Der Nationale AIDS-Beirat fordert den Abbau von Diskriminierung in der Arbeitswelt

Der Nationale Aids-Beirat forderte in einem Votum vom 11. Oktober 2012, die Diskriminierung von Menschen mit HIV im Erwerbsleben abzubauen.
Hier das Votum im Wortlaut als Dokumentation:

Der Nationale AIDS-Beirat fordert den Abbau von Diskriminierung in der Arbeitswelt

Bonn/Berlin, 11. Oktober 2012

Am 11. Oktober 2012 hat der Nationale AIDS-Beirat folgendes Votum beschlossen:

Die HIV-Infektion ist heute gut behandelbar. Dies spiegelt sich auch im Arbeitsleben wider: die Mehrheit der Menschen mit HIV in Deutschland ist erwerbstätig.

Weil Menschen mit HIV im Erwerbsleben immer noch diskriminiert werden, stellt der Nationale AIDS-Beirat (NAB) fest:

Im Berufsalltag besteht kein Risiko der HIV-Übertragung durch HIV-positive Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf Andere. Dies gilt auch für Tätigkeiten in Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Kindergärten, Pflegeheimen), in der Gastronomie und im Gesundheitswesen. Selbst bei verletzungsträchtigen chirurgischen Operationen ist bisher in Deutschland kein Übertragungsfall aufgetreten.

Der NAB verurteilt jegliche Diskriminierung von Menschen mit HIV im Berufsalltag und bei Bewerbungs- und Einstellungsverfahren sowie die Einschränkung der Berufsausübung und der beruflichen Weiterbildung. Die Ablehnung oder Entlassung wegen einer HIV-Infektion oder der Weigerung, einen Test durchzuführen, stellt eine Diskriminierung dar.

  • Der NAB stellt fest, dass keine Verpflichtung zur Offenlegung der HIV-Infektion besteht. Der Arbeitgeber ist nicht berechtigt, über den HIV-Status Auskunft zu verlangen.
  • Weder in Bewerbungsverfahren noch bei bestehenden Arbeitsverhältnissen darf ein HIV-Test verlangt werden.
  • Erhält der betriebsärztliche Dienst Kenntnis von einer HIV-Infektion, unterliegt er der Schweigepflicht, auch gegenüber dem Arbeitgeber.

Der NAB fordert die Diskriminierung von Menschen mit HIV im Berufsleben abzubauen. Betriebe und Verbände stehen in der Pflicht, Maßnahmen zu entwickeln und zu verstärken, die einen offenen und angstfreien Umgang mit der HIV-Infektion ermöglichen.

Der Nationale AIDS-Beirat ist ein unabhängiges Beratungsgremium des Bundesministeriums für Gesundheit. Er ist interdisziplinär mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Forschung, medizinische Versorgung, öffentlicher Gesundheitsdienst, Ethik, Recht, Sozialwissenschaften, sowie Personen aus der Zivilgesellschaft zusammengesetzt. Weitere Hinweise zum Nationalen AIDS-Beirat finden Sie hier.

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Quelle BMG

Die Washington D.C. Erklärung – Gemeinsam das Blatt wenden: Eine Erklärung, um die AIDS-Epidemie zu beenden (akt.)

Die Washington D.C. Erklärung

Gemeinsam das Blatt wenden: Eine Erklärung, um die AIDS-Epidemie zu beenden

Wir stehen an einem einzigartigen Zeitpunkt in der Geschichte der AIDS-Epidemie.

Drei Jahrzehnte von hartnäckiger Überzeugungsarbeit in der Gemeinschaft, von Forschung und Dienstleistung haben die Welt and den Rand eines Szenarios gebracht, das noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre: die Möglichkeit damit zu beginnen, die AIDS-Epidemie noch zu unserer Lebzeit zu beenden. Die Verluste waren unberechenbar; die Gewinne außergewöhnlich. Doch jetzt, durch neue wissenschaftliche Fortschritte und gesellschaftliche, politische und menschenrechtliche Gewinne haben wir entdeckt, dass es möglich ist, ein Paket an bewährten Strategien zusammenzustellen und zu liefern, die, wenn sie als Maßstab genommen warden, das Blatt bei AIDS wenden können.

Wir brauchen noch immer ein Heilmittel und einen Impfstoff. Aber wir müssen unsere Ressourcen und Anstrengungen erhöhen, indem wir die Mittel zu verwenden di wir heute haben, um Neuinfektionen drastisch einzudämmen und die Gesundheit von Millionen von Menschen mit HIV/AIDS zu verbessern. Millionen Menschenleben werden gerettet.

Das Blatt gegen HIV/AIDS zu wenden wird eine aufeinander abgestimmte Führung auf allen Ebenen der Regierung, des Gesundheitswesens, der Wissenschaft und der nichtstattlichen Organisationen benötigen. Wir müssen uns um multidisziplinäre Ansätze bemühen, die die Menschenrechte und die Würde aller von der Epidemie Betroffenen respektiert und aufrechterhalten.. Das Ziel, mit dem Ende der AIDS-Epidemie zu beginnen ist ehrgeizig, aber erreichbar. Es ist in unserer Reichweite.

Um das Blatt gemeinsam zu wenden, müssen wir:

  1. Steigerung gezielter neuer Investitionen. Wir können Leben retten, Infektionen verhindern und das globale Preisschild der Epidemie mit einer sofortigen, strategischen Steigerung in Investitionen verringern. Größere Fortschritte benötigen angemessene Finanzierungszusagen von globalen und lokalen Spendern, einschließlich der weltweiten nationalen Regierungen.
  2. Sicherstellung evidenzbasierter HIV-Prävention, Behandlung und Pflege im Einklang mit den Menschenrechten derjenigen, deren Risiken am höchsten und deren Bedürfnisse am dringendsten sind. Dazu gehören Homosexuelle, Transsexuelle, Drogenabhängige, gefährdete Frauen, Jugendliche, schwangere Frauen, die mit HIV leben und Prostituierte ebenso, wie andere betroffene Personen der Bevölkerung. Niemand kann ausgeschlossen werden, wenn wir unser Ziel erreichen wollen.
  3. Das Beenden von Stigmata, Diskriminierung, rechtlichen Sanktionen und Menschenrechtsverletzungen gegen Menschen, die mit HIV leben und den Gefährdeten. Stigmata und Diskriminierung behindern alle unsere Bemühungen und verhindern die Bereitstellung wesentlicher Dienstleistungen.
  4. Deutlich mehr HIV-Tests, Beratung und Verbindungen zu Prävention, Betreuung und unterstützenden Diensten. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, ihren/seinen HIV-Status zu kennen und die Behandlung, Pflege und Unterstützung zu erhalten, die er/sie benötigen.
  5. Bereitstellung von Behandlung für alle schwangeren und stillenden Frauen die mit HIV leben und das Beenden perinataler Übertragung: Wir können Frauen unterstützen am Leben und gesund zu bleiben und pädiatrische HIV-Infektionen zu beenden.
  6. Erweiterter Zugang zu antiretroviraler Behandlung für alle Bedürftigen. Wir können AIDS nicht beenden, bis das Versprechen des universellen Zugangs realisiert wird.
  7. TB erkennen, diagnostizieren und behandeln. Umsetzung von TB Präventionsprogrammen durch integrierte HIV und TB Dienstleistungen. Nicht mehr mit HIV leben, aber an TB sterben.
  8. Beschleunigte Erforschung von neuen HIV-Präventions- und Behandlungsmethoden, einschließlich neuer Ansätze wie Pre-Expositions-Prophylaxe (PrEP) und Mikrobiziden und eine optimale Bereitstellung von dem wir wissen, dass es funktioniert, von Kondomen bis zur Behandlung als Prävention. Erweiterte Forschung nach einem Impfstoff und einer Heilung. Forschung ist wichtig, um uns aus der Epidemie zu führen.
  9. Mobilisierung und sinnvolle Einbeziehung der betroffenen Gemeinden muss das Herzstück der gemeinsamen Reaktionen sein. Die Führung der direkt Betroffenen ist ausschlaggebend für eine effektive HIV/AIDS-Reaktion.

Die vor uns liegenden Herausforderungen sind groß, doch die Kosten des Scheiterns werden größer sein. Wir rufen alle besorgten Bürger der globalen Gemeinschaft auf, im Geiste der Solidarität und der gemeinsamen Handlung und mit dem vollsten Engagement der Gemeinschaft von Personen die mit HIV leben die erneute Dringlichkeit zu versuchen den weltweiten Kampf gegen AIDS zu erweitern. Wir müssen beginnen mit dem zu handeln, was wir wissen. Wir müssen mit dem Ende von AIDS beginnen – Gemeinsam.

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(Dokumentation der Washinton Erklärung nach http://www.2endaids.org/lang/german.html, Stand 27.07.2012, 08:00 Uhr MESZ nach der nun auch auf 2endaids.org online stehenden pdf-Version, Stand 27.07.2012, 10:20 Uhr MESZ)

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Zeichnungs-Möglichkeit der Washignton Erklärung hier

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‚Dein Recht auf freie Entscheidung‘ – DAH mit Kampagne zu Entscheidungsfreiheit auf Internationaler AIDS-Konferenz

Entscheidungsfreiheit – Das Recht, in Bezug auf das eigene Leben freie Entscheidungen zu treffen steht im Mittelpunkt der Kampagne, mit der sich die Deutsche Aids-Hilfe DAH auf der heute beginnenden Internationalen Aids-Konferenz in Washington (Aids 2012) präsentiert.

Your Freedom Of Choice - Kampagne der DAH zur Internationalen Aids-Konferenz Washington 2012
Your Freedom Of Choice - die Kampagne der DAH zur Internationalen Aids-Konferenz Washington 2012 thematisiert Entscheidungsfreiheit, das Recht, in Bezug auf das eigene Leben freie Entscheidungen zu treffen

Im Folgenden als Dokumentation die Kampagnen-Beschreibung der DAH:

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Your FREEDOM OF CHOICE

Die Deutsche AIDS-Hilfe präsentiert sich bei der XIX. Internationalen AIDS-Koferenz in Washington unter dem Motto „Your FREEDOM OF CHOICE“.

Das Recht, in Bezug auf das eigene Leben freie Entscheidungen zu treffen, ist ein hoher Wert – in den USA und in vielen anderen Ländern. Leider wird dieser Wert in Bezug auf Sexualität, Drogen und den Umgang mit HIV oft außer Kraft gesetzt – mit fatalen Folgen!

Diskriminierung und Repression stehen im Widerspruch zu den Menschenrechten und sind Gift für die Prävention. Wer versucht, anderen Menschen Lebensentwürfe aufzuzwingen oder ihr Verhalten zu reglementieren, verspielt die Möglichkeit, sie zu erreichen. Stigmatisierung führt dazu, dass Menschen Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Ideologische Scheuklappen blockieren wirksame Hilfsmaßnahmen. Das ist oft lebensgefährlich!

FREEDOM OF CHOICE rettet Leben, verhindert HIV-Infektionen und fördert Gesundheit. Prävention ist erfolgreich, wenn sie selbst gewählte Lebensweisen respektiert und von den Gruppen (mit-) gestaltet wird, für die sie gedacht ist. Dann gilt es, passende Maßnahmen zum Schutz vor HIV und anderen Gesundheitsschäden anzubieten. Das gilt in allen Bereichen der HIV-Prävention:

  • Drogengebrauch: Der Krieg gegen Drogen hat zu tödlicher Gewalt und Millionen HIV-Infektionen geführt. Drogenkonsumenten werden ins Gefängnis gesteckt und infizieren sich nicht selten dort mit HIV oder Hepatitis. FREEDOM OF CHOICE heißt, sie mit geeigneten Mitteln zu unterstützen, Gefahren für Leib und Leben zu reduzieren – unabhängig davon, ob sie sich für Abstinenz, Substitution oder ein Leben mit Drogen entscheiden.
  • Sexarbeit: Repression setzt Sexarbeiterinnen unter Druck und treibt sie in die Illegalität. Dadurch wird ihr Arbeitsumfeld unsicher und sie sind für Prävention kaum noch zu erreichen. FREEDOM OF CHOICE heißt, Sexarbeiterinnen unbehelligt arbeiten zu lassen und sie vor Ort dabei zu unterstützen, sich und ihre Kunden zu schützen!
  • Gay life: Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transmenschen werden diskriminiert, angegriffen, bestraft. Wer sich verstecken muss, ist für Informationen schwer erreichbar und kann kaum ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, das auch für den Schutz vor HIV unverzichtbar ist. FREEDOM OF CHOICE heißt, Menschen in ihrem Bedürfnis nach erfüllter Sexualität und Gesundheit zu stärken.
  • HIV+: Menschen mit HIV werden stigmatisiert, diskriminiert, kriminalisiert. Das macht es ihnen schwer, offen mit ihrer Infektion umzugehen. Angst vor Ablehnung verhindert oft, dass Schutz vor HIV thematisiert wird. FREEDOM OF CHOICE haben Menschen mit HIV nur, wenn sie nichts zu befürchten haben. Weil dann offen über HIV gesprochen wird, trägt das auch zur Vermeidung weiterer HIV-Infektionen bei.

FREEDOM OF CHOICE ist der Schlüssel! Wer glaubt, mit Moralvorschriften und Repression die Verbreitung von HIV zu verhindern, macht sich und der Gesellschaft etwas vor. Deswegen fordern wir: FREEDOM OF CHOICE! Now!

Die bundesweiten Positiventreffen in der Akademie Waldschlösschen

Vom 29. März bis 1. April 2012 fand im Waldschlößchen das 150. Bundesweite Positiventreffen statt.
Als Dokumentation die Rede, die Wolfgang Vorhagen (Akademie Walschlößchen, positiv e.V.) zum Jubiläum hielt:

Die bundesweiten Positiventreffen in der Akademie Waldschlösschen

Etliche schwule Männer – so wie ich auch, reagierten Anfang der 1980iger auf die ersten Meldungen über diese merkwürdige und unheimliche Krankheit aus den USA, zunächst mit Abwehr und mit der Mutmaßung einer neuen öffentlichen Kampagne gegen Schwule und ihre gesellschaftlich errungenen Emanzipationserfolge.
Aber nur kurze Zeit später sahen wir auch hier in Deutschland, dass da eine unabsehbare und sehr reale Gefahr auf uns zukommt und vieles zunichte machen könnte, was wir bis dahin persönlich und gesellschaftlich als Schwule geschafft hatten. Die Haltung der Gesamtbevölkerung zu schwulen Männern hatte sich liberalisiert und wir hatten immer mehr das Gefühl, auch unsere Sexualität repressionsfrei ausleben zu können. Wir hatten eine schwule Szene geschaffen, die uns u.a. auch viele sexuelle Freizügigkeiten erlaubte mit der Möglichkeit, angstfrei unsere Sexualität zu leben. Und das taten wir auch!
Der medizinische Ratgeber für Schwule – Sumpffieber – klärte uns über all das auf, was wir uns dabei holen konnten, worauf wir achten sollten und was wir dagegen ggf. tun mussten!

Und dann kam HIV, damals noch HTL-III-Virus genannt. Die ersten schwulen Männer in unserem Bekannten- und Freundeskreis erkrankten, unsere Angst und Verunsicherung wuchs. Bedeutete es das Ende unserer mühsam errungenen – auch – sexuellen Emanzipation, die sicher auch in der Sexualisierung der Szene und dem uns ja immer wieder vorgeworfenen Hedonismus je nach Blickwinkel auch ein paar Schattenseite hatte? Wird die liberale gesellschaftliche Haltung der 80iger sich wieder umkehren und schwule Sexualität jetzt als gefährlich und abnorm verurteilt und uns die Schuld dafür gegeben, dass auch Heterosexuelle Opfer von HIV sein werden? Plötzlich war von der gerechten Bestrafung der Schwulen für ihren nicht der Norm entsprechenden, hedonistischen und sexualisierten Lebensstil zu hören und zu lesen – und bei nicht wenigen schwulen Männer aktualisierten diese Vorwürfe ihre eigenen Schuldgefühle hinsichtlich ihrer Lebensweise. „Es musste so kommen“ war immer wieder bei denjenigen zu hören, die ihr positives Testergebnis in den Händen hielten.

Wie war die damalige gesellschaftspolitische und öffentliche Reaktion in Deutschland auf die unheimliche Krankheit? Es gab Mitte der 80iger auf der politischen Ebene den Kampf zwischen dem stockkonservativen CSU-Politiker Gauweiler in Bayern (mit seinem Maßnahmenkatalog nach dem Bundesseuchengesetz mit Meldepflicht für alle HIV-Positiven) und auf der anderen Seite u.a. die damalige Gesundheitsministerin Rita Süßmuth, die den Grundstein legte für die dann insgesamt liberale AIDS-Politik in Deutschland. Es gab eine große Medienhysterie (von Spiegel bis Bildzeitung) und eine große Verunsicherung seitens der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der noch dürftigen virologisch-medizinischen Erkenntnisse.

Es war 1985, als ich aus meiner Heimatstadt Aachen als Projektmitarbeiter hier im Waldschlösschen für anfangs wenig Lohn einstieg und gleich hier lernte ich auch den ersten AIDS-kranken schwulen Mann – Gerd aus Köln – kennen, den ich trotz meiner Ängste vor dieser Krankheit sehr attraktiv fand. Mit ihm und meinen Besuchen in Köln begann endgültig meine persönliche Auseinandersetzung mit HIV und mir wurde damals klar, dass es für mich nur zwei Möglichkeiten gab, den Herausausforderungen des Virus und den damit verbundenen Ängsten entgegenzutreten: Wenig tun und abwarten oder aktiv werden, zusammen mit Kollegen hier im Waldschlösschen offensiv werden und Fortbildungen und Seminare für Leute, die sich in AIDS-Hilfen zu engagieren begannen, zu organisieren – und das geschah sehr früh auch zusammen mit der Deutschen AIDS-Hilfe. Das Waldschlösschen erwies sich für mich als der richtige Ort, etwas entgegen zusetzen gegen meine eigene Angst vor der Infektion, der Trauer über die wachsenden Verluste im Bekannten- und Freundeskreis, den gesellschaftlichen Druck und über die große Verunsicherung gegenüber meiner eigenen Sexualität als schwuler Mann.

Und dann die Positiventreffen: Es war Anfang 1986 als Jörg Sauer aus Speyer und Bernd Flury aus Bonn an uns herantraten – beides schwule Männer, die das Waldschlösschen bereits als das seit 1981 existierende „schwule Tagungshaus“ kannten. Ihrer Meinung nach konnte ein solches Treffen mit dem dafür notwendigen geschützten Rahmen nur hier stattfinden.

Vom 8.-11. Mai 1986 war es dann soweit. Über Mund-zu-Mundpropaganda, AIDS-Hilfen und Zeitschriften wurde das Treffen beworben.

Selbst „Der Spiegel“ wies auf dieses 1. Treffen hier im Waldschlösschen hin, ohne den Veranstaltungsort zu nennen – Zitat: „Im Mai will der Münsteraner Student Bernd Flury die HTL-III-Antikörper-Positiven“ zu einem ersten Treffen versammeln. Es soll unter anderem über Tod und humanes Sterben geredet werden.“ (Dank hier für die Recherchen meinem Mitstreiter bei Positiv e.V. Ulli Würdemann – nachzulesen auf seinem Blog ondamaris [hier: „Jubiläum: 150 Bundesweite Positiventreffen„].)

Entsprechend groß war mit diesem Hinweis im Spiegel nun die Angst der Teilnehmer des ersten Treffens, dass die gesammelte Journaille vor der Türe stehen könnte, sodass wir zu mehreren zwischendurch immer wieder den Parkplatz und den Eingang des Waldschlösschens beobachteten. Aber es erschien kein Zeitungsschreiberling.

Zu dem ersten Treffen kamen 37 schwule Männer und eine heterosexuelle Frau. Es gab zwar bereits AIDS-Hilfen aber kaum Selbsthilfegruppen von HIV-Positiven – und es gab natürlich auch im Vergleich zu heute deutlich weniger HIV-Positive. Das bedeutete, dass die meisten Teilnehmer bis dahin noch keine anderen Betroffenen kannten. Der Bedarf nach Austausch und dem Erleben von Solidarität war groß, es wurde bis in die Nächte hinein miteinander geredet, gelacht und geweint.

Und nach diesem ersten Treffen war klar, dass es weitergehen muss und so fanden noch im gleichen Jahr mit Unterstützung des Waldschlösschens zwei Treffen statt: „Wiedersehen macht Angst“ vom 5.-7.September bei dem es neben der AIDS-Konferenz in Paris um die Solidarität der Positiven ging und vom 27. November bis 1. Dezember: Thema: Begegnung und Vernetzung.

Ein großer Schritt dazu, dass sich mehr Menschen mit HIV und AIDS die Treffen leisten konnten, geschah durch die Übernahme der Veranstaltungs- und Reisekosten durch die Deutsche AIDS-Hilfe ab Anfang 1987. Und so konnten sich TeilnehmerInnen die Treffen leisten, die selbst das Geld für Unterkunft, Verpflegung, Referenten und Reisekosten nicht hätten aufbringen können.
Aber nun mussten sich plötzlich die zu den Treffen anreisenden schwulen Männer mit z.T. befremdlich anmutenden Gestalten auseinandersetzen: DrogengebraucherInnen, die z. T. „voll drauf waren“ und die ihrerseits die anwesenden homosexuellen Herrn auch nicht besonders schätzten. Die Treffen bekamen eine nicht immer ganz einfache Eigendynamik.

Auch unter diesem Eindruck holten sich Jörg und Bernd 1987 Verstärkung für die weitere Durchführung und Weiterentwicklung der rasch immer größer werdenden Treffen. Es waren aktive Teilnehmer – Henk Harpers, Ernst Häussinger, der später die bayerischen Positiventreffen ins Leben gerufen hat, Alexander Lenzen und Klaus Motylak, die die Landespositiventreffen in NRW gründeten und Ingo Schneider aus Bremen – fast alle sind an den Folgen von AIDS gestorben. Als Nichtinfizierte kamen Birgitt Seifert aus Kassel als Expertin für die Lebenswelten von DrogengebraucherInnen und ich als pädagogischer Mitarbeiter des Waldschlösschens dazu, der die beiden Initiatoren Jörg und Bernd ohnehin schon von Anfang an in der Vorbereitung unterstützte.

Wir nannten diese kleine aber schlagkräftige Gruppe ab 1988 „Positiv e.V.“, was von den AIDS-Hilfen damals bundesweit als ein Alarmsignal begriffen wurde mit der Botschaft, dass sich HIV-Positive nicht in die Klientenrolle stecken lassen wollten, die AIDS-Hilfen damals dem größten Teil der Menschen mit HIV zuwiesen. Es verbreitete sich die Befürchtung, dass HIV-Positive nun – neben der AIDS-Hilfe – ihre eigene bundesweite Organisation gründeten. Dabei ging es uns mit der Gründung von Positiv e.V. doch in erster Linie darum, die Treffen hier im Schlösschen vorzubereiten und durchzuführen – aber den Nebeneffekt der Aufregung bei den AIDS-Hilfen haben wir damals klammheimlich genossen und die dann geführte bundesweite Diskussion der Rollen von HIV-Positiven in AIDS-Hilfen wohlwollend zur Kenntnis genommen. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch die Forderung von uns nach einem für die Belange von Menschen mit AIDS verantwortlichen Ansprechpartner und Referenten in der Deutschen AIDS-Hilfe umgesetzt und Hans Hengelein wurde der erste HIV-Referent.

Krankheit und Tod waren präsent über die nächsten 10 Jahre und begleiteten die Arbeit und die Geschichte von Positiv e.V. –es wurde auch in unseren Reihen viel gestorben, neben den eben erwähnten Initiatoren Jörg Sauer und Bernd Flury möchte ich hier nur Celia Bernecker-Welle, Ulrich Doms und Ingo Schmitz erwähnen!

Die Treffen hier im Waldschlösschen sind in den vergangenen 26 Jahren von tausenden Teilnehmer und hunderten größtenteils sehr kompetenten Referenten besucht worden. Viele TeilnehmerInnen und einige Dozenten – gerade der früheren Treffen – sind inzwischen an den Folgen der Krankheit gestorben. Sie haben Atmosphäre und Inhalte der Treffen mitbestimmt und sie lebendig mitgestaltet, haben neue Kraft für den privaten und beruflichen Alltag mit HIV und Anstöße für ihr Engagement in Selbsthilfezusammenhängen gewonnen.

Aber es war vor 1996, vor Vancouver und der ART lange nicht nur Trauer und Depression auf den Treffen angesagt: Trotz des sehr sichtbaren Damoklesschwertes des baldigen Erkrankens, Dahinsiechens und Sterbens von oft jungen Männern und Frauen zeichneten sich die Treffen durch sehr viel Lust am Leben bzw. dem, was übrig blieb, aus. Es kamen Teilnehmer hier her – bis auf die Knochen ausgemergelt und von den schwarzen Flecken des damals allgegenwärtigen Kaposi-Sarkoms gezeichnet, die sich mit letzter Kraft zu einem Treffen schleppten, um noch einmal hier sein zu können. Die Stimmung war oft sehr ausgelassen, mit einem besonderen Zynismus und Sarkasmus dem Leben mit AIDS gegenüber gewürzt, es wurde viel gelacht, Kraft getankt und getanzt – wir alle waren trotz allem voller Tatendrang:

Das 2. Europäische Positiventreffen in München 1987 – Motto „Mut gehört dazu“ wurde hier mit vorbereitet.
Mit Hans-Peter Hauschild entstanden hier Ideen zum Treffen der Uneinsichtigen in Frankfurt.
Weitere internationale Positiventreffen – z.B. das in Madrid 1990 wurde hier vorbereitet.
Die AIDS-Aktivisten von ACT UP u.a. mit Andreas Salmen nutzten auch die Treffen als Forum und für die Vorbereitung von Aktionen hier in Deutschland.
Im Juni 1992 führten wir unter Leitung von Ulrich Doms, Birgitt Seifert und mir das 1. Europäische Positiven-Delegiertentreffen von Selbsthilfegruppen durch, mit 42 Gruppen aus 22 europäischen Ländern.
Wir begründeten die Arbeitstreffen regionaler und bundesweiter Positiventreffen, die sich hier im Waldschlösschen trafen.
Es gründeten sich von hier aus nicht nur ein Teil der landesweiten Positiventreffen sondern auch etliche Netzwerke – zwei relativ aktuelle Beispiele „Jung und positiv“ und „HIV im Erwerbsleben“.

Gleich beim 7. Positiventreffen im November 1987 besuchte uns Rita Süßmuth als Gesundheitsministerin, um sich über die aktuelle Lage und Anliegen von Menschen mit HIV und AIDS zu informieren.
Das sind nur einige Beispiele….

150 Treffen haben nun stattgefunden. Während das Damoklesschwert des Erkrankens und Sterbens die Treffen in den ersten 10 Jahren mitbestimmte, geht es nun 16 Jahre nach Vancouver mit den Therapien immer mehr um die Entwicklung von Perspektiven und die Integration des Positivseins in das ansonsten fast normale Leben. Medizinische, sozialrechtliche Infos sind gefragt, Maßnahmen gegen den Stress und die Reflektion über Möglichkeiten gesund zu bleiben sind u.a. angesagt.

Und trotzdem wird mir bei den Neuenrunden zu Beginn eines jeden Treffens deutlich: Das positive Test-Ergebnis ist für viele immer noch ein markanter biografischer Bruch mit Folgen für das private und berufliche Leben, begleitet von z.T. immer noch großer Verunsicherung, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Chronisch krank – aber mit einem besonderen Stigma!

Es ist bis heute eine bunte Zusammensetzung von Teilnehmenden, die zu den Treffen anreist: Neuinfizierte und Langzeitpositive, Berufstätige, Studenten und Rentner, junge und ältere TeilnehmerInnen, schwul, bi- oder heterosexuell, Männer und Frauen.

Für uns als Veranstalter ist es eine große Herausforderung, die unterschiedliche Lebenssituation von Menschen mit HIV möglichst zielgruppenspezifisch aufzugreifen, die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und in Workshops umzusetzen. Eine große Schar an kompetenten DozentInnen trägt zum Erfolg der Treffen bis heute bei. Die Treffen selbst sind gelebte Selbsthilfe, nicht nur durch die Mitglieder von Positiv e.V., sondern auch durch das spontane Engagement und die Angebote von euch als Teilnehmer/innen, die ihren Beitrag zum Gelingen der Treffen leisten. Und darauf sind wir auch in Zukunft angewiesen. Nur so können die Treffen erfolgreich weiter gestaltet werden.

Positiv e.V. hat – wie eben beschrieben, eine wechselvolle Geschichte erlebt.
Viele kompetente und engagierte Menschen haben im Laufe der Jahre mitgearbeitet. Michael Gillhuber, Matthias Hinz und Hermann Jansen gehörten zu ihnen und sind extra zu diesem Treffen angereist. Euch noch mal einen ganz herzlichen Dank für die guten Jahre der Zusammenarbeit!

Die heute sehr unterschiedliche Situation von HIV-Infizierten spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der aktiven Ehrenamtlichen in unserer Gruppe wider – ein Großteil ist berufstätig, ein anderer kleiner Teil bereits seit längerem berentet. Ja es sind inzwischen unterschiedliche Generationen! Die einen haben das „Trauma AIDS“ fast von Anbeginn erlebt, die anderen sind erst seit wenigen Jahren infiziert.
Das Austragen von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten gehören bei einer solchen kontinuierlichen Zusammenarbeit wie auch sonst im Leben immer wieder dazu, damit wir unsere Hauptaufgabe – die Vorbereitung und Durchführung der Treffen – gemeinsam weiterhin stemmen werden!
Euch, meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern möchte ich besonders für die langjährige konstruktive, engagierte, vertrauensvolle, diskussions- und auseinandersetzungsfreudige Zusammenarbeit danken. Ich finde, wir haben zusammen etwas einzigartiges geschaffen und führen es bis heute erfolgreich fort!

Die Treffen sind ein gutes Beispiel für die gelungene enge Zusammenarbeit von kompetenter Selbsthilfe mit professionellen Strukturen der Erwachsenenbildung und von AIDS-Hilfe, also von Positiv e.V., der Akademie Waldschlösschen und der Deutschen AIDS-Hilfe. Ohne auch nur einer dieser drei Säulen könnten diese Treffen so nie stattfinden!
Da ist die seit 1987 kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Deutschen AIDS-Hilfe, die Finanzierung durch Bundesmittel sowie die Beratung durch die in der Deutschen AIDS-Hilfe arbeitenden ReferentInnen für Menschen mit HIV und AIDS – heute Abend dabei die HIV-Referentin Heike Gronski und die Geschäftsführerin der Deutschen AIDS-Hilfe Silke Klumb. So können bis heute u.a. auch Betroffene an den Treffen teilnehmen, die sich in einer schwierigen finanziellen Situation befinden – und das sind nicht wenige!
Da ist das Waldschlösschen – das einen Teil meines Engagements und meiner Arbeit im Rahmen meiner Stelle finanziert und meine Kollegen und Kolleginnen u.a. aus der Verwaltung, die ebenfalls eine wichtige Arbeit leisten, damit die Treffen stattfinden können.

Die große Zahl an Anmeldungen und die Rückmeldungen der Teilnehmer/ innen machen uns Veranstaltern immer wieder deutlich: Es gibt trotz aller „Normalisierungsdiskussionen“ noch viel zu tun, um die Situation von Menschen mit HIV in Deutschland weiter zu verbessern und – da wo sie notwendig ist – Selbsthilfe zu initiieren und zu unterstützen. Denn es bleibt vorläufig die Ungleichzeitigkeit des persönlichen Erlebens der HIV-Infektion und der individuellen Auseinandersetzung mit HIV im Alltags- und Berufsleben – die einen nehmen die HIV-Infektion gelassen hin, die anderen wirft es weit zurück in schwere persönliche Krisen und Auseinandersetzungen.

Der Lebensvielfalt und Lebenssituation der Menschen mit HIV sollten die Treffen weiterhin gerecht werden! Und wir sollten dann aber auch den Zeitpunkt erkennen, wo sich die Treffen in der Form, wie sie bis heute stattfinden, überflüssig gemacht haben.
Der Tag wird kommen – hoffentlich, aber bestimmt noch nicht morgen!
Danke!

(Wolfgang Vorhagen)

Der Nationale AIDS-Beirat positioniert sich zur Prävention von HIV mit antiretroviralen Medikamenten

Der Nationale AIDS-Beirat positioniert sich zur Prävention von HIV mit antiretroviralen Medikamenten

Am 01. März 2012 hat der Nationale AIDS-Beirat folgendes Votum beschlossen:

  • „Der Nationale AIDS-Beirat (NAB) stellt fest, dass bei vorliegender HIV-Infektion eine effektive antiretrovirale Therapie eine HIV-Übertragung verhindert. Studien belegen eine hochgradige Schutzwirkung, sofern mit der antiretroviralen Therapie dauerhaft eine Unterdrückung der HI-Viruslast im Plasma auf unter 50 RNAKopien pro ml erreicht wird.
  • Der NAB empfiehlt, diesen Sachverhalt offen und öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren. Dies gilt für Präventions- und Beratungsangebote ebenso wie für das ärztliche Gespräch, in denen eventuell verbleibende Risiken im Individualfall erörtert werden müssen.
  • Der Schutz vor einer Infektion ist gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten. Unverändert bleibt daher die Bedeutung der aufeinander bezogenen Verhältnis- und Verhaltensprävention und der in diesem Rahmen gegebenen Empfehlungen. Safer Sex und Safe Use bilden nach wie vor die Grundlage der deutschen Public-Health Strategie zur Verhinderung einer HIV-Übertragung. Dies gilt umso mehr, als sie dazu beitragen, auch die Übertragung anderer Infektionen zu reduzieren.
  • Der NAB betont, dass jede Entscheidung für eine Therapie zum Zweck der Reduktion der Infektiosität nur von Menschen mit HIV selbst getroffen werden darf. Die Empfehlung für einen Therapiebeginn darf nicht von Public-Health Interessen, sondern muss von den Interessen und Bedürfnissen des Individuums geleitet werden. Die Aufklärung diesbezüglich muss offen sein und mögliche Vorteile wie Nachteile einer antiretroviralen Therapie umfassen. Der freie Wille der Patientin/ des Patienten hat oberste Priorität.
  • Die Nutzung der Schutzwirkung einer effektiven antiretroviralen Therapie hängt von der niedrigschwelligen Verfügbarkeit von HIV-Tests und -Beratung sowie vom Zugang zur antiretroviralen Therapie ab.
  • Aufgrund einer Vielzahl ungeklärter wissenschaftlicher, ethischer, rechtlicher und gesundheitsökonomischer Fragen hält der NAB es für verfrüht, ein Votum zum Einsatz einer Prä-Expositionsprophylaxe zu geben.“

Der Nationale AIDS-Beirat ist ein unabhängiges Beratungsgremium des Bundesministeriums für Gesundheit. Er ist interdisziplinär mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Forschung, medizinische Versorgung, öffentlicher Gesundheitsdienst, Ethik, Recht, Sozialwissenschaften, sowie Personen aus der Zivilgesellschaft zusammengesetzt.

Die Mitglieder des Nationalen AIDS-Beirats (Foto: BMG)
Die Mitglieder des Nationalen AIDS-Beirats (Foto: BMG)

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(Meldung Nationaler Aids-Beirat)

Keine Kriminalisierung von Menschen mit HIV!

Keine Kriminalisierung von Menschen mit HIV!

Positionspapier der Deutschen Aids-Hilfe

Berlin, im März 2012

Zusammenfassung – Die Strafbarkeit der HIV-Übertragung begünstigt die Verbreitung von HIV

Nach wie vor werden in Deutschland Menschen mit HIV verurteilt, nachdem es beim Sex zu einer Übertragung des Virus gekommen ist. Sogar wenn nur die Möglichkeit dazu bestanden hat, ohne dass es tatsächlich zu einer Übertragung gekommen ist („HIV-Exposition“), kann das zu einer Verurteilung führen.
Die Deutsche AIDS-Hilfe lehnt die strafrechtliche Sanktionierung der HIVÜbertragung beziehungsweise -Exposition bei selbstbestimmten sexuellen Handlungen ab. Diese bürdet Menschen mit HIV die alleinige Verantwortung auf und schadet zugleich der HIV-Prävention. HIV-Übertragungen werden so nicht verhindert, sondern begünstigt.

Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung und -Exposition erfolgt über den Straftatbestand der Körperverletzung. Nach vorherrschender Rechtsprechung müssen HIV-Positive auf dem Gebrauch von Kondomen bestehen oder ihre Partnerinnen beziehungsweise Partner über die Infektion informieren. (Ausführliche Informationen: www.aidshilfe.de)

Diese Auslegung des geltenden Rechts ist keineswegs zwangsläufig, sondern gründet oft auf der Annahme, auf diese Weise zur Verhinderung von HIV-Infektionen beizutragen. Die Deutsche AIDS-Hilfe fordert die Justiz auf, ihre Anwendung der genannten Gesetze zu überdenken und fortan auf die daraus resultierende Kriminalisierung von Menschen mit HIV zu verzichten.

Solange die HIV-Übertragung und -Exposition noch kriminalisiert werden, müssen Gerichte zumindest berücksichtigen, dass eine gut funktionierende HIV-Therapie mindestens genauso wirksam vor der Übertragung des Virus schützt wie Kondome.

Keine einseitige Zuweisung von Verantwortung – Für den Schutz vor einer HIV-Übertragung sind alle Beteiligten verantwortlich.

Nicht die HIV-Infektion an sich führt zur Übertragung, sondern sexuelle Handlungen, die zwei Menschen gemeinsam vollziehen. Dabei sind beide voll für ihr Handeln und damit für den Schutz vor einer HIV-Übertragung verantwortlich.
Die Täter-Opfer-Logik des Strafrechts passt nicht zu sexuellen Begegnungen. Sie deutet eine Situation zu einer einseitigen Handlung von HIV-Positiven um, die Verantwortung der Partner wird ignoriert.

Kriminalisierung schadet der Prävention – Die Strafbarkeit vermittelt ein falsches Sicherheitsgefühl.

Wer die Verantwortung vor allem HIV-Positiven zuweist, unterhöhlt den Grundansatz der erfolgreichen Prävention in Deutschland: Jeder Mensch kann sich selbst schützen, sofern er über die nötigen Informationen und Mittel verfügt und ihn äußere Umstände nicht daran hindern.

Indem die Verantwortung beim HIV-Positiven verortet wird, kann die Illusion entstehen, der Staat habe HIV unter Kontrolle. Menschen könnten sich darauf verlassen, dass allein HIV-Positive für Schutz verantwortlich seien. Das ist schon allein deswegen fatal, weil bei vielen HIV-Übertragungen Menschen beteiligt sind, die gar nichts von ihrer Infektion wissen.

Da nur verurteilt werden kann, wer von seinem HIV-Status weiß, kann die Kriminalisierung Menschen vom HIV-Test abhalten. Das ist kontraproduktiv: HIV-Übertragungen werden unter anderem dann wirkungsvoll verhindert, wenn möglichst viele Menschen von ihrer Infektion wissen und sich rechtzeitig behandeln lassen. Mit einer gut wirksamen Therapie schützen sie auch ihre Partner vor einer HIV-Übertragung (siehe unten: „Die Bedeutung der Viruslast
einbeziehen“).

Manchmal wird argumentiert, die Strafandrohung motiviere HIV-Positive, ihre Partner zu schützen. Dafür gibt es keine Belege. Untersuchungen zeigen, dass Strafandrohungen das sexuelle Verhalten kaum beeinflussen.

Die Strafandrohung ist in keinem Fall hilfreich. Ganz im Gegenteil: Sie steigert die Angst, über HIV und Schutz zu reden und sich damit möglicherweise als HIV-positiv zu offenbaren. Je größer der Druck auf Menschen mit HIV, desto größer die Angst vor Ablehnung.

Sicherheit und Wahrhaftigkeit sind nicht einklagbar – Hilfreich ist ein Klima, in dem man offen über HIV und Sexualität sprechen kann.

Wenn es um Sexualität geht, ist es oft nicht leicht, offen zu reden. Ängste und Hemmungen spielen ebenso eine Rolle wie Sehnsüchte und Projektionen. Die eigene HIV-Infektion zu thematisieren ist besonders schwierig, da oft Angst vor Ablehnung und Schuldgefühle damit verbunden sind.

Bei sexuellen Begegnungen kann es aus diesen Gründen kein Recht auf Wahrheit geben. Einklagbare Wahrheit – dieses Denken suggeriert, das Strafrecht könne Sicherheit herbeiführen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es im Bereich der Sexualität aber nicht, auch nicht in auf Dauer angelegten Partnerschaften. Dies gilt es in alle Überlegungen zur Prävention einzubeziehen und nicht durch unrealistische Vorstellungen zu negieren.

Die Deutsche AIDS-Hilfe fordert darum ein Ende der rechtlichen Sanktionierung auch für Fälle, in denen HIV-Positive ihre Infektion verschwiegen oder fälschlicherweise erklärt haben, HIVnegativ zu sein. Weil in aller Regel nicht böse Absicht, sondern Angst zugrunde liegt, sind strafrechtliche Drohungen auch hier schädlich. Hilfreich ist ein Klima, das es ermöglicht, offen über HIV und Sexualität zu sprechen.

Die Deutsche AIDS-Hilfe plädiert zugleich für eine deutliche Unterscheidung zwischen moralischen und juristischen Fragen. Psychische Verletzungen und gesundheitliche Schäden, die durch das Verschweigen einer HIV-Infektion und eine eventuelle Übertragung des Virus entstehen, dürfen nicht bagatellisiert werden. Diese erfordern aber andere Formen der Bearbeitung als juristische Sanktionen.

Die Bedeutung der Viruslast einbeziehen – Auch HIV-Therapien sind ein geeigneter Schutz vor der Übertragung.

Immer noch erkennen zu wenige Gerichte an, dass auch HIV-Therapien ein wirksamer Schutz vor der Übertragung sein können, weil sie die Vermehrung von HIV im Körper reduzieren. Bei einer gut funktionierenden Therapie ist die Übertragung nahezu unmöglich, die Schutzwirkung mindestens so hoch wie die von Kondomen.

Die Deutsche AIDS-Hilfe plädiert für die Abschaffung der Kriminalisierung von Menschen mit HIV. So lange die HIV-Exposition aber noch kriminalisiert wird, müssen Gerichte zumindest die Frage der Viruslast berücksichtigen. Lassen sich im Blut eines HIV-positiven Menschen dauerhaft keine HI-Viren mehr nachweisen, hat er damit faktisch für den Schutz des Partners gesorgt.

Fazit

Das Strafrecht wird zurzeit missbraucht, um moralische Vorstellungen durchzusetzen. In der Gesellschaft herrscht die Auffassung vor, HIV-Positive seien in besonderem Maße für den Schutz der HIV-Negativen verantwortlich. Zugrunde liegt offenbar das Bedürfnis, die Verantwortung von sich zu weisen und sie an andere Menschen zu übertragen. Oft steckt die Illusion dahinter: Wenn HIV-Positive für den Schutz sorgen müssen, können die HIV-Negativen
unbesorgt weiter ungeschützten Sex praktizieren.

Was wir brauchen, ist ein offenes Klima, in dem Sexualität, Rausch und HIV keine Tabus sind.
Wer sich gegen Diskriminierung einsetzt, unterstützt damit auch die HIV-Prävention. Gefragt sind hier Justiz, Politik, Medien und die gesamte Gesellschaft.

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english version: No Criminalization of People with HIV!

No Criminalization of People with HIV!

No Criminalization of People with HIV!

Position Paper Deutsche Aids-Hilfe

Berlin, March 2012

Summary – The criminalization of HIV transmission and HIV exposurepromotes the spread of HIV

In Germany people with HIV are still convicted after sexual transmissions of the virus. Even the mere possibility of transmission can result in a conviction, without any actual transmission having occurred („HIV exposure“).

Deutsche AIDS-Hilfe disapproves of any criminalization of HIV transmission or HIV exposure in cases of self-determined sexual activities. Such a penalization not only imposes the responsibility on people with HIV alone but also endangers HIV prevention. Thus HIV transmission is not being prevented but promoted.

HIV transmission and HIV exposure is considered as a form of personal injury and thus a criminal offense. According to prevailing jurisdiction the HIV-positive partners have to insist on the use of condoms or to inform their partners of their being infected. (for detailed information see: www.aidshilfe.de)

That interpretation by prevailing law is by no means imperative, often it is just based on the assumption that HIV infections could thus be prevented. Deutsche AIDS-Hilfe urges judiciary to reconsider the application of said laws and henceforth abstain from the resulting criminalization of people with HIV.

As long as HIV transmission and HIV exposure are still criminalized, the courts should at least take into account that an effective HIV therapy protects against HIV transmission as effectively as condoms do.

No One-sided Allocation of Responsibility – Both partners
are fully responsible for the protection against HIV transmission.

It is not the HIV infection itself which results in transmission but sexual activities being mutually performed by two people, both being fully responsible for their actions and therefore for protecting themselves against HIV
transmission.

The logic of offender vs. victim in criminal law does not apply for sexual encounters. It redetermines a mutual situation into an ex parte activity of HIV-positive people only, thus disregarding the responsibility of their partners.

Criminalization Endangers Prevention – Criminalization
leads to a false sense of security.

By allocating the responsibility to HIV positive people only the basic approach of the successful prevention in Germany is being undermined. Everybody can protect themselves, provided that they have the necessary information and means, and there are no inhibiting external circumstances.

Allocating all responsibility to HIV-positive people may provoke the illusion, the government could control HIV. People may rely on HIV-positive people being solely responsible for protection. This can be fatal just because many transmissions occur with people not even knowing about their infection.

Since only a person can be convicted who knows about his/her HIV status, criminalization may keep people from taking an HIV-test. This is counterproductive: HIV transmission can effectively be prevented, if as much people as possible know about being infected, and are treated in time.
A good, effective treatment also protects their partners against HIV transmission (see below: „Considering the Impact of Viral Load“).

Sometimes the argument is brought forward that the threat of punishment would motivate HIVpositive people to protect their partners. There is no evidence for that. Research suggests that the threat of punishment does hardly ever affect sexual behaviour.

The threat of punishment is never of any avail. On the contrary. It increases the fear of speaking about HIV and protection, and thus maybe revealing oneself as being HIV-positive. The harder the pressure on people with HIV the higher the fear of being rejected.

Safety and Truthfulness Are Not Actionable – A helpful environment is one that enables people to frankly talk about HIV and sexuality.

In sexual matters it is not always easy to speak frankly. There are fears and inhibitions as well as desires and projections. It is even more difficult to broach the issue of one’s own HIV infection, since it is often connected with the fear of being rejected and with feelings of guilt.

These are the reasons why there isn’t any right of truthfulness in sexual encounters. Actionable truthfulness – this kind of thinking suggests, safety could be procured by penal law. But there is no 100% safety in the realm of sexuality, not even in long-term relationships. This is to be kept in mind in all considerations on prevention and must not be ignored because of unrealistic concepts.

Deutsche AIDS-Hilfe therefore demands an end of all legal penalization even in cases, when HIV-positive people conceal their infection or untruly claim to be HIV-negative. Since generally they do not act with ill intent but because they are afraid, the threat of punishment is harmful also in those cases. A helpful environment is one that enables people to frankly talk about HIV and sexuality.

At the same time Deutsche AIDS-Hilfe argues for a clear distinction between moral and legal questions. Psychological harm and physical damage caused by concealment of an HIV infection and eventual transmission of the virus must not be trivialized, but should, however, be treated otherwise than by penalization.

Considering the Impact of Viral Load – An effective HIV therapy provides effective protection against HIV transmission

Still too few courts of justice recognize that an HIV therapy can be an effective protection against transmission, since it inhibits the reproduction of HIV in the body. An effective therapy makes the transmission nearly impossible; its protective effect is at least as good as that of condoms.

Deutsche AIDS-Hilfe argues for an end of criminalization of people with HIV. As long as HIV exposure is still criminalized, the courts should at least take into account the question of viral load. If it is permanently impossible to detect any HI-virus in the blood of an HIV-positive person, this person has virtually cared for the protection of his/her partner.

Conclusion

Presently the penal law is being misused in order to enforce moral concepts. In our society the notion is prevailing, that HIV-positive people are especially responsible for the protection of HIVnegative people. This notion is apparently caused by a need to disclaim responsibility and transfer it onto other people. The illusion being: If HIV-positive people have to care for protection, HIV-negative people are free to continue having unprotected sex.

An open climate, where sexuality, ecstasy and HIV are not taboos, is what we need. Fighting against discrimination means promoting HIV prevention. It’s a challenge for either justice, politics, the media and our society as a whole.

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german version: Keine Kriminalisierung von Menschen mit HIV!

Die Deklaration von Oslo über die Kriminalisierung von HIV

DIE DEKLARATION VON OSLO ÜBER DIE KRIMINALISIERUNG VON HIV

Verfasst von internationaler Zivilgesellschaft in Oslo, Norwegen, 13. Februar 2012

1. Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Kriminalisierung der Nichtoffenlegung der HIV-Infektion, der potenziellen Exposition und der nicht vorsätzlichen Übertragung von HIV mehr Schaden anrichtet, als dass sie der öffentlichen Gesundheit und den Menschenrechten nutzt. [1]

2. Eine bessere Alternative zur Anwendung des Strafrechts sind Maßnahmen, die ein Umfeld schaffen, das es Menschen ermöglicht, sich testen, unterstützen und rechtzeitig medikamentös behandeln zu lassen und ihren HIV-Status unbeschadet zu offenbaren. [2]

3. Obwohl das Strafrecht in seltenen Fällen – wenn jemand in böswilliger Absicht HIV übertragen will – eine begrenzte Rolle spielen kann, bevorzugen wir, wenn Menschen mit HIV ab dem Zeitpunkt ihrer Diagnose so unterstützt und bestärkt werden, dass auch diese seltenen Fälle verhindert werden können. Dies erfordert einen nicht verurteilenden, nicht kriminalisierenden HIV-Präventionsansatz aus den Communitys, die das beste Wissen und Verständnis von HIV haben. [3]

4. HIV-spezifische Strafgesetze sollten gemäß den Empfehlungen von UNAIDS aufgehoben werden. [4] Falls nach sorgfältiger evidenzbasierter Revision auf nationaler Ebene HIV-bezogene Strafverfolgungen immer noch als notwendig erachtet werden, sollten sie gemäß den Prinzipien von Verhältnismäßigkeit, Voraussehbarkeit, Vorsatz, Kausalität und Gleichbehandlung erfolgen, auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse zu HIV gründen, schadens- statt risikobasiert sein sowie mit den Zielen der öffentlichen Gesundheit und den Verpflichtungen zur Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte in Einklang stehen. [5]

5. Wo für HIV-bezogene Strafverfolgungen allgemeines Recht angewendet werden kann oder angewendet wird, sollte die genaue Beschaffenheit der Rechte und Pflichten von Menschen mit HIV klargestellt werden – idealerweise durch juristische und polizeiliche Richtlinien, die unter Einbeziehung von Interessenvertretern aller Beteiligten erstellt werden, um sicherzustellen, dass polizeiliche Ermittlungen angemessen sind und Menschen mit HIV Gerechtigkeit zuteil wird.

Wir bitten Gesundheits- und Justizministerien sowie andere relevante Entscheidungsträger und Akteure des Strafrechtsystems respektvoll, bei jedweden Überlegungen, ob bei HIV-bezogenen Fällen das Strafrecht angewendet werden soll oder nicht, auch Folgendes zu berücksichtigen:

6. HIV-Epidemien werden durch nicht diagnostizierte HIV-Infektionen angetrieben und nicht durch Menschen, die ihren HIV-positiven Status kennen. [6] Ungeschützter Sex kann viele Folgen haben – positive und negative – einschließlich des Risikos einer sexuell übertragbaren Infektion wie HIV. Aufgrund der hohen Anzahl nicht diagnostizierter Infektionen führt die Strategie, sich selbst schützen zu wollen, indem man sich darauf verlässt, dass der andere seinen HIV-positiven Status offenlegt – wie auch die Verurteilung von Menschen wegen nicht offengelegtem HIV-Status – zu einem Gefühl falscher Sicherheit.

7. HIV ist nur eine von vielen sexuell übertragbaren oder ansteckenden Krankheiten, die langfristigen Schaden anrichten können. [7] HIV durch Sondergesetze oder Strafverfolgung herauszuheben, führt zu einer weiteren Stigmatisierung der mit HIV direkt und indirekt lebenden Menschen. HIV-bezogenes Stigma ist das größte Hindernis, um sich testen zu lassen, eine medizinische Behandlung zu beginnen und sich zu offenbaren, aber auch für den Erfolg eines Landes auf dem Weg zu „null Neuinfektionen, null Aids-Todesfällen und null Diskriminierung“. [8]

8. Strafgesetze ändern kein Verhalten, das tief in komplexen sozialen Gegebenheiten verwurzelt ist, besonders kein Verhalten, das auf sexuellem Verlangen basiert und durch HIV-bezogenes Stigma beeinflusst wird. [9] Solches Verhalten ist veränderbar durch Beratungs- und Unterstützungsangebote für Menschen mit HIV, die auf Gesunderhaltung, ein Leben in Würde und Empowerment zielen. [10]

9. Weder das Strafrechtssystem noch die Medien sind zurzeit gut auf den Umgang mit HIV-bezogenen Fällen vorbereitet. [11] Die entsprechenden Behörden sollten angemessene HIV-bezogene Fortbildungsmaßnahmen für Polizei, Staatsanwälte, Verteidiger, Richter, Schöffen und die Medien sicherstellen.

10. Ist der HIV-Status einer Person erst einmal unfreiwillig in den Medien offengelegt worden, wird dieser Sachverhalt für immer durch eine Internetsuche auffindbar sein. Menschen, die wegen HIV-bezogener „Taten“ angeklagt sind, für die sie keine Schuld tragen beziehungsweise nicht schuldig gesprochen werden sollten, haben ein Recht auf Privatsphäre. Für die öffentliche Gesundheit ergeben sich keine Vorteile, wenn diese Menschen in den Medien benannt werden. Falls frühere Partner aus Gründen der öffentlichen Gesundheit zu informieren sind, sollten dabei Regeln eingehalten werden, die ethischen Ansprüchen genügen und Vertraulichkeit gewährleisten. [12]

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FAQs

Wer steht hinter der Deklaration von Oslo?

Wir sind eine Gruppe von Einzelpersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus aller Welt, die besorgt sind angesichts der unangemessenen und ausufernden Anwendung des Strafrechts, bei der Menschen mit HIV für ein Verhalten verurteilt und bestraft werden, das in anderen Zusammenhängen als rechtmäßig eingestuft werden würde.

Unser Bestreben ist es, dieses Unrecht zu beenden. Zu uns zählen Menschen, die mit HIV leben, und wir werden von engagierten Fürsprechern aus dem HIV-Bereich unterstützt. Unsere Expertise umfasst medizinisches, soziales, ethisches, politisches, menschenrechtliches und juristisches Fachwissen in Bezug auf HIV und Strafrecht.

Warum der Name „Deklaration von Oslo“?

Wir haben uns in Oslo (Norwegen) getroffen, am Vorabend der „High Level Policy Consultation on the Science and Law of the Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission“. Dieses Spitzentreffen wurde von der norwegischen Regierung und dem Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) einberufen. Ziel war, ein weltweites Forum zu schaffen, in dem sich politische Entscheidungsträger und andere betroffene Beteiligte über ihre derzeitigen Gesetze und Richtlinien in Bezug auf die Kriminalisierung der Nicht-Offenlegung der HIV-Infektion, Exposition oder Übertragung von HIV beraten können, auf Grundlage der neuesten und relevanten wissenschaftlichen, medizinischen, rechtlichen und die öffentliche Gesundheit betreffenden Daten.

Obwohl unsere Deklaration kein offizielles Dokument der High Level Policy Consultation ist, unterstützen wir die Ziele dieses Treffens. Wir möchten politische Entscheidungsträger dazu ermutigen, ihre eigenen Gesetze und Richtlinien zu überprüfen, und alle nötigen Schritte zu veranlassen, um bestmögliche Ergebnisse in Bezug auf Gerechtigkeit und Schutz der öffentlichen Gesundheit zu erlangen, um effektive, nationale Strategien gegen HIV zu implementieren und die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen aufrecht zu erhalten.

Was ist der aktuelle Stand bezüglich der Kriminalisierung von HIV?

Strafverfolgung findet in vielen Ländern der Welt statt, entweder mit HIV-spezifischen Strafgesetzen oder mit einer großen Bandbreite von oft unangemessenen, allgemeinen Strafgesetzen.13

Die meisten Strafrechtsfälle werden von den Anklägern und den Medien als Fälle von „absichtlicher“ oder „vorsätzlicher“ HIV-Übertragung dargestellt, während es bei der überwiegenden Zahl der Fälle weder „bösartigen Vorsatz“ noch eine vermutete oder sogar bewiesene Übertragung von HIV gegeben hat.14

In den vergangenen Jahren sind sowohl die Zahl der Strafverfolgungen als auch die Zahl von neuen HIV-spezifischen Strafgesetzen angestiegen15, und das, obwohl die Strategie des öffentlichen Gesundheits-Sektors gegen HIV – basierend auf einem menschenrechtlichen und evidenzbasierten Ansatz16 – die Anzahl der Neuinfektionen maßgeblich gesenkt und die Lebensqualität von Menschen mit HIV stark verbessert hat.17

Im Bewusstsein der wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritte im HIV-Bereich überdenken jedoch nun mehrere Länder ihren bisherigen Umgang in der Anwendung des Strafrechts.18

Wie schaden HIV-bezogene Strafgesetze und Strafverfolgung den Bemühungen der HIV-Prävention?

Viele Experten haben angesichts des großen Schadens, den ein regulativer und Strafrecht-basierter Ansatz für die HIV-Prävention nach sich zieht, ihre Bedenken angemeldet.19

Insbesondere gibt es Anzeichen für negative Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit durch:

  • falsche Darstellungen und Überbewertungen von HIV-bezogenen Risiken und Schädigungen. Dies führt zu weiteren Mythen über HIV, inklusive Übertragungsrisiken und wie man sich am besten schützen kann.
  • wachsendes, HIV-bezogenes Stigma. Dies hat Auswirkungen darauf, ob sich eine Person über HIV informieren und darüber sprechen möchte.
  • das Ausblenden der Bedeutung von individuellem Wissen und eigener Verantwortung als Schlüsselkomponenten eines HIV-Präventionsansatzes. Der Schutz vor einer HIV-Übertragung in einer mit beiderseitigem Einverständnis bestehenden sexuellen Beziehung ist eine gemeinsame Verantwortung – und sollte auch als solche wahrgenommen werden.
  • die abschreckende Wirkung, die Menschen davon abhalten kann, ihren HIV-Status wissen zu wollen. Nicht diagnostizierte (und daher unbehandelte) HIV-Infektionen schaden der Gesundheit des Betroffenen und der öffentlichen Gesundheit.20

Wie schaden HIV-bezogene Strafgesetze und Strafverfolgung den Menschenrechten?

Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass solche Gesetze und Strafverfolgung einen negativen Einfluss auf alle mit HIV lebenden Menschen haben,21 weil sie:

  • für Verwirrung und Angst hinsichtlich der Rechte und gesetzlichen Pflichten sorgen.
  • Menschen davon abhalten, Sexualpartnern ihren HIV-positiven Status zu offenbaren.
  • Menschen davon abhalten, Fachkräften des Gesundheitswesens ihr HIV-bezogenes Risikoverhalten zu offenbaren.

Ferner lassen Berichte aus aller Welt22 vermuten, dass:

  • Strafverfolgung und Ermittlungen selektiv und willkürlich erfolgen.
  • unsachgemäße und unsensible polizeiliche Ermittlungen zu unangemessener Offenlegung des HIV-Status, Verlust des Arbeitsplatzes und schwerem Leid führen können.
  • in den Medien eine stigmatisierende Berichterstattung stattfindet, bei der Namen, Adressen und Fotos von Menschen mit HIV veröffentlicht werden, die noch keiner Straftat für schuldig befunden wurden.
  • mit HIV lebenden Menschen nur eingeschränkt Gerechtigkeit zuteil wird.
  • Verurteilungen ergehen und Strafen verhängt werden, die oft in keinem Verhältnis zum möglichen oder tatsächlichen Schaden stehen.23

Warum schadet die Kriminalisierung von HIV vor allem Frauen?

Politiker und andere Entscheidungsträger mögen annehmen, dass sie Frauen schützen, indem sie HIV-spezifische Gesetze vorschlagen und verabschieden. Aber Kriminalisierung von HIV schützt Frauen nicht vor Nötigung oder Gewalt. Gesetze, die Frauen durch das Schaffen sozialer, rechtlicher und finanzieller Gleichberechtigung stärken und Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellen, hingegen schon.

Die Kriminalisierung von HIV schadet Frauen mehr, als dass sie ihnen hilft, weil:

  • Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit strafrechtlich verfolgt werden, da sie, aufgrund von routinemäßigen HIV-Tests während einer Schwangerschaft, oft die ersten in einer Beziehung sind, die von ihrem HIV-Status erfahren, und sie weniger wahrscheinlich dazu in der Lage sind, ihren Partnern ihren HIV-positiven Status unbeschadet offenbaren zu können. Dies ist eine Folge von ungleichen Machtverhältnissen, wirtschaftlicher Abhängigkeit und einem hohen Grad geschlechterbasierter Gewalt innerhalb von Beziehungen.24
  • Frauen mit HIV unter Umständen davon abgehalten werden können, schwanger zu werden, und/oder mit Strafverfolgung wegen der Übertragung von HIV auf ihr Kind im Mutterleib oder beim Stillen rechnen müssen. Dies beschränkt ihre reproduktive Entscheidungsfreiheit und ihre diesbezüglichen Rechte.25

Wo kann ich mehr über die Kriminalisierung von HIV erfahren?

Alle unsere Aussagen untermauernden Belege können in den Fußnoten, mit Links zu den Originaldokumenten, gefunden werden. Bitte besuchen Sie auch folgende Websites für weitere Informationen:

AIDSLEX: CRIMINALIZATION OF HIV TRANSMISSION LIBRARY (international)

CANADIAN HIV/AIDS LEGAL NETWORK: HIV CRIMINALIZATION PUBLICATIONS

CENTER FOR HIV LAW & POLICY: POSITIVE JUSTICE PROJECT (USA)

GNP+: GLOBAL CRIMINALISATION SCAN (international)

IPPF: HIV AND THE LAW (international)

NAM: HIV AND THE CRIMINAL LAW (international)

POZ: HIV CRIMINALIZATION (USA)

SERO: SERO PROJECT (USA)

Die folgenden Dokumentarfilme geben weitere Einblicke in das Thema:

How Could She?, Schweden, 2010

Legalizing Stigma, USA, 2010

Verdict on a Virus, Großbritannien, 2011

HIV Is Not a Crime, USA, 2011

Perpetuating Stigma, USA, 2012

[Deutsche Übersetzung: Nicholas Feustel]

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Fußnoten

[1] UNAIDS. Report of the Expert Meeting on the Scientific, Medical, Legal and Human Rights Aspects of Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission, 31 August-  2 September 2011.Geneva, February 2012.

[2] UNAIDS/UNDP. Policy Brief: Criminalization of HIV Transmission. Geneva, July 2008; Open Society Institute. Ten Reasons to Oppose the Criminalization of HIV Exposure or Transmission. 2008; IPPF,GNP+ and ICW. Verdict on a Virus. 2008. See also: IPPF. Verdict on a Virus (documentary) 2011.

[3] GNP+/UNAIDS. Positive Health Dignity and Prevention: A Policy Framework. Amsterdam/Geneva, January 2011.

[4] UNAIDS/UNDP. Policy Brief: Criminalization of HIV Transmission. Geneva, July 2008.

[5] UNAIDS. (2012) Op. cit.

[6] Marks G et al. Estimating sexual transmission of HIV from persons aware and unaware that they are infected with the virus in the USA. AIDS 20(10):1447-50, 2006; Hall HI et al. HIV transmissions from persons with HIV who are aware and unaware of their infection, United States. AIDS 26, online edition. DOI: 10.1097/QAD013e328351f73f, 2012.

[7] Bernard EJ, Hanssens C et al. Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission: Scientific, Medical, Legal and Human Rights Issues. UNAIDS, Geneva, February 2012; Carter M. Hepatitis C surpasses HIV as a cause of death in the US. Aidsmap.com, 21 February 2012.

[8] UNAIDS. Getting to Zero: 2011-2015 Strategy. Geneva, December 2010.

[9] Bernard EJ and Bennett-Carlson R. Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission: Background and Current Landscape. UNAIDS, Geneva, February 2012.

[10] GNP+/UNAIDS (2011) Op. cit.

[11] Bernard EJ and Bennett-Carlson R (2012) Op. cit.

[12] UNAIDS. Opening up the HIV/AIDS epidemic: Guidance on encouraging beneficial disclosure, ethical partner counselling & appropriate use of HIV case-reporting. Geneva, 2000.

[13] GNP+: The Global Criminalisation Scan Report 2010, Amsterdam, 2010; Bernard EJ: Criminal HIV Transmission Blog (2007 – 2012)

[14] Bernard EJ and Bennett-Carlson R (2012) Op. cit.

[15] Ibid.

[16] UNAIDS (2010) Op. cit.

[17] WHO, UNAIDS, UNICEF: Global HIV/AIDS Response: Epidemic update and health sector progress towards Universal Access 2011 Progress Report, Genf, 2011

[18] UNAIDS: Countries questioning laws that criminalize HIV transmission and exposure, 26. April 2011; Bernard EJ: Getting tough on criminalisation, HIV Treatment Update 210, Winter 2012

[19] Weait M: Intimacy and Responsibility: The criminalisation of HIV transmission, Abingdon, Oxon: Routledge-Cavendish, 2007; Burris S, Cameron E, Clayton M: The criminalisation of HIV: time for an unambiguous rejection of the use of criminal law to regulate the sexual behavior of those with and at risk of HIV, Social Science Research Network, 2008; Open Society Institute: Ten Reasons to Oppose the Criminalization of HIV Exposure or Transmission, 2008; IPPF, GNP+ und ICW: Verdict on a Virus, 2008; Cameron E: Criminalization of HIV transmission: poor public health policy, HIV/AIDS Policy & Law Review
14 (2), 2009; AFAO und NAPWA: HIV, Criminal Law & Public Health Forum, Canberra, September 2011; RFSU, RFSL and HIV Scheden, HIV, Crime and Punishment, Dezember 2011

[20] Cohen MS et al.: Prevention of HIV-1 Infection with Early Antiretroviral Therapy, N Engl J Med 2011, 365:493-505

[21] Mykhalovskiy E: The problem of “significant risk”: Exploring the public health impact of criminalizing HIV non-disclosure,Social Science & Medicine, 2011; Bourne A, Dodds C, Weait M.: Responses to criminal prosecutions for HIV transmission among gay men with HIV in England and Wales, Reproductive Health Matters 17(34):135–145, 2009; Menadue D.: The impact of the criminalisation issue on HIV-positive people, in: Cameron S und Rule J (eds): The Criminalisation of HIV Transmission in Australia: Legality, Morality and Reality, Sydney, NAPWA, 2009

[22] GNP+ (2010) Op. cit.; Bernard EJ. (2007 – 2012). Op. cit.; Bernard EJ and Bennett-Carlson R (2012) Op. cit.

[23] Strub S: HIV Is Not a Crime, Dokumentarfilm, 2011

[24] Athena Network: 10 Reasons Why Criminalization of HIV Exposure or Transmission Harms Women, 2009; In The Life Media: Perpetuating Stigma, Dokumentarfilm, 2012

[25] Heywood TA: State HIV disclosure forms legally inaccurate, Michigan Messenger, 7. Februar 2011; Heywood TA: Missouri backs off use of HIV client acknowledgment form, Michigan Messenger, 23. Mai 2011

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siehe auch
ondamaris 23.02.2012: Oslo Declaration on HIV criminalisation
ondamaris 23.02.2012: Oslo-Erklärung zu HIV-Kriminalisierung unterzeichnet

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Oslo Declaration on HIV criminalisation

Oslo Declaration on HIV criminalisation

Prepared by international civil society in Oslo, Norway on 13th February 2012

  1. A growing body of evidence suggests that the criminalisation of HIV non-disclosure, potential exposure and non-intentional transmission is doing more harm than good in terms of its impact on public health and human rights.[1]
  2. A better alternative to the use of the criminal law are measures that create an environment that enables people to seek testing, support and timely treatment, and to safely disclose their HIV status.[2]
  3. Although there may be a limited role for criminal law in rare cases in which people transmit HIV with malicious intent, we prefer to see people living with HIV supported and empowered from the moment of diagnosis, so that even these rare cases may be prevented. This requires a non-punitive, non-criminal HIV prevention approach centred within communities, where expertise about, and understanding of, HIV issues is best found.[3]
  4. Existing HIV-specific criminal laws should be repealed, in accordance with UNAIDS recommendations.[4] If, following a thorough evidence-informed national review, HIV-related prosecutions are still deemed to be necessary they should be based on principles of proportionality, foreseeability, intent, causality and non-discrimination; informed by the most-up-to-date HIV-related science and medical information; harm-based, rather than risk-of-harm based; and be consistent with both public health goals and international human rights obligations.[5]
  5. Where the general law can be, or is being, used for HIV-related prosecutions, the exact nature of the rights and responsibilities of people living with HIV under the law should be clarified, ideally through prosecutorial and police guidelines, produced in consultation with all key stakeholders, to ensure that police investigations are appropriate and to ensure that people with HIV have adequate access to justice.
    We respectfully ask Ministries of Health and Justice and other relevant policymakers and criminal justice system actors to also take into account the following in any consideration about whether or not to use criminal law in HIV-related cases:
  6. HIV epidemics are driven by undiagnosed HIV infections, not by people who know their HIV-positive status.[6] Unprotected sex includes risking many possible eventualities – positive and negative – including the risk of acquiring sexually transmitted infections such as HIV. Due to the high number of undiagnosed infections, relying on disclosure to protect oneself – and prosecuting people for non-disclosure – can and does lead to a false sense of security.
  7. HIV is just one of many sexually transmitted or communicable diseases that can cause long-term harm.[7] Singling out HIV with specific laws or prosecutions further stigmatises people living with and affected by HIV. HIV-related stigma is the greatest barrier to testing, treatment uptake, disclosure and a country’s success in “getting to zero new infections, AIDS-related deaths and zero discrimination”.[8]
  8. Criminal laws do not change behaviour rooted in complex social issues, especially behaviour that is based on desire and impacted by HIV-related stigma.[9] Such behaviour is changed by counselling and support for people living with HIV that aims to achieve health, dignity and empowerment.[10]
  9. Neither the criminal justice system nor the media are currently well-equipped to deal with HIV-related criminal cases.[11] Relevant authorities should ensure adequate HIV-related training for police, prosecutors, defence lawyers, judges, juries and the media.
  10. Once a person’s HIV status has been involuntarily disclosed in the media, it will always be available through an internet search. People accused of HIV-related ‘crimes’ for which they are not (or should not be found) guilty have a right to privacy. There is no public health benefit in identifying such individuals in the media; if previous partners need to be informed for public health purposes, ethical and confidential partner notification protocols should be followed.[12]

References:
[1] UNAIDS. Report of the Expert Meeting on the Scientific, Medical, Legal and Human Rights Aspects of Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission, 31 August-  2 September 2011.Geneva, February 2012.

[2] UNAIDS/UNDP. Policy Brief: Criminalization of HIV Transmission. Geneva, July 2008; Open Society Institute. Ten Reasons to Oppose the Criminalization of HIV Exposure or Transmission. 2008; IPPF,GNP+ and ICW. Verdict on a Virus. 2008. See also: IPPF. Verdict on a Virus (documentary) 2011.

[3] GNP+/UNAIDS. Positive Health Dignity and Prevention: A Policy Framework. Amsterdam/Geneva, January 2011.

[4] UNAIDS/UNDP. Policy Brief: Criminalization of HIV Transmission. Geneva, July 2008.

[5] UNAIDS. (2012) Op. cit.

[6] Marks G et al. Estimating sexual transmission of HIV from persons aware and unaware that they are infected with the virus in the USA. AIDS 20(10):1447-50, 2006; Hall HI et al. HIV transmissions from persons with HIV who are aware and unaware of their infection, United States. AIDS 26, online edition. DOI: 10.1097/QAD013e328351f73f, 2012.

[7] Bernard EJ, Hanssens C et al. Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission: Scientific, Medical, Legal and Human Rights Issues. UNAIDS, Geneva, February 2012; Carter M. Hepatitis C surpasses HIV as a cause of death in the US. Aidsmap.com, 21 February 2012.

[8] UNAIDS. Getting to Zero: 2011-2015 Strategy. Geneva, December 2010.

[9] Bernard EJ and Bennett-Carlson R. Criminalisation of HIV Non-disclosure, Exposure and Transmission: Background and Current Landscape. UNAIDS, Geneva, February 2012.

[10] GNP+/UNAIDS (2011) Op. cit.

[11] Bernard EJ and Bennett-Carlson R (2012) Op. cit.

[12] UNAIDS. Opening up the HIV/AIDS epidemic: Guidance on encouraging beneficial disclosure, ethical partner counselling & appropriate use of HIV case-reporting. Geneva, 2000.

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siehe auch

Die Deklaration von Oslo über die Kriminalisierung von HIV

„Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!“

Am 1. Dezember 2011 fand in der Frankfurter Paulskirche die Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2011 der Frankfurter Aidshilfe statt unter dem Motto ‚Gesundheit, lebenslänglich‘.
Als Dokumentation im Folgenden die Rede, die Carsten Schatz bei dieser Veranstaltung gehalten hat:

Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich möchte noch einige Momente zu meiner Vorstellung hinzufügen. Ich bin seit fast 20 Jahren HIV-positiv, also chronisch krank, wie eben dargestellt wurde, aber ich fühle mich gesund. Außerdem bin ich ich ein chronischer Weltverbesserer.

Als ich zu Beginn des Jahres eingeladen wurde, an der traditionsreichen Veranstaltungen der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche teilzunehmen, habe ich mich sehr gefreut und nach (auch für mich) bewegten Monaten in diesem Jahr freue ich mich hier zu Ihnen sprechen zu können.

Gesundheit, lebenslänglich! ist der heutige Abend überschrieben und spielt auf Diskurse an, die seit einigen Jahren in unserer Gesellschaft geführt werden.

Dabei wird Gesundheit im Wesentlichen als ein Zustand der Abwesenheit von Krankheit betrachtet und dem Individuum die Verantwortung zugeschrieben, für diesen Zustand so lange als möglich zu sorgen. Das geschieht ganz unterschiedlich. Appellativ: Rauchen gefährdet ihre Gesundheit! auch durch Drohungen – zumindest für mich ist es eine: Rauchen lässt ihre Haut altern! oder auch durch Verweigerung gesellschaftlicher Solidarität. So wurden bereits vor einigen Jahren Folgeerkrankungen von Tätowierungen oder Piercings aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen.

Meine These dagegen ist: Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Carsten Schatz / Rede in der Paulskirche 01.12.2011
Carsten Schatz / Rede in der Paulskirche 01.12.2011 (Foto: Aids-Hilfe Frankfurt)

Die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1986 formulierte andererseits:

„Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.“

Die Rede ist von

  • umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden
  • von der Befriedigung individueller wie kollektiver Bedürfnisse
  • der Wahrnehmung und Verwirklichung von individuellen und kollektiven Wünschen und Hoffnungen,
  • vom Meistern der Umwelt – auch im Sinne von Veränderbarkeit
  • von Gesundheit als einem positiven Konzept in der Einheit von individuellen und sozialen Ressourcen
  • und von Gesundheit als einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit dem Ziel des umfassenden Wohlbefindens.

In der deutschen Gesundheitspolitik und ihren Debatten fühle ich mich oft, als gäbe es diese Erkenntnisse nicht.

Genau der Zusammenhang zwischen Individuellem und Kollektivem beschreibt Solidarität, erfordert sie und beschreibt ihre Grundlagen. Gemeinhin wird Solidarität als ein Zusammengehörigkeitsgefühl beschrieben oder als Miteinander auf der Basis von Gegenseitigkeit. Ich möchte einen Schritt weiter gehen. Solidarität ist für mich zunächst bedingungslos und uneigennützig. Sie erweist sich – wie alles – in der Praxis und nicht in Worten. Solidarität ist mehr als Mitgefühl. Solidarität bedingt Freiheit und kann nicht erzwungen werden. Solidarisch ist man oder frau nicht, solidarisch handelt man oder frau.

Nun wird nicht nur mir entgegengehalten, dass Solidarität ihre Grenzen habe. Ein junger Mann, der sich heute, mit dem Wissen der letzten 30 Jahre, mit HIV infiziere, der sei doch selbst Schuld, der verdiene keine Solidarität, noch weniger, wenn er sich vor dem Gang in die Sauna, den Darkroom – wohin auch immer – mit Drogen beneble. Er müsse das Risiko doch kennen.
Die Raucherin, die trotz der erschreckenden Mitteilung „Rauchen lässt ihre Haut altern“ zur Zigarette greift.
Der Autofahrer, die Bergsteigerin, Extremsportler, die Alkoholikerin, die Aufzählung ließe sich, je nach Perspektive unendlich fortsetzen…. nicht enthalten sind allerdings die workaholics, meist gut bezahlt, die sich zum frühen Herzinfarkt arbeiten.

Was steckt da eigentlich dahinter?

Neben – wie auch immer motivierten – Schulddiskursen ist es auch der Drang zur Normierung, auch ein Hauch Diktatur, aber vor allem die Idee, individuelles Wissen führe zu Verhaltensänderung und diese Verhaltensänderung zu mehr Gesundheit.

Am Rande: Dass dem leider nicht so ist, erleben HIV-Positive jeden Tag. Zahnärztinnen und Zahnärzte, die HIV-positiven die Behandlung verweigern, Radiologinnen und Radiologen, die für eine Röntgenaufnahme eines Positiven Gummihandschuhe anziehen. Beispiele dafür, dass Wissen, das ich bei Ärztinnen und Ärzten voraussetze, eben nicht zu einer Verhaltensänderung führt.

Der Grundfehler aus meiner Sicht liegt hier in der Betonung der individuellen Verhaltensänderung als Grundlage von Gesundheit.

Erinnern wir uns noch mal an die Ottawa-Charta, der Zusammenhang von Individuellem und Kollektiven.

Die Aids-Hilfen in Deutschland haben schon Anfang der 90er Jahre ein Arbeitskonzept entwickelt, das die strukturelle Prävention postuliert, den Zusammenhang von Verhaltens- und Verhältnisprävention, das Miteinander von Primärprävention, also der Verhinderung von HIV-Infektionen, die Sekundärprävention, Maßnahmen zur Verhinderung des Ausbruchs von Aids und der Tertiärprävention, Maßnahmen, um den Menschen so lange als möglich ein gutes Leben mit dem Vollbild Aids zu ermöglichen, ein Konzept das Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität verbindet und fördert.
Bernd Aretz hat dazu rückblickend formuliert:

„Gesundheit war nicht von Virenfreiheit abhängig, sondern davon, dass in der konkreten Lebenssituation ein Höchstmaß an Autonomie und Würde erhalten blieb. Dies setzte einen geänderten gesellschaftlichen Umgang und eine Förderung der individuellen Möglichkeiten voraus. Die Strukturen mussten geändert werden. Das ging von der Abschaffung des §175 zur Legalisierung der Substitution und möglichst auch des Drogengebrauchs zur rechtlichen Absicherung der Sexarbeiter/innen bis zu einem grundlegend anderen Umgang mit Migranten.“

Und in dieser Beschreibung steckt die nächste Dimension von Solidarität, einer Solidarität die in Aids-Hilfen und in der Selbsthilfe der Menschen mit HIV/Aids gewachsen ist und die wir die Solidarität der Uneinsichtigen nannten. Eine Solidarität, die uns gegenseitig stärkte und die uns half unsere Umwelt zu meistern und zu verändern.
Die Abschaffung des §175 war hier schon erwähnt, die Legalisierung von Substitution, das Prostitutionsgesetz all diese Veränderungen konnten gemeinsam erreicht werden.
Aber auch diese Solidarität muss immer neu errungen werden, fällt nicht vom Himmel. Wenn ich heute bei facebook lese, dass ein Freund von mir aus München ebendort im schwulen Distrikt von einem jungen Schwulen ob seines sichtbaren Alters angepöbelt wird, dann zeigt das, da liegt noch ne Menge Arbeit auf der Straße.

Es zeigt mir – nebenbei bemerkt – auch, dass die schwulen Communities endlich realisieren sollten, dass neben der rechtlichen Gleichstellung, die wir bis auf die Öffnung der Ehe weitgehend erreicht haben, weitere Debatten geführt werden müssen, in denen es um eine Vielfalt von Vor-Bildern auch in den schwulen Communities geht, eine Vielfalt, die den Normierungen in schwuler Szene, etwas entgegensetzt und der neuen Generation ein unbeschwerteres Leben ermöglicht.
Natürlich brauchen wir auch eine Debatte – und die haben wir – über Homophobie in der Gesellschaft, ihre Ursachen und wirksame Strategien zur Förderung sexueller Vielfalt. Beispielgebend sind hier die Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen, die Landesprogramme aufgelegt haben bzw. auflegen, übrigens unter breiter Beteiligung der Communities.

Dass es der Aids-Bewegung bis heute nicht gelungen ist, im Gegenteil zu Spanien, die Spritzenvergabe in deutschen Knästen (mit einer Ausnahme, dem Frauenknast in Berlin-Lichtenberg) durchzusetzen, schmerzt mich. Martin Dannecker nannte das auf der Präventionskonferenz der Deutschen Aids-Hilfe einen Grund sich zu empören. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Denn auch hier gilt die Achtung von Autonomie und nicht der Drang, Ideologie – der Knast wäre drogenfrei – in den Himmel zu heben. Deshalb wird es für die DAH in den nächsten Jahren ein wichtiger Schwerpunkt sein, hier deutliche Fortschritte zu erreichen.

Und – bevor die berechtigten Einwände kommen – ja, HIV/Aids hat sich verändert. Es ist zu einer chronischen Erkrankung geworden. Viele Menschen haben die Panik vor dem schnellen Tod verloren. Ich finde das nicht schlimm.

Schlimm finde ich vielmehr, dass im öffentlichen Diskurs nach wie vor auf alleinige Wissensvermittlung gesetzt wird und das andere – für mich so wichtige – Moment der Konfrontation mit Menschen mit HIV vernachlässigt wird. Ich bin froh, dass es der DAH gelungen ist, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dem Bundesministerium für Gesundheit und der Deutschen Aids-Stiftung, seit dem vergangenen Jahr eine Kampagne zum Welt-Aids-Tag zu machen, die reale Menschen mit HIV in den Mittelpunkt stellt, Konfrontation und Solidarität ermöglicht. Leider läuft diese Kampagne eben nur zum Welt-Aids-Tag und nicht das ganze Jahr über.

Denn die Angst vor Diskrimierung und Ausgrenzung ist geblieben und ist real. Wenn vor wenigen Wochen in Berlin ein junger Mann gekündigt wurde, weil er HIV-positiv ist, wohlgemerkt, es geht nicht um einen Chirurgen, der unter Umständen, wie es ein befreundeter Chirurg ausdrückte, bis zum Ellenbogen in eines Patienten Körper steckte, nein, der junge Mann war für die Qualitätskontrolle in einem Pharma-Unternehmen zuständig. Die Begründung des Gerichts, dass die Kündigung für rechtmäßig hielt, hat übrigens nicht den konkreten Arbeitsablauf und daraus erwachsende Gefahren – die es nicht gibt – benannt, sondern darauf rekurriert, dass HIV als chronische Erkrankung nicht vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgedeckt sei. Nun denn, meine Damen und Herren aus den Parteien – ich nehme das auch selbst als Mitglied einer Partei mit – , dann müssen wohl chronische Erkrankungen in diesen Katalog aufgenommen werden.

Und gegen diese Diskrimierung und Ausgrenzung müssen wir Aufstehen, wann immer sie uns begegnet. Sei es in dieser Form oder in Form von Homophobie, der Kriminalisierung des Drogengebrauchs, Sexismus oder Rassismus. Und das geht eben nicht nur an den entsprechenden Tagen, wie dem 1. Dezember, dem 8.März (Welt-Frauentag – wer es nicht weiß), dem 17. Mai (dem internationalen Tag gegen Homophobie), im Juli zum Gedenktag für die Opfer des illegalisierten Drogengebrauchs, sondern das ganze Jahr über in der Straßenbahn, im Bus, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Kneipe und im Verein.

Denn genau diese Solidarität kann – wir erinnern uns an Ottawa – dazu beitragen, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu steigern.

Und gemeinsam müssen wir den gesellschaftlichen Diskursen entgegentreten, die uns gegeneinander ausspielen wollen, die Solidarität verhindern. Die finanzielle Zukunft der deutschen Sozialversicherungssysteme wird eben nicht durch Leistungskürzungen wiederhergestellt, sondern durch Umstellung der Mechanik der Beitragsrechnung. Die wurde im Zeitalter der industriellen Massenproduktion erfunden, auf dem damals der gesellschaftliche Reichtum basierte. Der Reichtum ist noch da, er wächst sogar stärker als je zuvor, allerdings erarbeiten ihn immer weniger Menschen. Also sollte die Finanzierungsgrundlage verbreitert werden, dann sind die solidarisch finanzierten Sozialversicherung für alle auch weiter zu finanzieren. Das klingt nach Umsturz?

Übrigens: Auch diese Erkenntnis ist nicht ganz neu. Rudolf Virchow, der berühmte Berliner Arzt, der auch ein 1848-er Revolutionär war, formulierte:

„Gegen Elend und Seuche kann nur der Umsturz helfen, der zu Freiheit und Wohlstand führt.“

Herzlichen Dank!

„Menschen mit HIV dürfen nicht haftbar gemacht werden für die Ängste der nicht Betroffenen“

Am 1. Dezember 2011 lud der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg in die Handelskammer Hamburg zum Welt-Aids-Tags-Empfang. Dieses Jahr war der Empfang dem Schwerpunkt-Thema „HIV und Arbeit“ gewidmet. Im Folgenden als Dokumentation die Ansprache von Rechtsanwalt Jacob Hösl, Köln:

„Menschen mit HIV dürfen nicht haftbar gemacht werden für die Ängste der nicht Betroffenen“

Sehr geehrte Frau Senatorin Prüfer-Storcks,
sehr geehrter Herr Hanck, liebe Gaby Wirtz,
sehr geehrte Damen und Herren,

ganz herzlichen Dank für die Einladung zum Senatsempfang der Freien und Hansestadt Hamburg anlässlich des Welt-Aids-Tages 2011 und, was in diesem Jahr besonders bedeutsam ist, hier in der Handelskammer Hamburg. Ich habe noch nie anlässlich eines Welt-Aids-Tages eine Ansprache gehalten und betrachte dies somit auch als besondere Ehre. Eine Ansprache zum Anlass des Welt-Aids-Tages zum Thema HIV und Arbeit ist sehr zeitgemäß und ich hoffe, ich werde dem Thema gerecht.

Der Welt-Aids-Tag ist traditionell der Tag des Gedächtnisses an die an Aids Verstorbenen. Vielerorts wird dieser Tag mit Gedenkfeierlichkeiten begangen. Der Welt-Aids-Tag ist der Tag des Mitgefühls der Menschen hier in Deutschland und in der Welt mit den Menschen mit HIV und Aids. Die Menschen zeigen durch ihre Spenden an die verschiedensten Aids-Hilfe-Organisationen ihre Anteilnahme und Solidarität. Auch ich denke an diesem Tag – mehr als sonst – an meine verstorbenen Freunde, meine verstorbenen drei Mitbewohner in meiner früheren WG, und besonders an meinen besten Freund Claus Gillmann, der sich an einem wunderschönen sonnigen Augustmorgen 1994 von uns verabschiedet hat und der mir die Ehre hat zuteil werden lassen, diesen sich tief in meiner Erinnerung eingegrabenen intimsten Moment seines Lebens mit ihm teilen zu dürfen. Der Welt-Aids-Tag ist – jedenfalls bislang – der Tag des „Alten Aids“.

Der Welt-Aids-Tag ist Jahr für Jahr auch der Tag, an dem wir an diese Zeit durch Bilder erinnert werden.

Fast Jahr für Jahr sehen wir – nahezu gebetsmühlenartig – den Film „Philadelphia“ am 1.12. im Fernsehprogramm. Und: ich sehe ihn mir auch immer wieder an. So sehr ich versuche, mich gegen die durch die dramatische Inszenierung geschickt gesteuerten Emotionen zu wehren, so sehr haben sie immer wieder auch bei mir ihre Wirkung. Auch in mir werden die Bilder von damals wachgerufen. Sie bewegen und erschüttern mich alljährlich aufs Neue zutiefst. Gleichzeitig merke ich, so eigenartig das klingen mag, wie mich doch die Sehnsucht nach diesen Gefühlen der Intimität und Solidarität in der damaligen Schicksalsgemeinschaft nach wie vor in zahlreichen Momenten immer wieder einfängt. Und ich denke, dass dies auch seine Bedeutung hat und wir diese Emotionen nicht verleugnen sollten, denn sie sind ein wichtiger Motor für das was wir tun und sie zeigen uns ein Verständnis für unsere heutige Situation, die Schwierigkeiten beim Übergang zum „neuen Aids“.

Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich ausgerechnet diesen Film erwähne, der ja alles andere als unumstritten ist. Ich erwähne diesen Film, weil ich auf der UNAIDS-Konferenz zur Kriminalisierung der HIV-Exposition im August dieses Jahres den Rechtsanwalt und Professor Scott Burris aus Philadelphia kennen lernen durfte. Anlässlich eines abendlichen Hotel-Bar-Gesprächs stellte sich heraus, dass er seinerzeit der juristische Berater der Filmproduktion gewesen ist und er hat ein wenig hierüber erzählt. Es handelt sich nämlich neben dem Umstand, dass es ein „Tränen-Drama“ ist auch um einen Film über HIV und Arbeit und über HIV und Diskriminierung in der Arbeitswelt. Und dies zu der Zeit des „Alten Aids“. Er erzählte, dass damals das zentrale Anliegen der Produktion war, eine Antidiskriminierungsbotschaft zugunsten der Menschen mit HIV und Aids auszusenden. Eine Botschaft an die Gesellschaft, an uns, Menschen mit HIV nicht auszuschließen, und dass der geeignetste „Trägerstoff“ einer solchen Botschaft der Bereich „Arbeit“ war. Arbeit und Beschäftigung sind und waren schon immer die zentralen, die Existenz sichernden Bereiche unseres Zusammenlebens. Hier sollte es hin, hier sollte die Botschaft platziert werden. Im Kern der menschlichen Überlebensbedingung.
Am Ende des Films spricht die Jury des Gerichts gewissermaßen als Verkörperung von uns allen ihren Richtspruch, der nichts anderes sagt, als: „Menschen mit HIV, Menschen mit Aids, gehören zu uns. Wir alle schützen sie und wir sorgen dafür, dass sie arbeiten und somit leben können!“ In diesem Bekenntnis liegt für mich die eigentliche – von dem Hollywood-Sentiment der Inszenierung etwas distanzierte – Aussage des Films.

Von den in Deutschland mit HIV lebenden Menschen befinden sich ca. 80 % in Beschäftigung und Arbeit. Dies ist ein durchaus zufriedenstellender Zahlen-Befund. Was ist es also, was uns beim Thema HIV und Arbeit umtreibt? Weshalb betrachten die Fachorganisationen dies als ein zentrales gesellschaftpolitisches Anliegen bei der Unterstützung von Menschen mit HIV in unserer Gesellschaft?

Vielleicht dienen ein paar wenige reale Geschichten, die ich nur beispielhaft anführen will, sich der Problematik von Menschen mit HIV im Arbeitsleben zu nähern.

Da ist zum Beispiel die des jungen Mannes, der als Late-Presenter schwer krank ins Krankenhaus kam, dann mehrere Monate krank war und darüber seinen alten Job verloren hatte. Als er nach einigen Monaten wieder gesund war, bewarb er sich für einen Büro-Job bei der GEZ, der Gebührenbeinzugszentrale des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – dies sei betont. Im Zuge seiner HIV-bedingten Erkrankung hatte er den Schwerbehindertenstatus erlangt. Nach Unterschrift der Arbeitsverträge – man suchte als öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber Schwerbehinderte – hierauf angesprochen, teilte der junge, selbstbewusste schwule Mann, der in der Zeit des „neuen Aids“ seine HIV-Infektion mit rationaler Gelassenheit trug, seinem zukünftigen Arbeitgeber mit, dass die Schwerbehinderung sich auf seine HIV-Infektion beziehe. Der junge Mann erhielt die Kündigung des Arbeitsvertrages in der Probezeit, noch bevor er überhaupt das erste Mal an seinem Schreibtisch saß. Später sagte er mir, dass er niemals mehr in seinem Leben an seinem Arbeitsplatz oder in einem Bewerbungsverfahren irgendjemandem von seiner HIV-Infektion etwas erzählen werde. Ich hatte auch das Gefühl, dass dieses Erlebnis nach langer Zeit schwerer und lebensbedrohlicher Krankheit ihr Übriges getan hat, um aus dem jungen heiteren Rheinländer einen tief verletzten Mann zu machen, der HIV in seiner ganzen gesundheitlichen und sozialen Brutalität innerhalb weniger Wochen hat kennen lernen müssen.

Die meisten der Beratungen, die ich in meiner beruflichen Praxis in diesem Zusammenhang durchführe, ranken sich um die Frage des Umgangs mit der HIV-Infektion im Arbeitsverhältnis, insbesondere bei der Bewerbung und betriebsärztlichen Untersuchung und der Verbeamtung.

Erst letzte Woche war ein junger Rettungsassistent mit seinem Freund bei mir, dessen existenzielles Anliegen es war, zu klären, ob der BG-Arzt, der die HIV-Infektion kurz zuvor diagnostizierte, diese seinem Arbeitgeber mitteilen würde bzw. ob dieser auf anderem Wege hiervon erfahren könnte. So existenziell dies für ihn war, so auffällig gelassen waren er und sein Freund im Umgang der HIV-Infektion selbst und beide sahen sehr klar die medizinischen Normalitäten bei HIV. Sie empfanden dieses Ereignis zwar als „ärgerlich“, weil es ein Sex-Unfall gewesen sein musste, aber keinesfalls als Weltuntergang. Allerdings wäre diese Information beim Arbeitgeber in den Augen beider sehr wohl ein „Weltuntergang“. Ich weiß aber auch von einem HIV-infizierten Chef einer Firma, dass er existenziell fürchtet, dass seine Mitarbeiter erfahren könnten, dass er HIV-positiv ist.

Natürlich höre ich auch immer wieder gute Geschichten. Tolle Erlebnisse der Solidarität von Arbeitgebern und Vorgesetzten. Dies hat auch sein Gewicht und bildet unsere Gesellschaft ebenso ab, wie die abschreckenden Geschichten und Alpträume für die Betroffenen. Der aus meiner Sicht bedeutendste Fall spielt in Süddeutschland, wo ein Unfall-Chirurg trotz HIV-Infektion und zusätzlich einer Hepatitis-C-Infektion weiterhin seinen Dienst versehen konnte. Unter Einbeziehung verschiedener Fachleute, so auch von Jens Jarke hier aus Hamburg, unter Beteiligung der örtlichen Gesundheitsbehörden und des Gesundheitsministeriums des Landes konnte erreicht werden, dass ein HIV- und HCV-positiver Arzt seinen Beruf weiter ausüben kann. Dies war möglich, weil rationale Betrachtung und Besonnenheit dazu geführt hat, dass alle Beteiligten Risiken für Patienten ausschließen konnten. Erwähnen muss man allerdings, dass der Betriebsarzt auf ausdrücklichen und inständigen Wunsch des Betreffenden in die Klärung nicht einbezogen wurde, weil er auf jeden Fall vermeiden wollte, dass sein Arbeitgeber oder auch nur irgendjemand am Arbeitsplatz hiervon erfährt.

Was haben aber diese Fälle gemeinsam? Es geht immer um Geheimnis und Heimlichkeit. Jeder Mensch, der HIV-infiziert ist, und im Arbeitsleben steht, setzt sich mit der Frage auseinander, ob er seine HIV-Infektion offenbaren muss oder kann und welche Folgen dies für ihn haben würde. Nahezu alle Menschen mit HIV gehen mit ihrer Infektion im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses als Geheimnis um.

Was HIV im Arbeitsleben so schwierig macht, wie natürlich in anderen Lebensbereichen auch, ist die diffuse irrationale Angst zu vieler Menschen vor einer HIV-Infektion – und allem Abgründigen, was man hiermit noch verbindet. Um diese Angst für sich greifbar zu machen, projezieren und personalisieren sie sie in Menschen mit HIV hinein. Dieser Bedrohung wollen sich HIV-Positive verständlicherweise nicht aussetzen. Gemessen an den vielen 1000 Beschäftigungsverhältnissen, in denen Menschen mit HIV arbeiten, gibt es natürlich nicht viele „Fälle“, wie ich sie oben beschrieben habe. Aber die wenigen bekannten Geschichten wirken neben zahlreichen anderen Faktoren, die das Leben von Menschen mit HIV erschweren, tief im Inneren aller Menschen mit HIV. Und natürlich spüren auch alle Menschen mit HIV, dass „die anderen Angst vor ihnen haben“. Sie können sich ja auch an ihre eigenen Ängste erinnern, bevor sie selbst infiziert waren.

Es scheint aber so, dass auch die anderen gar nichts hiervon wissen wollen, damit der Arbeitsalltag reibungslos und effizient funktioniert. Sanktioniert wird also derjenige, der ohne irgendeine Gefahr für Dritte darzustellen, die Unverfrorenheit besitzt, den anderen diese diffuse Angst vor Augen zu halten und sie damit in ihrer „heilen Welt“ zu „stören“.

Es verwundert also nicht, wenn in der Patientenzeitschaft HIV-Life der Fa. Abbot für Menschen mit HIV in einem Beitrag mit dem Titel: „Ganz schön knifflig – HIV am Arbeitsplatz aus Arbeitgebersicht“ im Ergebnis zwar Solidarität für Menschen mit HIV eingefordert wird, aber andererseits ausgiebig und ausschließlich die Problematik des offenen Umgangs mit der HIV-Infektion am Arbeitsplatz aus Sicht der Arbeitgeber betrachtet wird und für Verständnis des Arbeitgebers geworben wird, wenn er zwar kein Problem hat, jemanden mit HIV zu beschäftigen, aber es doch nicht sein müsse, das vor Kollegen oder – noch schlimmer – vor Kunden an die große Glocke zu hängen, weil die könnten ja schlecht informiert sein und dann Angst haben oder Kunden könnten gar weg bleiben.

Es ist schwierig, zu orten, was mich oder uns an diesen Geschichten irritiert und aufmerksam werden lässt. Ich muss kaum erwähnen, dass bis auf ganz wenige sehr spezielle Tätigkeiten HIV im Arbeitsleben völlig irrelevant ist. Man könnte sich begnügen mit der Aussage des Juristen, arbeitsrechtlich gelte für Menschen mit HIV nicht anderes als für die ohne HIV und dies könnte gerichtlich auch durchgesetzt werden. Ich könnte Ihnen sagen, dass gesundheitliche Probleme eines Mitarbeiters solange uninteressant für den Arbeitgeber zu bleiben haben, solange sie seine Leistungsfähigkeit nicht betreffen und andere nicht in Gefahr bringen. Ich könnte Ihnen auch sagen, dass der Arzt, der Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis durchführt, sich bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit an der konkreten Ausübung des Beschäftigungsverhältnisses zu orientieren hat und dass er darüber hinaus auch gegenüber dem Arbeitgeber zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.

Dies scheint mir allerdings nicht den Kern des Problems zu treffen. Das umso mehr, als ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass heute im Vergleich zu früher zur Zeit des „alten Aids“ Angst und die Abstoßung von Menschen mit HIV stärker ist als zuvor. Oder vielleicht bringen sie mich einfach nur mehr auf als früher, weil alles was wir über heute über HIV wissen, rechtfertigt Situationen und Gefühle, wie ich sie beschrieben habe unter keinem einzigen rationalen Gesichtspunkt.

Der Kern des Problems von Menschen mit HIV im Arbeitsleben liegt, so scheint es mir, in eben besagtem Geheimnis, das diese um ihre Infektion gleichsam machen müssen. Wer ein Geheimnis um etwas macht, was ihn betrifft und was für ihn gleichzeitig so lebenswichtig und existenziell ist, fürchtet also, wie gesehen, berechtigterweise Nachteile, wenn er dies offenbart. Dieser Befund, der möglicherweise etwas banal daherkommt, hat indes eine bedeutsame Dimension, wenn es um HIV geht. Nicht nur, dass Menschen mit HIV ab dem Zeitpunkt, ab dem sie ihre Infektion kennen, von vormals offenen und aufrichtigen Menschen gleichsam in einer existenziellen Notlage zu lebenslangen „Lügnern“ werden müssen, die sie zuvor nie waren und auch nie sein wollten. Und fast noch beunruhigender erscheint mir, dass wir in dieser Gesellschaft sogar wünschen, dass sie Lügner und Geheimnisträger bleiben. Wir scheinen uns nicht mit diffusen – real nicht existierenden – Gefahren auseinandersetzen zu wollen und stoßen diejenigen ab, die uns mit unserer Angst konfrontieren. Und, was es besonders schlimm macht, richtet sich dies gegen Menschen, mit denen wir zusammen leben.

Neben den Einschränkungen in der Sexualität, die bei HIV natürlich augenfällig sind, besteht gerade in der gesellschaftlich und vor allem im Arbeitsleben erforderlichen „Diskretion“ und ständigen Achtsamkeit, das Geheimnis nicht lüften zu müssen oder von dritter Seite nicht lüften zu lassen, die nahezu neurotische Lebenssituation, in der sich Menschen mit HIV fortwährend befinden. Das ist weder ein guter Zustand für die Menschen mit HIV, sondern auch nicht gut für den Zustand unserer zivilen und eigentlich aufgeklärten Gesellschaft.

Es war auch kein gutes Zeichen, als die Bundesregierung, obwohl ihr eigenes Gesundheitsministerium befürwortete, die HIV-Infektion als Diskriminierungsmerkmal in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufzunehmen, hier keinen Handlungsbedarf sah. Es wird dem deklaratorischen Charakter gerade dieses Gesetzes nicht gerecht, wenn Menschen mit HIV, die zu denjenigen gehören, vor denen die Allgemeinbevölkerung am meisten Angst hat und sich ihnen gegenüber das meiste herausnimmt, nicht unter den Schutz dieses Gesetzes gestellt werden.

Hilfreich ist, dass nunmehr, nach gut 25 Jahren HIV und Aids, sich die medizinischen Aids-Fachorganisationen und der Nationale Aids-Beirat entschlossen haben, sich fachlich zu HIV im Arbeitsleben in medizinischen Empfehlungen zu äußern. Ich hoffe, dies wird Menschen mit HIV helfen, sich selbstbewusster gegen irrationale und ablehnende Haltungen in ihrem Arbeitsumfeld zur Wehr zu setzen. Außerdem müssten wir die Arbeitsrichter entsprechend weiterbilden, damit in Entscheidungen, wie erst jüngst beim Arbeitsgericht Berlin, sich ein Arbeitgeber bei einer Kündigung nicht mehr erfolgreich auf ein diffuses Restrisiko berufen kann, das sich weltweit noch nie verwirklicht hat und deshalb in Wahrheit gar nicht existiert.

Wir sind in den letzten 25 Jahren medizinisch im Bereich HIV sehr weit gekommen. Menschen mit HIV können ein nahezu beschwerdefreies Leben führen und erreichen nach heutigen Erkenntnissen wohl ein nahezu normales Lebensalter. Das bedeutet aber auch, dass alle diese Menschen, wie alle anderen Menschen auch, ein normales Arbeitsleben bis zum gesetzlichen Rentenalter oder möglicherweise darüber hinaus, haben werden und auch haben müssen, denn natürlich müssen auch Menschen mit HIV, wie auch alle anderen, arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen. Das ist eine lange, und für Menschen mit HIV auch eine wegen des Geheimnisses, das sie hüten müssen, dauerhaft schwierige Zeit.

Solange dies so ist und solange wir solche Fälle wie ich sie beschrieben habe, immer wieder und auch heute noch erleben müssen, solange haben wir die Aids-Krise, wenn auch heute medizinisch „gut im Griff“, alles andere als überwunden. Ich wünsche mir eine durch Handlungen begründete Erneuerung des Bekenntnisses: „Menschen mit HIV, Menschen mit Aids, gehören zu uns. Wir alle schützen sie und wir sorgen dafür, dass sie arbeiten und somit leben können!“

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine kleine Geschichte erzählen: Mir erzählte neulich jemand von einer Begebenheit in der Universitätsklinik, wo er behandelt wurde. Er hatte ein wahrscheinlich mit seiner HIV-Infektion zusammenhängendes Non-Hodgkin-Lymphom, eine Art Lymphdrüsenkrebs, das sich durch eine ganz beträchtliche Lymphknotenschwellung in der Achsel sogar äußerlich zeigte. Bei der Voruntersuchung zur Entnahme einer Gewebeprobe in der Achsel trug ein junger Arzt in der Facharztausbildung zum Chirurgen doppelte Gummihandschuhe. Ich betone, es ging ausschließlich um das äußere Abtasten der Schwellung. Der Patient wies sodann den Oberarzt darauf hin, er möge seinem jungen Kollegen doch bitte erläutern, dass er sich beim äußeren Abtasten einer Schwellung unter keinen erdenklichen Gesichtspunkten mit HIV infizieren könne und es hätte doch zu hygienischen Zwecken weiß Gott gereicht, ein einfaches Paar Handschuhe zu tragen. Dieser hielt dem Patienten entgegen, er müsse doch für die Ängste seiner jungen Kollegen Verständnis haben. Hierauf erwiderte der Patient, nein, das habe er nicht und das wolle er auch nicht mehr. Er wolle nicht mehr, nur weil er selbst HIV-infiziert ist, Verständnis für die irrationalen und unbegründeten Ängste aller Anderen haben. Er sei es leid. Es sei deren Aufgabe, sich damit zu beschäftigen.

Meine Damen und Herren, er hat recht. Menschen mit HIV dürfen nicht haftbar gemacht werden für die Ängste der nicht Betroffenen. Unabhängig von HIV dürfen Kranke nicht verantwortlich gemacht werden für die unbegründete Furcht der Gesunden. Eigentlich, so meine ich, müssten wir diesen Gesellschaftzustand überwunden haben.

Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, mich beunruhigt eines wirklich sehr: Wenn HIV und Aids eines Tages kein medizinisches Problem mehr sein werden, die Zeit in der wir heute leben als diejenige gelten wird, in der die aufgeklärte und zivile Gesellschaft von den Menschen mit HIV beschämt wurde.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

„Unsere Geschichte sind unsere Geschichten“ – Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?

Vom 4. bis 6. November 2011 fand in Berlin die Präventions-Konferenz der Deutschen Aids-Hilfe statt. Michael Jähme befasste sich in einem hier dokumentierten Impuls-Vortrag mit der Frage des Erinnerns:

„Unsere Geschichte sind unsere Geschichten“ –
Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?

Impulsvortrag zur DAH-Präventionskonferenz „Bis hierher – und noch weiter…“, 4.-6.11.2011 in Berlin
Workshop 1.3. Neues AIDS – alte Bilder / „Es sterben doch immer noch so viele!“

Wenn ich mich an die nun 30 Jahre von HIV und Aids erinnere, spüre ich als erstes, welch mächtigen Einfluss HIV auf mein Leben genommen hat. Durch HIV kam ein Faktor ins Leben, den weder ich noch andere schwule Männer ignorieren konnten. Wir mussten eine Form des Umgangs und des Arrangements mit diesem Virus finden. Das Virus wurde eine fremdbestimmende Einflussgröße, welche Autonomie und Eigenart zu beherrschen drohte, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Erinnerungen sind scheu. Sie stellen sich nicht auf Kommando ein. Erinnern ist nicht planbar. Erinnerungen kommen spontan. Manchmal überfallen und erschüttern uns Erinnerungen, wenn wir gar nicht damit rechnen: Untrennbar sind Erinnerungen mit Emotionen verbunden.

Wir spüren, dass das, was wir erinnern, immer emotional besetzt ist. Überhaupt erinnern Menschen nur, was emotional bedeutsam war im Leben. Es sind oft Begegnungen mit Menschen, bei denen wir uns wohl, geborgen und sicher gefühlt haben, mit denen wir Nähe erlebt haben, eben besondere, herausragende Momente im Leben.
Wir erinnern Erlebnisse, die selbstwertstärkend waren, wo wir uns angenommen und verstanden gefühlt haben – aber eben auch genau gegenteilige Erfahrungen: Situationen von Bedrohung, Gefahr und kränkender Ablehnung. Wir erinnern Brüche und Wendepunkte im Leben, Ereignisse, die starke Veränderungen ausgelöst haben, wo etwas Neues in unser Leben hineingekommen ist.

Wenn wir uns erinnern, vergewissern wir uns dabei unserer Identität und der Kontinuität unseres Lebens. Wie bedeutsam, ja existenziell die Fähigkeit zur Erinnerung für unser Identitätserleben ist, wird deutlich, wenn Menschen durch ein Hirntrauma, Demenz oder andere Ursachen ihr Erinnerungsvermögen verlieren: Sie wissen dann nicht mehr, wer sie sind, sie sind beziehungslos und verloren in der Zeit.

Unsere Erinnerungen sind also unser Anker und unsere Verortung in der Welt und in unserer Lebensumgebung, die sich permanent verändert. Durch das Bewusstsein über den eigenen Lebensweg erhalten wir die Gewissheit und Sicherheit, wo wir hingehören, wo wir zuhause und verwurzelt sind. Erinnerung ist Halt und Orientierung. Wir identifizieren uns mit dem, was wir erlebt haben: Es ist unsere Geschichte, die wir erzählen können und es ist unser Biografie, unsere Lebensgeschichte, unsere Einzigartigkeit.

Für ein selbstbewusstes Älter-werden hat in meinem Verständnis eine zentrale Bedeutung, möglichst umfassend zu allem, was ich erlebt habe und was ich handelnd getan habe, sagen zu können: „Ja, so war es – genau so war es!“

Angesichts von HIV und Aids wird es nun schwer, rückblickend auszuhalten, wie es war. Es sind doch viele Erinnerungen von starker und existenzieller Bedrohung: HIV machte Angst, die homophobe, sexualfeindliche Gesellschaft machte Angst – und gleichzeitig erlebten viele von uns, wie Partner, Freunde, Weggefährten, Menschen in unserem Umfeld, starben– oder auch wir selber durch HIV krank wurden.

Ob als HIV-Positiver, HIV-Negativer oder Ungetesteter: es ging ums Überleben in einer bedrohlichen und feindlichen Welt. Der Solidarität anderer konnten wir nie selbstverständlich gewiss sein. Unsere Erinnerungen sind oft bittere und schmerzhafte Erfahrungen.

Wie kann man überhaupt mit der Fülle all dieser Erfahrungen leben? Als ich einen über 60-jährigen schwulen Langzeitpositiven und HIV-Aktivisten der ersten Jahre einmal fragte: „Was machst du nur mit all deinen vielen Erinnerungen?“, antwortete dieser nach einem kurzen Moment des Innenhaltens spontan: „So schnell wie möglich vergessen!“
Diese Antwort stimmt mich nachdenklich. Ja, es ist eine Wahrheit, dass es vieles in unserem Leben gibt, an das wir uns nicht gerne erinnern, weil der Schmerz immer noch so groß ist – und wahrscheinlich auch bis an unser Lebensende groß bleiben wird.

Das ist glücklicherweise nur die eine Seite der Medaille.

Denn Not schweißt auch zusammen und angesichts der früher auszuhaltenden Not gab es oft unerwartete Hilfe und Solidarität von außen, und es gab einen sich immer stärker organisierenden Zusammenhalt von innen. Es gab nicht nur die persönlichen Niederlagen, wenn Freunde und Weggefährten an Aids starben, es gab auch Siege, wo wir uns als starke Gemeinschaft erlebten, wo wir uns in der Gesellschaft behaupteten, Einfluss und Macht errungen und unsere Realität in die öffentliche Wahrnehmung gerückt haben.

Zum Wesen der Erinnerung gehört die Nachdenklichkeit. Beim Erinnern blicken wir aus einer veränderten Perspektive und aus zeitlicher Distanz auf das Erlebte zurück. Indem wir Erinnerungen teilen und mitteilen, bewerten wir darin das Erlebte immer wieder neu, können es in einen größeren Zusammenhang stellen und die Bedeutung der Ereignisse neu bewerten.

Und wenn wir erst einmal anfangen, uns zu erinnern, dann erinnern wir auch immer mehr! Auch vergessen geglaubte Erfahrungen werden wieder wach. Sich zu erinnern braucht Zeit – und das Erinnern widersetzt sich damit hartnäckig einem Zeitgeist, der auf Professionalität, Ergebnisproduktion und Effektivität fokussiert ist. Wer sich erinnert, geht eben nach „innen“, geht auf eine Zeitreise in seine innere Welt. Vielleicht ist das Erinnern auch deshalb eher dem Alter vorbehalten, weil dann – befreit von beruflichen Zwängen – mehr Zeit da ist, sich zu erinnern. Gleichzeitig entsteht ein Bedürfnis, in der Fülle der eigenen Biografieerfahrungen den Überblick nicht zu verlieren: Wir finden eine Struktur, definieren Episoden und Abfolgen, konzentrieren Erlebtes in erzählbaren Geschichten.

Brauchen wir also eine neue Kultur des Erinnerns?

Ich vermag nicht zu benennen, ob wir überhaupt eine „alte“/bisherige Kultur des Erinnerns leben. Unsere Geschichte sind unsere Geschichten – und Geschichten zu erzählen wird häufig als verstaubt und unangebracht sentimental abgewertet. Wo gönnen wir uns denn im Alltag die Zeit, uns Geschichte und Geschichten zu erzählen? Wenn aber in unserer Geschichte unsere Identität liegt, vernachlässigen wir uns selber, wenn wir unsere Geschichten nicht wertschätzen und erzählen. Es lohnt, die Erinnerungen einzuladen. Erinnerungen sind stolz: Sie kommen nur zu denen, die ein offenes Ohr mitbringen.

Ich glaube, wir brauchen zunächst eine Sensibilität und ein Bewusstsein für den Wert des Erinnerns. Unsere Erinnerungen sind ein Schatz an Erfahrungen. Schließlich leben wir noch – und verfügen offensichtlich über Fähigkeiten und Lebensweisheiten, die dieses Überlegen zustande gebracht haben.

„Jeder hat das Recht auf Sex ohne Kondom, auch Menschen mit HIV“ – Forderungen und Positionen aus dem Workshop „Kriminalisierung von Menschen mit HIV“

Im Rahmen des 144. Bundesweiten Positiventreffens fand am 29. Juni 2011 im Waldschlößchen ein Workshop zum Thema ‚Kriminalisierung von Menschen mit HIV‘ statt. Die Teilnehmer erarbeiteten gemeinsam mit dem Workshop-Leiter RA Jacob Hösl eine Resolution, die im Folgenden dokumentiert ist:

Forderungen und Positionen aus dem Workshop „Kriminalisierung von Menschen mit HIV“ am 29.6.2011 im Rahmen des 144. HIV-Positiven-Treffens

Forderungen und Positionen aus dem Workshop „Kriminalisierung von Menschen mit HIV“ am 29.6.2011 im Rahmen des 144. HIV-Positiven-Treffens im Waldschlösschen Gleichen-Reinhausen, gerichtet an die Aidshilfeorganisationen, allen voran an die Deutsche Aids-Hilfe. Sie mögen sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel dafür einsetzen.

Denn nicht akzeptabel, ärgerlich und verletzend ist das Bild von Sexualität, wie es leider seit Jahren, zum Teil wider besseres Wissen, in Öffentlichkeitskampagnen verbreitet wird. Diese müssen ehrlicher und zur Änderung der falschen Bilder zunächst auch provokanter werden. Das ist nötig, weil das „alte Aids“ heute eher Schreckgespenst denn Wirklichkeit ist, was aber bei den meisten Menschen noch nicht angekommen ist.

Viele von uns sind nicht mehr ansteckend.

Weitgehender Konsens unter den Teilnehmern herrschte über Folgendes:

1. Es gibt keine Sicherheit, auch nicht beim Sex.

2. Die Selbstbestimmtheit der „HIV-Negativen“ im Sexualverhalten muss gestärkt werden.

3. Jeder hat das Recht auf Sex ohne Kondom, auch Menschen mit HIV.

4. Die Unwissenheit über HIV muss beseitigt werden, das Wissen muss verbreitet werden, etwa über die tatsächliche Infektiosität.

5. Die Angst „HIV = Sex + Tod“ muss genommen werden.

6. HIV-Positive müssen antidiskriminierungsrechtlich geschützt werden.

7. Geld für Antidiskriminierungskampagnen muss bereitgestellt werden.

Arbeitsgericht Berlin weist Klage gegen Kündigung wegen HIV-Infektion ab

Zumm Fall des wegen HIV gekündigten Chemie-Laboranten, dessen Klage abgewiesen wurde, als Dokumentation eine Pressemitteuilung des Arbeitsgerichts Berlin:

Arbeitsgericht Berlin weist Klage gegen Kündigung wegen HIV-Infektion ab

Der Arbeitnehmer ist HIV-infiziert und wurde von dem Arbeitgeber, einem Pharmaunternehmen, als Chemisch-Technischer Assistent beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis in der Probezeit wegen der HIV-Infektion.

Der Arbeitnehmer hat die Kündigung für unwirksam gehalten. Die bloße Infektion mit dem HI-Virus könne nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses berechtigen. Zudem habe der Arbeitgeber ihn durch die Kündigung wegen einer Behinderung diskriminiert und sei daher nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet. Der Arbeitgeber hat demgegenüber geltend gemacht, dass die Kündigung noch in der Probezeit erfolgt sei; sie sei zudem aus Gründen der Arbeitssicherheit unumgänglich gewesen. Eine Diskriminierung des Arbeitnehmers sei nicht erfolgt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Kündigung könne nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung hin überprüft werden, weil der Arbeitnehmer noch keine sechs Monate beschäftigt gewesen sei und das Kündigungsschutzgesetz daher keine Anwendung finde. Die Kündigung sei auch nicht willkürlich ausgesprochen worden, weil die vom Arbeitgeber für sie angeführten Gründe nachvollziehbar seien. Der Arbeitgeber habe den Kläger zudem nicht wegen einer Behinderung diskriminiert und müsse daher auch eine Entschädigung nicht zahlen. Die bloße HIV-Infektion führe nicht zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und stelle daher keine Behinderung im Rechtssinne dar.

Gegen das Urteil kann Berufung bei dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.

Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 21. Juli 2011 – 17 Ca 1102/11

(Pressemitteilung Arbeitsgericht Berlin)

Hans-Peter Hauschild zum Gedenken

Am 3. August 2003 starb Dr. Hans-Peter Hauschild in Berlin. Hauschild, 1954 geboren, war u.a. Geschäftsführer der Frankfurter Aids-Hilfe und Mitglied im Bundesvorstand der Deutschen Aids-Hilfe. Hans Peter Hauschild gilt u.a. als “Mit-Erfinder” des Konzepts der strukturellen Prävention, das bis heute tragender Gedanke der Aids-Prävention in Deutschland ist.
Hans-Peter Hauschild ist in Berlin auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof beigesetzt
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Die Deutsche Aids-Hilfe hat am 15. Juli 2011 den Hans-Peter-Hauschild-Preis für besondere Verdienste um die strukturelle Prävention ausgelobt.

Als Dokumentation und Hintergrund die Rede, die Bernd Aretz am 16. November 2003 bei der Frankfurter Trauerfeier für Hans-Peter Hauschild hielt:

Frankfurt Trauerfeier Hans-Peter Hauschild

Als wenn das beliebig wäre, was wir sexuell geworden sind! Das, worauf wir abfahren, ist die Handschrift unserer Seele. Bei jedem ist das eine ausgesprochen persönliche Sache. Nichts davon ist zufällig oder marottenhaft, wetterte Hans Peter in der Frankfurter Regenbogenpost gegen eine Safersex Party, auf der selbst das Küssen verboten war, von Anderem ganz zu schweigen. Hans Peter war mit der Positivengruppe zu einer Jack Off Party nach Amsterdam gereist, zu Fortbildungszwecken. Das sollte später noch Ärger bereiten, weil ein hiesiger schwuler Mann meinte, der finanzierenden Behörde anzeigen zu müssen, dass weder der Antrag noch die Reiseabrechnung dem Anlass entsprochen hätten.

Wir erinnern HPH: Kurzgeschoren, Schnurbart, enge Lederjeans, einen Mann, der offensichtlich und selbstverständlich schwul lebte, nicht nur nach Feierabend. Man musste ihn schon so nehmen, wie er war, ganz und kompromisslos. Wenn die Verhältnisse nicht so waren, wie sie seinem Erkenntnisstand als notwendig erschienen, mussten sie halt geändert werden. Da mochte der Rest der Welt denken, was er wollte, HIV durfte nicht verhindern, dass der Einzelne das Glück und seine sexuellen Grenzerfahrungen und Überschreitungen in Würde und Respekt suchen und möglichst auch finden konnte. Das Klima war nicht gut dafür.

Tätowierung Infizierter wurde gefordert, Internierung uneinsichtiger Prostituierter, die ihren Beruf nicht aufgeben wollten, eine harte Verelendungs- und Vertreibungspolitik gegenüber Junkies und Ausländern geführt. Infizierten Frauen wurde das Recht auf Schwangerschaft abgesprochen. Nicht nur Heterosexuelle suchten das Heil in der Phantasie der Zerschlagung schwuler Szene und Schließung der Orte der Lust.
Hans Peter war berufen, als eine der Leitfiguren dagegen anzukämpfen. Er kommt aus der Tradition der Flüchtlinge, die ihre bisherigen engen räumlichen Grenzen und emotionalen Bindungen verließen, um in Würde und selbstbestimmt leben zu können – ungewiss ob sie ihr Ziel erreichen, aber ohne eine andere Alternative als die der Selbstaufgabe. Ein widriger Weg, auf dem man lernt, dass ein Treck nicht an jeder roten Ampel halt machen darf. Der Anführer eines solchen Zugs muss die Zauberkunst beherrschen, das unmöglich Scheinende in erreichbare Nähe zu rücken, den Transport der Schwachen und Kranken sichern, die Mitziehenden ermutigen und mit den jeweiligen Landesherren um lebbare Bedingungen und um Räume feilschen. Da darf man keine Angst vor Tod und Teufel haben, vor Gott schon eher. So ein Weg ist nicht ohne Auseinandersetzungen, Missverständnisse, Brüche aber auch nicht ohne Halt in der Gemeinschaft und nicht ohne Charisma zu gehen.

Mein Blut bekommt Frau Helm nicht, verkündete er und wandte sich damit gegen den Alleinvertretungsanspruch der Medizin, die er damals durch die universitäre Einladung Michael Kochs, des Gauweiler Intimus in Sachen Zwangsmaßnahmen nach Frankfurt in der seuchenrechtlichen Ecke sah. Dem setzte er das Gesundheitskonzept der Weltgesundheitsorganisation entgegen, das Gesundung in engem Zusammenhang mit würdigen Lebensbedingungen und Selbstbestimmung der Betroffenen sieht.

Mitgründung der Aids-Hilfe Frankfurt, Aufbau einer Infrastruktur wie Beratungszentrum und Switchboard, Kochen auf der Station 68, Regenbogenpost und Radio, Veranstaltungen zu sachlichen Fragen wie auch die ethische Auseinandersetzung um Aids, Räume der Trauer aber auch des Feierns, politische Aktionen und Demonstrationen gehörten zum Alltag.
Wir haben hier gemeinsam in der Nikolai Kirche die erste von vielen Trauerfeiern erlebt. Ihm war wichtig, dass viele auch an der Gestaltung beteiligt waren, das Gemeinschaftserleben gegen die Vereinzelung zu fördern.
Gemeinsames Plakatmalen gegen das Gefühl der Ohnmacht. Und Papiere wurden produziert, Bündnisse geschlossen, Aktionen geplant. Mit obdachlosen Jugendlichen gemeinsam wurde ihrem Anliegen, eine Bleibe zu erhalten, dem der Aids-Hilfe für eine Krankenwohnung und dem der Schwulenbewegung nach einem Kulturhaus durch eine halbstündige Sperrung der Hauptwache Donnerstags zum Berufsverkehr Nachdruck verliehen. Genehmigt war das Ganze nicht, aber die Absprache mit der Polizei, dass wir das Krankenbett und die Rollstühle wieder beiseite schieben, sobald der freundliche Fotograf der Rundschau mit seinen Aufnahmen fertig sei, funktionierte.

Das Switchboard, dessen Realisierung er bei ungesicherter Finanzierung durchsetzte, obwohl er wusste, dass ihn das seine Stellung als Geschäftsführer der Aids-Hilfe kosten könne- und auch hat – war ihm ein besonderes Anliegen. Hier wurde heiß diskutiert. Seine Feststellung, der Infizierte sei nicht dafür verantwortlich, dass die Infektion nicht weitergegeben werde, wurde als Freibrief missverstanden. Er wollte die gemeinsame bewusste und informierte Entscheidung. Für Bedingungen, in denen die möglich war, kämpfte er. Nach Frankfurt in Berlin im Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe.
Er preschte immer wieder vor, mit einer ungeheuren Präsenz in den Medien, auch mit vorher nicht abgestimmten Plänen und Projekten. Wenn es gar nicht anders ging, schaffte er einfach Fakten. Heiße Diskussionen waren unvermeidlich. Sie wurden immer wieder mal unterbrochen, wenn er seine Stundengebete verrichtete. Und er litt, wenn wir seinen Visionen nicht folgten, andere; bescheidenere, angepasstere Vorstellungen von Grenzüberschreitungen und Glück hatten. Aushaltbar war das nur durch den Respekt gegenüber seiner Ernsthaftigkeit, seiner Glaubwürdigkeit, und durch seine Begeisterungsfähigkeit. Er besuchte die Aidshilfen, kirchliche Veranstaltungen, pflegte Kontakte zu Wissenschaft und Politik, diskutierte, versuchte zu überzeugen und zu verführen. Er trieb seinen Verband, sich der persönlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen, Gesicht zu zeigen, Farbe zu bekennen und die Seele bloßzulegen. Ohne ihn, seine Ideen, seine Triebhaftigkeit und seinen Fleiß wäre die Bewegung nicht geworden, was sie ist. Sie ist untrennbar mit seinem Gesicht verbunden, dass auch folgerichtig auf einem der Plakate der Deutschen Aids-Hilfe Schwule Vielfalt / Schwule Solidarität abgebildet ist.

Er beschreibt, dass seine Entfremdung zur Deutschen Aids-Hilfe begann, da sie sich nicht ernsthaft in die Diskussion über die Veränderungen im Gesundheitswesen einmischte. Mir hat er mal erzählt, daneben sei es aber auch so, dass er das verbreitete egoistische Beharren darauf, dass es kein größeres Elend gebe, als in der Bundesrepublik als schwuler Mann mit Hiv infiziert zu sein, nicht mehr ertrage.

Vor zehn Jahren schrieb er: Weil die soziale Not weltweit zunimmt, muss Aids-Hilfe eine Anwältin der Schwachen sein. Sie soll aufzeigen, dass speziell die Homo-„Gemeinde“ in eine reiche Manageretage und einen Kartoffelkeller verarmender Schamexistenzen zerfällt. Sie muss die Verfolgung von Junkies wirksamer bekämpfen als bisher.

Denn wenn schwulen Männern nur ein Bruchteil dessen angetan würde, was auf den Bahnhofsklos als schaurige Spitze eines Eisbergs juristisch zugefrorener Behördenherzen sichtbar wird, hätten wir längst die Rathäuser gestürmt.

Zu Situation von Flüchtlingen schrieb er vor fünf Jahren: Nur wenige MigrantInnen sind Hiv-infiziert, und mit Aids schafft niemand die Tort(o)ur einer Einreise aus der armen Welt nach Deutschland. Fast alle dieser wenigen erfahren erst nach ihrer Flucht oder Einreise in Deutschland von ihrer HIV-Infektion. Die Anzeichen häufen sich, dass auch viele erst hier krank werden, weil die Duldungsbedingungen so würdelos sind , weil der tägliche Stress durch Kontrollen und Absagen den Alltag perspektivlos macht und Angst zur Grundstimmung wird. Wer verbessert die Strukturen des Strandens, des Ankommens in dieser Gesellschaft, damit sie nicht das Aids-Vollbild auslösen?

Wie wird sich die „Positivenbewegung“ verhalten? Und dies nicht nur in Sonntagsreden auf Bundesversammlungen von Menschen mit Hiv und Aids, sondern als gelebter Widerstand, der eben darum effektiv sein könnte, weil in Deutschland so viele Betroffene aus gutem Haus kommen und gehobene Positionen einnehmen. Oder zucken letztlich alle mit den Achseln angesichts dessen, dass die gesellschaftlichen Strukturen heute Aids-Prävention zu einem Kastenprivileg machen?

Hans Peter fehlt.

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Zahlreiche Texte von Hans-Peter Hauschild sowie weitere Informationen sind auf seiner Internetseite zu finden.

„Political Declaration on HIV/AIDS: Intensifying our Efforts to Eliminate HIV/AIDS“

Die über 3.000 Teilnehmer der „United Nations General Assembly on HIV/Aids“ verabschiedete am Freitag, 10. Juni 2011 die Erklärung:
„Political Declaration on HIV/AIDS: Intensifying our Efforts to Eliminate HIV/AIDS“.

Die Resolution ist als pdf verfügbar in arabischer chinesischer, englischer, russischer und französischer Sprache hier.

UNAIDS begrüßte in einer Presseerklärung die gesetzten Ziele der neuen Erklärung.

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weitere Informationen:
Political Declaration on HIV/AIDS: Intensifying our Efforts to Eliminate HIV/AIDS
UNAIDS 10.06.2011: Bold new AIDS targets set by world leaders for 2015
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