kaposi Sarkom“ – eine speziell bei AIDS-Kranken vorkommende Hautkrebsart, aber auch anrührende Gespräche mit Menschen, die sich gerade mit Krankenkassen, Rentenanstalten und Versorgungsämtern herumschlagen mussten. Fast alle waren offensichtlich völlig allein gelassen von ebenfalls hilflosen Freunden und Verwandten, die anscheinend nach Bekanntwerden der HIV-Infektion – bzw. Ausbruch von AIDS den Kontakt zu ihren Leuten abgebrochen hatten.

An diesem Abend lernte ich auch den bereits erwähnten schwarzhaarigen Mann mit den gewellten Haaren etwas näher kennen – Johannes war sein Name – und wir verabredeten uns für den nächsten Tag, denn es schien, dass auch Johannes, obwohl optisch gesund aussehend, große gesundheitliche und seelische Probleme hatte und anscheinend froh war, mit jemandem reden zu können.. Er wirkte depressiv und traurig – hatte selbst bereits einige opportunistische Infektionen durchgemacht und litt derzeit akut an Pilzen in Rachen, Speiseröhre und Darm.

Seine Situation war die, dass sein Freund Klaus gerade schwerst an AIDS erkrankt im Klinikum lag – todgeweiht und er mit seinen eigenen Ängsten alleine war. Er besuchte Klaus täglich im Krankenhaus, wohin er mich mitnahm und ich dort einen sehr liebenswerten Menschen kennenlernen durfte, zu dem ich mich auch sofort hingezogen fühlte. Im Laufe der nächsten Wochen begleitete ich Johannes fast täglich zum Klinikum Westend – zwischendurch auch zur Wohnung von Klaus in Spandau – dann in die Malplaquetstrasse im Wedding, wohin Klaus noch kurz vor seinem Tode hingezogen war. Klaus starb im Januar 1987 im Krankenhaus – Johannes lebte noch 2 Jahre und ich werde später noch mal von ihm berichten.

Zurück zur „Totenbank“ – auf der ich meine ersten positiven Freunde kennenlernen durfte – die tatsächlich alle innerhalb von wenigen Monaten ihr Leben durch Aids verlieren mussten. Günter, ein blonder großer Mann, der immer noch trotz Gewichtsverlust eine unglaublich lebensbejahende Ausstrahlung hatte, war mein erster neuer Freund, den ich beim Sterben bis zum letzten Augenblick begleiten durfte. Ich wähle hier bewusst den Freundesbegriff, obwohl ich die betroffenen Männer aus den Positivengruppen ja noch nicht allzu lange kannte.

Vielleicht kann ich es so erklären: durch die Nähe, die entstand, wenn man sich um Menschen kümmert, die ohne Hilfe nicht mehr klar kamen, fühlte ich auch schnell mehr als nur Bekanntschaft. Ansonsten bin ich mit dem inzwischen allgemein so inflationär verwendeten Begriff der „Freundschaft“ schon etwas zurückhaltender. Die meisten innerhalb unserer neuen Schicksalsgemeinschaft waren alleine – ohne Freunde und Familie, in diesen ersten Jahren der Aids-Epidemie. Günters Leiden verschlimmerte sich – kurz nach unserem Kennenlernen. Ich hatte mich mit ihm angefreundet und besuchte ihn täglich, da er zu schwach war, um zuhause alleine zurechtzukommen. Selbst einkaufen ging gar nicht mehr und ich organisierte über die Krankenkasse einen Rollstuhl, damit er so oft wie es nur ging, auch mal an die frische Luft kam. Damals arbeitete ich noch den ganzen Tag als Personalleiter am Theater und schaute so gut es ging vor und nach der Arbeit, sowie in der Mittagspause nach Günter, der in der Steinmetzstrasse in Schöneberg wohnte. Ein Pflegedienst übernahm das pflegerisch Notwendige – damals noch ein Novum für viele durch HIV-Betroffene. Die Situation war politisch aufgeheizt, da viele Menschen durch panikmachende Berichte im Spiegel und anderen Medien verunsichert waren. Es war die Zeit, in der Peter Gauweiler und Co sich in Bayern für die Einrichtung von Internierungslagern für HIV-Infizierte aussprachen und sich die mutige Rita Süssmuth als Gesundheitsministerin glücklicherweise dagegen durchsetzen konnte. Aber es soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch einige Fürsprecher für Gelassenheit im Umgang mit HIV-Infizierten wie Lea Rosh gab, die damals in der NDR-Talkshow öffentlich aus dem Wasserglas eines Infizierten trank und somit ein Beispiel für Unerschrockenheit und Zivilcourage gab. Eine Zeit, in der Georgette Dee, Inge Meysel und viele weitere Prominente für die hilflosen Aids-Kranken und Infizierten ihre Stimme erhoben und einen menschlichen, angstfreien Umgang für sie einforderten.

Nochmal zu Günter – eines Tages fand ich ihn in seiner Wohnung neben der Dusche liegend vor – völlig apathisch – Hände und Füsse zuckten unkoordiniert – er konnte sich nur noch schwer verständlich machen – der herbeigerufene Arzt ließ ihn sofort ins Auguste – Viktoria – Krankenhaus abtransportieren. Es stellte sich heraus, dass er an Toxoplasmose erkrankt war – einer Infektion, die auch völlig gesunde Menschen als Keim in sich tragen können, aber nicht zwingend daran erkranken, sofern ihr Immunsystem in Ordnung ist. Übertragbar beispielsweise durch Katzen und auch Blumenerde. Günters einzige Ansprache war seine geliebte Katze – sein Trost die Blumen in seiner Wohnung. Es folgte ein Kampf mit dem Pflegedienst und dem behandelnden Arzt, die ihm seine Lieblinge wegnehmen wollten – seinem Leben zuliebe. Ein Leben, das in der Realität kaum noch Leben zu nennen war – Günter war nach diesem letzten Krankenhausaufenthalt nur noch ein Schatten seiner selbst – ein Windhauch bereits konnte ihn umstoßen. Ich durfte mich nur noch kurze Zeit um ihn sorgen – dann schlief er mit seiner Hand in der meinen im AVK ein.

Damals lernte ich, dass anscheinend fast alle Sterbenden ausschließlich morgens zwischen 3 und 5 Uhr ihr physisches Dasein verlassen – und es dennoch nicht so einfach vorhersehbar war. Ich erfuhr, dass es oft noch Tage dauerte, auch wenn es oft abends den Anschein hatte, dass der letzte Lebenshauch gerade in dieser Nacht den Körper des Leidenden verlassen wollte. Und ich machte die Erfahrung, dass ich geradezu für den Sterbenden herbeiwünschte, es möge doch ein baldiges Ende haben – gerade wenn er sich besonders mit dem Atmen quälen musste. Es war ein Hin – und Hergerissensein zwischen dem selbstsüchtigen „Bleib noch etwas hier bitte“ – und dem „Ich kann Dich in Frieden gehen lassen“.

Von Dr. Elisabeth Kübler – Ross aus bzw. aus ihren Büchern habe ich sehr viel Rat und Hilfe erfahren, mich in solchen Augenblicken total zurückzunehmen – trotzdem absolut präsent zu sein. Ich habe gelernt, meine traurigen Gefühle über den kommenden Verlust des dahinscheidenden Menschen in ein Gefühl des „Freiseins“ und des „Loslassenkönnens“ umzuwandeln, so dass ich glaubte, nach dem letzten Atemzug des Freundes so etwas wie eine tiefe innere Zufriedenheit zu spüren, die mir mehr an Kraft zurückgab, als ich in den letzten Wochen während der Begleitung selbst habe weitergeben dürfen. Es ist sicher schwer verständlich – aber es ist so.

Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
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Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel


Geschichten und Geschichte – Vergessen macht sich breit …

„Keine Atempause – Geschichte wird gemacht – es geht voran“, sangen ‚Fehlfarben‘ (auf ‚Monarchie und Alltag‚) im Jahr 1980. Ein Jahr später werden erste Fälle einer Erkrankung festgestellt, die später als Aids bezeichnet wird.

„Keine Atempause – Geschichte wird gemacht.“
Und wie weiter?
„Spacelabs falln auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran.“

Zwar fielen bisher meines Wissens keine Spacelabs auf Inseln. Aber Vergessen macht sich tatsächlich breit, allenthalben. Es geht voran, scheinbar, indem wir über unsere eigene Geschichte hinweg gehen, vergessen. Vergessen unserer Aids-Geschichten. Vergessen unserer Geschichte.

Inzwischen sprechen wir munter von „altes Aids“ im Unterschied zu „neues Aids“ – doch was das hieß, „altes Aids“, das gerät abseits einiger immer wieder gern präsentierter Klischees und Mythen zunehmend in Vergessenheit.

Warum?
Wie gehen wir mit unserer eigenen Geschichte um?
Wann wird Erlebtes zu Geschichte?
Sind diese, unsere  Geschichten überhaupt erzählbar?
Ist diese Geschichte überhaupt vermittelbar?

Sind diese Fragen bedeutend?

Wer wenn nicht wir soll diese Geschichte(n) erzählen? schreiben?
Und wer aufarbeiten?

Wer, wenn nicht wir?

Wenn wir nicht unsere eigenen Geschichten aufschreiben, unsere eigene Geschichte schreiben, werden andere es irgendwann tun. Auf ihre Weise. Werden dabei ihre eigenen Bilder (die nicht unsere sind) transportieren, auch ihre pejorativen Bilder.

Doch – es ist unsere Geschichte!
Erzählen wir sie aus unseren Blickwinkeln!

Denn sonst …

Hegel konstatiert in seinen ‚Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte‘, dass Geschichte immer zweimal stattfinde. Und sein Schüler Karl Marx verfeinert im ‚Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘, Geschichte wiederhole sich “ das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce“.

Dann lasst uns vorher unsere Geschichte(n) erzählen, all die Tragödien, all die schönen, schmerzvollen, erfolgreichen, vorzeitig abgebrochenen … Geschichten …

Den  Anfang im „unsere Geschichte(n) erzählen“ macht ein positiver Mann aus Berlin, Nikolaus Michael, der in den nächsten Wochen hier in vier Texten einen Teil seiner Geschichte(n) erzählt …

1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel

Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele Leser dies zum Anlass nehmen, selbst ihre HIV-positiven Geschichte(n) zu erzählen – und bei Interesse auch andere lesen lassen. Ich biete dafür auf ondamaris gerne Zeit und Raum [und bei genügend Interesse auch gerne eine eigene Rubrik „unsere Geschichte(n)} – wer mag, sende mir eine Mail mit seinen Texten, ich melde mich baldmöglich …