ondamaris sagt Danke und Tschüss

ondamaris sagt Danke und Tschüss.

Nach beinahe sieben Jahren Informationen zu HIV/Aids und zum Leben mit HIV ist nun erstmal Schluß – dieses ist der letzte Artikel auf ondamaris.

Von den ondamaris-Leserinnen und Lesern möchte ich mich mit einem herzlichen Dankeschön verabschieden !

.

Am 6. März 2006 erschien der erste ondamaris-Artikel, vor beinahe sieben Jahren. Über 2.300 Artikel wurden seitdem auf ondamaris veröffentlicht, im Schnitt also über die gesamte Zeit ein Artikel jeden Kalender-Tag. Annähernd 8.000 Kommentare erhielten diese Artikel – auch dafür allen Leserinnen und Lesern meinen herzlichen Dank!

Einige Artikel fanden besonders viele Leserinnen und Leser. An erster Stelle: das Tabu-Thema Feigwarzen – tabuisierte STD mit 250.000 (!) Zugriffen, gefolgt von Oralverkehr: “sehr geringes Risiko”  mit 80.000. Sehr viel gelesen auch der Artikel über das EKAF-Statement und die Konsequenzen keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs (annähernd 40.000 Leser/innen) nebst dem DAH-Positionspapier HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe (über 18.000), und über Prävention Prävention muss aufklärerisch ansetzen (über 20.000Zugriffe).

Ein besonderer Dank gilt dem gemeinnützigen Verein gay-web.de e.V. – der all die Jahre hindurch ondamaris unentgeltlich gehostet hat, und ohne dessen technischen Support die Seite so nicht möglich gewesen wäre.

.

Nach beinahe sieben Jahren ondamaris (und über 15 Jahren, zählt man/frau die Vorläufer wie HIV-Nachrichten und HIVlife mit) ist es an der Zeit, tschüss zu sagen.

.

Tschüss bedeutet konkret: ab heute erscheinen bis auf weiteres keine neuen Artikel mehr. Die bisher erschienenen Artikel bleiben zunächst weiterhin online, allerdings wird ist die Kommentar-Möglichkeit in wenigen Tagen seit 22.11.2012 deaktiviert.

Und: wer mit mir in Kontakt bleiben möchte, findet mich auch weiterhin in diversen sozialen Netzwerken – oder auf der privaten Site , die mein Mann und ich machen 2mecs.
Und vor allem: im realen Leben …

Au revoir, und: vielen Dank für deine / Ihre Treue, Kommentare, Unterstützung,

Ulli Würdemann

.

.

siehe auch
queer.de 14.11.2012: „Ondamaris“ verabschiedet sich aus der Blogosphäre
Steven Milverton 14.11.2012: “Es wurde zwar über uns gesprochen, aber nicht mit uns.”
Bernd Aretz / DAH-Blog 15.11.2012: ondamaris.de ist eingestellt – Ein Abschiedsgruß
Gay Boys News 14.11.2012: “Ondamaris” verabschiedet sich aus der Blogosphäre
Herzenslust 14.11.2012: Internet-Portal ondamaris hört auf
.


“ Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit „

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit, dieses von der Universität Bielefeld (Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung) entwickelte Modell könnte Anregungen geben für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Stigmatisierung HIV-Positiver.

Stigmatisierung (nicht nur als) HIV-Positiver und Aids-Kranker stand im Mittelpunkt eines Fachtags der Deutschen Aids-Hilfe. Michael Müller (Universität Bielefeld) stellte dort das Modell (Syndrom) Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) vor.

Eine ‚Ideologie der Ungleichwertigkeit‘ wird dabei als Kern von Vorurteil und Stigmatisierung gesehen und ist zentral im GMF-Syndrom. Was Stigmatisierung und Diskriminierung befördert (zum Beispiel gesellschaftliche Entwicklungen wie eine zunehmende Ökonomisierung sozialer Beziehungen), haben die Bielefelder Wissenschaftler über eine  Zeitraum von zehn Jahren analysiert.

Einen kurzen Überblick über das Modell gibt ein Artikel in „Aus Politik und Zeitgeschehen“ (Bundeszentrale für politische Bildung):

„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit widerspricht der Wertvorstellung von Gleichwertigkeit. Sie rechtfertigt Ideologien der Ungleichwertigkeit, die ihrerseits soziale Ungleichheit langfristig zementieren können.“

.

Die Präsentation des Konzepts GMF Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit durch Dipl.Päd. Michael Müller in Vertretung für Prof. Zick – für mich das Highlight auf dem Fachtag „Ausgrenzung. Macht. Krankheit. HIV-bezogener Stigmatisierung entgegentreten!“, den die Deutsche Aids-Hilfe am 27. und 28. Oktober 2012 in Berlin veranstaltet hat.

Gesellschaftlichen Entwicklungen räumen die Bielefelder Forscher eine zentrale Bedeutung im Rahmen des Syndroms Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ein. Diese Zusammenhänge zu verstehen und analysieren könnte Aidshilfe(n) wie auch HIV-positiver Selbsthilfe Grundlagen und Anregungen geben zur Auseinandersetzung mit Stigmatisierung.

.

Eva Groß, Andreas Zick, Daniela Krause alle: Universität Bielefeld)
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 16-17/2012)
„Ungleichheit, Ungleichwertigkeit“
als Print vergriffen, Download als pdf hier

.

siehe zum Thema auch
Prof. Dr. Andreas Zick, Dr. Beate Küpper, Andreas Hövermann
„Die Abwertung der anderen –
Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung“
Als Download bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (pdf)

.

Gesundheits- Informationen, queer.de und das Geld der Pharma-Industrie

Gesundheits-Informationen für schwule Männer mit HIV und Aids – eine gute Idee bestimmt, auch auf einem Portal wie queer.de. Aber – muss das mit Pharma-Geld sein? Kann diese ‚Information‘ dann ‚unabhängig‘ sein? Ein großes Unbehagen macht sich breit … und viele Fragezeichen.

Einen ‚Themenkanal‘ (Rubrik) „gezielt an schwule Männer mit HIV/Aids“ unter dem Namen ‚Gesundheit HIV+‘ hat das Internetportal für Schwule queer.de heute gestartet. Gesundheitsinformationen für schwule Männer, speziell für HIV-Positive – eine gute Idee. Weit weniger gut finde ich: dieser Themenkanal wird durch einen (1 !) Pharmakonzern ‚ermöglicht‘ (spricht: bezahlt). Dass auf dieses Pharma-Sponsoring von Gesundheits-Informationen unter den Artikeln in einem ‚Disclaimer‘ hingewiesen wird, macht die Sache nicht besser …

queer.de teilt in seinem Newsletter heute (29.10.2012) mit

„Heute starten wir einen neuen Themenkanal auf queer.de, der sich gezielt an schwule Männer mit HIV/Aids richtet. Mit Service und Tipps für ein gesundes Leben, Basics für „Einsteiger“ mit frischer HIV-Diagnose, neue Infos aus der Medizin, verständlich aufbereiteten Forschungsergebnissen und Storys aus den Lebenswelten HIV-Positiver.“

Im Newsletter sowie im Hinweis auf die neue Rubrik auf sozialen Netzwerken wird auf den Hinweis auf das Sponsoring durch die Pharmaindustrie verzichtet, ebenso in der Rubrik-Ankündigung auf der Startseite sowie in der Rubrik-Summenseite wird dieser (für den Leser nicht unwichtige) Hinweis verschwiegen. Unter den jeweiligen Artikeln des Themenkanals wird immerhin per ‚Disclaimer‘ hingewiesen:

„Dieser Artikel wurde inhaltlich frei von einem queer.de-Autoren verfasst. Der Themenkanal „Gesundheit HIV+“ wird durch Unterstützung von „[[Name eines Pharmaunternehmens]]“ ermöglicht.“

Das Sponsoring erfolgt durch einen Pharmakonzern, der in den vergangenen Jahren seinen Anteil auf dem Markt der Aids-Medikamente (auch durch gezielte Marketing-Maßnahmen) in bemerkenswertem Ausmaß  gesteigert hat, und der gerade aktuell mit einem Medikament besonders in der Diskussion ist (und ein besonderes Interesse an Publizität haben dürfte).

.

Auf den bisherigen Artikel-Seiten ist zudem jeweils eine Anzeige platziert für eine HIV-bezogene Smartphone-App. Es bleibt zu hoffen, dass die Site-Betreiber geprüft haben, wie seriös dieses Angebot ist, wer was mit den Daten macht etc.

.

Sponsoring ist (im Gegensatz zu Mäzenatentum) nicht ohne Gegenleistung. Und Pharma-Sponsoring ist vermutlich nicht eben interessenneutral.

.

Vielen, die in Medien oder im Bereich der Patienten-Information arbeiten, ist vermutlich bekannt, dass Unternehmen und Verbände der Pharma-Industrie auf viel subtilere Weisen Wege finden, Inhalte zu platzieren, Themen zu setzen, Berichterstattung zu beeinflussen, als durch direkte Einflussnahme.

Da werden vielleicht vom gutaussehenden (im HIV-Bereich gern schwulen) Pharma-Referenten ’spannende Themen‘ vorgeschlagen. Oder die mütterliche Frau vom Pharmakonzern weiß zufällig eine – selbstverständlich unabhängigen – Referentin oder einen Autoren für ein Thema. Und da findet doch dieser spannende Kongress an diesem ziemlich attraktiven Ort statt, ob man denn da vielleicht mal teilnehmen wolle? Man dürfe natürlich anschließend gern darüber berichten …

Phantasien eines Kommentators? So mancher Mitarbeiter einer Aidshilfe, so mancher Redakteur von Gesundheits-Magazinen kann da vermutlich von noch ganz anderen ‚kreativen Ideen‘ berichten.

So sind dies nur einige wenige (zudem eher offensichtliche) Beispiel dafür, wie Einflussnahme auch indirekt sehr gut möglich ist – auch innerhalb dessen, was der ‚Disclaimer‘ an Unabhängigkeit suggeriert.

Wegen dieser möglichen eher subtileren Wege der Wahrnehmung ihrer Interessen durch Unternehmen und Verbände rufen ‚Disclaimer‘ wie oben oft ein gewisses Schmunzeln hervor, suggerieren sie doch eine Unabhängigkeit, die vorsichtig formuliert zumindest hinterfragenswert erscheint.

.

Aidshilfe und HIV-positive Selbsthilfe haben sich seit Jahren mit der Frage Finanzierung / Sponsoring durch Pharma-Industrie auseinander gesetzt. Und es sind brauchbare Konzepte entstanden (wenn auch nicht alle Aidshilfen diese immer einhalten, aber dies ist ein anderes Thema).

Dabei sind u.a. folgende Punkte als sinnvoll zu erörtern deutlich geworden:

  • Ist Pharma-Sponsorig wirklich erforderlich, zumal es nie ohne Gegenleistung und nie interessenneutral ist?
  • Pharma-Sponsoring nicht ‚direkt am Thema‘ – d.h. kein Pharma-Sponsoring von an Patienten gerichteten Gesundheits-Informationen
  • Wenn Pharma-Sponsoring, dann nicht direkt durch ein Unternehmen, sondern durch mehrere Unternehmen und über einen (möglichst durch eine mit dem Inhalt nicht befasste Stelle koordinierten) Pool, um direkte wie indirekte Einflussnahmen zu erschweren.

Dies sind nur Beispiel der Gedanken, Konzepte, Ideen (siehe Links unten) zur Frage, wie umgehen mit Pharma-Geld – falls man/frau es denn für unumgänglich hält dies zu nehmen.

.

Es bleibt zu hoffen, dass die Macher von queer.de sich zentrale Fragen gestellt haben. Und mir ist klar, dass auch ein Portal wie queer.de, das seine Artikel unentgeltlich zur Verfügung stellt,  Einnahmen braucht.
Allein – es bleiben viele Fragen. Muss es gerade Gesundheitsinformation sein, die durch ein Unternehmen der Pharmabranche gesponsert wird? Und durch ein (einziges) Unternehmen?

Ein großes Unbehagen bleibt.
Und ein nicht eben grundloses Unbehagen.
Ich jedenfalls möchte neutrale Informationen zu Gesundheitsthemen lesen.
Und nicht durch Pharma-Industrie gesponserte ‚Artikel‘ – die werd ich eben nicht anklicken, nicht beachten. Auch auf queer.de nicht, auch in diesem ‚Themenkanal‘ dann eben nicht.

.

.

Einige Informationen und Gedanken zum Themenbereich Pharma-Sponsoring und Gesundheits-Informationen:

Leitsätze der DAH zur Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie
ondamaris 16.9.2010: Selbsthilfe und Pharma-Sponsoring – Materialsammlung
ondamaris 27.07.2010: Unabhängigkeit der Selbsthilfe: Monitoring- Ausschüsse legen 2. Jahresbericht vor
Leitsätze der Selbsthilfe für die Zusammenarbeit mit Personen des privaten und öffentlichen Rechts, Organisationen und Wirtschaftsunternehmen, insbesondere im Gesundheitswesen
ondamaris 22.02.2009: Verdeckte Werbung der Pharma-Industrie
.

Nach Washington: Genug des Optimismus – Packen wir’s an

Die XIX. Internationale Aids-Konferenz ist vorbei.

Verfolgte man die Berichterstattung in den Medien, kann man den Eindruck gewinnen, es sie alles nicht mehr so schlimm mit HIV und Aids – und werde von nun an immer besser. „Optimistischer Abschluss der Welt-Aids-Konferenz“ titeln auch seriöse Medien, oder ziehen noch prägnanter das Resümee „Der Anfang vom Ende der Aids-Epidemie“.

Oder die Statements von Politikern. Eine „Generation ohne Aids“ sieht Hillary Clinton, US-Außenministerin, schon am Horizont, und Francois Hollande, französischer Staatspräsident, sieht (wie andere auch) die Möglichkeit, „die Aids-Epidemie in der ganzen Welt zu beenden“.

Nun müssen große Konferenzen große Schlagzeilen produzieren, um hohe mediale Aufmerksamkeit zu erlangen (oder: die Verantwortlichen glauben dies zumindest). Und Politiker benutzen solche Momente gerne für starke  Worte, einprägsame Formulierungen, um selbst Schlagzeilen zu produzieren (in wessen Interesse, bliebe dabei zu hinterfragen).

Allein – bei all dem Jubel bleibt ein schaler Beigeschmack.

Millionen HIV-Positive weltweit erhalten keinerlei antiretrovirale Behandlung, obwohl sie sie dringend benötigen. Warum? Weil das Geld fehlt. Weil die erforderlichen Strukturen fehlen. Weil die Medikamenten-Preise für viele Staaten (u.a. aufgrund von Patentrechten von Pharamkonzernen aus Industriestaaten) unerschwinglich hoch sind. Ganz abgesehen von den sozialen Bedingungen, der Stigmatisierung und Diskriminierung, der Verfolgung und Kriminalisierung, der HIV-Positive in vielen Staaten der Welt ausgesetzt sind.

Und auch hierzulande ist nicht ‚alles im grünen Bereich‘, bei weiten nicht. HIV-positiv am Arbeitsplatz, das ist immer noch ein alles andere als sorgenloses Thema. HIV-Zwangstests stehen wieder auf der politischen Tagesordnung. Kriminalisierung HIV-Positiver ist auch hierzulande bedrückt auch hier. Probleme mit Kondomen in Knästen, Methadon-Programmen im Strafvollzug sind immer wieder Grund für Ärger. HIV-Positive haben immer wieder Probleme bei bzw. mit ihrem Zahnarz . Und dies sind nur einige beispielhafte Probleme im Leben mit HIV, das derzeit auch hierzulande noch weit davon entfernt ist, entspannt zu sein.

Es ist schön, Visionen zu haben, Visionen von einer „Generation ohne Aids“.

Und ich wünsche zukünftigen Generationen weltweit, dass sie ohne den Horror, der Aids für meine Generation war, leben können.

Bis diese Visionen vielleicht Realität werden, sollten wir die realen Probleme nicht aus den Augen verlieren – und sie anpacken. Die Probleme vor der eigenen Haustür, genauso wie die in Regionen die manchmal so weit entfernt schienen, uns aber dennoch sehr wohl viel angehen.

Egal ob ignorante Politiker, desinformierte Zahnärzte oder Regierungen, die glauben sich unterfinanzierte Aids-Programme leisten zu können – unsere Probleme liegen (auch) vor unserer Haustür.

Wie sagte es ein längst aus der Mode geratener Werbespruch:

Packen wir’s an.

 

 

ein herzlicher Dank an Roland

Die XIX. Internationale Aids-Konferenz in Washington ist vorbei.

Tausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind auf dem Rückweg, auch die Delegation der Deutschen Aids-Hilfe DAH. Unter ihnen Roland – der mit einem Scholarship der DAH als HIV-Positiver erstmals eine Welt-Aids-Konferenz besucht hat.

Und der für ondamaris täglich live berichtet hat, welche Veranstaltungen er besuchte, welche Themen ihm persönlich wichtig erschienen, welche Eindrücke er gewonnen hat. Zehn Tage lang hat Roland live berichtet, aus den Meetings und Prä-Konferenz-Symposien, die vor der Aids 2012 stattfanden, wie auch jeden Tag live von der XIX. Internationalen Aids-Konferenz in Washington.

Eine Übersicht über alle Beiträge in ‚Rolands Washington-Tagebuch‘ ist hier zu finden:

XIX. Internationale Aids Konferenz 2012 : täglich live dabei mit Roland

Alle (auch die weiteren) Artikel, die auf ondamaris zu Themen der XIX. Internationalen Aids-Konferenz Washington 2012 erschienen sind, liefert in einer Übersicht ein Klick auf das Stichwort ‚Aids2012‚ (alle Artikel auf ondamaris sind seit langem Stichworten zugeordnet).

Eine Welt-Aids-Konferenz zu besuchen mit ihren Tausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern, einem nahezu unüberschaubaren Vortrags- und Veranstaltungsangebot, ständig neuen spannenden Begegnungen mit Kollegen, Aktivisten und Forschern aus anderen Ländern und Kontexten – – – all dies ist sehr anstrengend und kräftezehrend. Wer einmal dabei war, kann ermessen, welche Anstrengungen das bedeutet, umso mehr für jemanden, der ‚das erste Mal‘ dabei ist.

Roland hat über den anstrengenden Konferenz-‚Alltag‘ hinaus zusätzlich jeden Tag (und meist zu nachtschlafener Zeit) noch Zeit und Energie gefunden, für ondamaris live von der Konferenz zu berichten, Texte zu schreiben, Fotos zu machen und bereit zu stellen, die ich dann am frühen Morgen hiesiger Zeit als ondamaris-Artikel umgesetzt und online gestellt habe.

Für diesen tollen Einsatz bin ich Roland sehr dankbar. Ohne ihn wäre eine derart umfassende Berichterstattung über die XIX. Internationale Aids-Konferenz in Washington 2012 nicht möglich gewesen.

Ein Dank an die DAH, die diese Berichterstattung durch ihr Scholarship erst ermöglicht hat. Vor allem aber:

Ein sehr herzliches Danke, Roland!

HIV-positiv beim Zahnarzt: Es reicht … wann ziehen wir Zahnärzten diesen Zahn ?

Erneut hat vor wenigen Tagen ein Zahnarzt einem HIV-Positiven die Behandlung verweigert. Eine daraufhin gestartete Nachfrage der lokalen Aids-Hilfe hat bestürzende Ergebnisse geliefert: nur einer von zehn Zahnärzten vor Ort war bereit, HIV-Positive zu behandeln.

Behandlungsverweigerungen, Behandlungen nur in Nebenzeiten, oder nur in Notfällen – oft begründet mit dem vermeintlich erhöhten Hygiene-Aufwand, oder damit, man befürchte negative Konsequenzen für die eigene Praxis. Selten die direkte Antwort, man / frau habe zu wenig Kompetenz bei diesem Thema – oder schlicht Angst.

Das Robert-Koch-Instuitut hat sich hierzu bereits 2010 begrüßenswert klar geäußert:

“Die Weigerung von Zahnärztinnen und Zahnärzten, Patienten mit HIV-Infektion zu behandeln, lässt sich NICHT aus der Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention ableiten bzw. begründen. Wer sich auf diese Empfehlungen beruft, um eine diskriminierende Behandlung HIV-infizierter Patienten in der zahnärztlichen Versorgung zu begründen, setzt sich dem Verdacht aus, diesen Grund nur vorzuschieben, um eine auf Halbwissen und Ängsten beruhende Diskriminierungsbereitschaft zu verschleiern.”

Dennoch – die Weigerung von Zahnärzten, HIV-Positive zu behandeln, häufen sich – seit Jahren. Hier handelt es sich nicht (wie Verbandsvertreter gelegentlich gerne entschuldigend äußern) um ‚bedauerliche Einzelfälle‘. Zu viele dieser Fälle sind inzwischen dokumentiert (einige z.B. hier auf ondaamris unter dem Stichwort ‚Zahnarzt‘ oder auch bei Blogger alivenkickin zur Situation in Frankfurt,. Darmstadt und Dieburg: ‚HIV + der Gang zum Zahnarzt‚ und ‚Zahznärzte – besser als ihr Ruf?‚). All diese Fälle und Umfragen zeigen: dieses Problem tritt nicht vereinzelt auf, sondern seit langem immer wieder. Ob Ignoranz, Unwissen, Angst oder Dummheit beteilgt sind, mag dem betroffenen HIV-Positiven letztlich egal sein. Wichtig ist, dass sich endlich etwas ändert.

Es ist an der Zeit, dass der klaren Positionierung des RKI, den Stellungnahmen von Fachgesellschaften, den netten Worten des Bundesgesundheitsministers sowie einiger Verbandsvertreter nun auch Taten seitens der Zahnärzte folgen – dass endlich dieser Stigmatisierung und Behandlungsverweigerung durch Zahnärzte ein Riegel vorgeschoben wird.

Behandlungsverweigerung, Diskriminierung HIV-Positiver – wann ziehen wir Zahnärzten endlich diesen Zahn ?

Oder wird es Zeit, dass HIV-Positive den Deutschen Zahnärzte-Tag aufmischen, hier ihren Protest deutlich hörbar machen? Der nächste Deutsche Zahnärztetag wäre dann am 9. und 10. November 2012 in Frankfurt. Kurz vor dem Welt-Aids-Tag und der Paulskirchen-Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe … ein guter Zeitpunkt, dass Zahnärzte sich endlich dem Thema HIV stellen, Position beziehen. Und klar machen, wie sie zum Thema Behandlungsverweigerung und Stigmatisierung HIV-Positiver stehen.

‚Achtung – erhöhte Aids-Gefahr‘ – aber bitte keine Panik in der Provinz …

„Gesundheitsamt Region Kassel warnt vor erhöhter Aids-Gefahr“.

Das Gesundheitsamt Region Kassel warnt die Bevölkerung, die Formulierung erinnert an schwere Unwetter-Warnungen, spricht es doch von „erhöhter Aids-Gefahr“ – und ergänzt „wir brauchen nicht in Panik geraten“.

Was ist da schon wieder los in der Provinz? Erst im Januar 2011  „400% Zuwachs an Neuinfizierungen“ in Oldenburg, und nun das große Desaster in der Region Kassel?

„Erhöhte Aids-Gefahr“? Für wen? Und – an wen richtet sich diese Warnung?

Zwar konzediert das Gesundheitsamt, bei der festgestellten Zunahme handele es sich „mehrheitlich um Übertragungen durch homosexuelle Kontakte unter Männern“, wendet sich  aber an die Allgemeinbevölkerung und Medien – mit der Formulierung einer „Warnung vor erhöhter Aids-Gefahr“.

Warum diese „erhöhte Aids-Gefahr“ für die (überwiegend vermutlich auch in Kassel heterosexuell verkehrende) Bevölkerung so dermaßen erhöht ist, dass es einer „Aids-Warnung“ über die Medien bedarf? Kein Wort davon.

Was das Gesundheitsamt unternimmt, um in schwulen Szenen der Region (die es vermutlich ja viel eher angehen dürfte) die Information über HIV, Prävention und Test- und Beratungsmöglichkeiten zu verbessern? Kein Wort davon.

Dass Leben mit HIV heute anders ist als vor 20 Jahren, dass es Veränderungen gegeben hat – kein Wort davon.

Und davon, dass antiretrovirale Behandlung auch die Infektiosität drastisch reduziert, auch davon – kein Wort.

Statt dessen:

‘Achtung – erhöhte Aids-Gefahr’ – aber bitte keine Panik …

.

Die Information des Gesundheitsamts Region Kassel:

„Das Gesundheitsamt Region Kassel gibt eine Warnmeldung bezüglich einer erhöhten HIV-Infektionsgefahr für Kassel und die Region heraus. Die Leiterin des Gesundheitsamtes Region Kassel, Frau Dr. Karin Müller, begründet dies mit einem alarmierenden Anstieg der Neuinfektionen in 2012. So seien im ersten Quartal 2012 dem Robert-Koch-Institut in Berlin sechs neue Fälle aus dem Postleitzahlbereich 341 gemeldet worden, hinzukommen noch einmal sechs Fälle allein aus dem Monat April. Damit sei, so die Amtsleiterin, bereits in den ersten vier Monaten des Jahres 2012 die Gesamtzahl der Meldungen aus 2011 erreicht worden. Im Jahre 2011 habe es nämlich 12 Fälle im gesamten Jahr gegeben.
In diesem Zusammenhang weist Frau Dr. Müller auch darauf hin, dass mit Rückblick auf die Jahre 2008 bis heute die Fallzahl im Postleitzahlbereich 341 langsam aber stetig zugenommen hat. So gab es 2008 drei Fälle, 2009 sieben Fälle, 2010 acht Fälle und im Jahre 2011 zwölf Fälle. Dies, so Frau Dr. Müller kann uns nicht gleichgültig lassen.
Wie die Auswertung der anonymisierten Meldebögen im Robert-Koch-Institut in Berlin ergeben hat, handele es sich mehrheitlich um Übertragungen durch homosexuelle Kontakte unter Männern. Das entbinde jedoch niemanden von der Verantwortung im Umgang mit seinem Partner/seiner Partnerin, ganz gleich, ob es sich um männliche homosexuelle Kontakte, heterosexuelle Kontakte oder lesbische Kontakte handele. „Wir brauchen nicht in Panik zu geraten“ so Frau Dr. Müller, „aber wir haben allen Grund die Bevölkerung an ihre Verantwortung im Umgang mit ihren jeweiligen Sexualpartnern/innen zu erinnern. Das heißt in erster Linie und vor allem, dass mit Ausnahme treuer Zweierbeziehungen beim Sex immer ein Kondom benutzt werden sollte“. Sie führt die steigenden Fallzahlen in der Region unter anderem auch darauf zurück, dass die zunehmend besseren Behandlungsmöglichkeiten für HIV-Infizierte zu einem gewissen Leichtsinn verleiten. Darüber hinaus könne speziell die junge Generation die Mitte der 80er Jahre erlebte Angst vor einer damals tödlich bedrohlichen Erkrankung wohl zum Teil nicht mehr nachvollziehen und handele deshalb unvorsichtig.
„Schützen Sie sich und Ihre/n Partner/in durch verantwortungsvollen Sex und die Benutzung von Kondomen“ so der abschließende Appell der Gesundheitsamtsleiterin.“

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.

Alles begann 1981. Forscher beobachten eine seltsame Häufung von Pilzinfektionen und seltenen Lungenentzündungen bei Schwulen in Los Angeles, später auch in San Francisco und New York. Im Juni 1981 erscheint ein erster Bericht über das, was später ‚Aids‘ genannt wird, in der Fachpresse (dem ‚MMWR‘). Schon wenig später berichtet mit der New York Times auch die erste Publikums-Zeitung, im März 1982 schließlich berichtet in Deutschland erstmals der ‚Spiegel‘, unter dem Titel “Schreck von drüben”.

So beginnt ‚die Geschichte von Aids‘ (bzw. von der Wahrnehmung von Aids, denn die Anfänge von HIV liegen weit früher).

So beginnt Anfang der 180er Jahre die Geschichte einer Epidemie, die bald das Leben (nicht nur) der Schwulen dramatisch verändert. Die Geschichte einer Infektion, die sich – zunächst schlei­chend, bald jedoch mit massiver Wucht – in die Leben vieler Menschen drängt, auch in meines.

2012, gut dreißig Jahre später. Zahlreiche Feiern haben stattgefunden in den vergangenen Jahren, Jubiläen unzähliger Organisationen, die sich im Kampf gegen Aids engagiert haben. Was gab es zu feiern? 3 Jahre. Erinnern. Geschichte.

Geschichten.
Geschichten wie HIV sich mal schleichend langsam , mal überschlagend schnell in unsere, auch in mein Leben drängte, es aufzusaugen drohte.

Wie wichtig ist HIV in meinem Leben?
Ein weiter Bogen ließe sich spannen, von Ignoranz bis Dominanz, von Verharm­losen bis Hoff­nungslosigkeit, von Liebestrunkenheit bis zu tiefstem Absturz.
Fast wäre es wohl möglich, eine Art ‚Typologie der HIV-Relevanz‘ in meinem Leben zu erstellen – von Null auf Hundert, mit allerlei Achterbahn mittendrin.
Geht es auch wieder zurück? Hört das irgendwann einmal auf?

Anfang der 1980er

An die ersten Berichte über diese „neue Schwulen-Seuche“, wie sie damals tituliert wurde, kann ich mich gut erinnern, und auch an meine Reaktionen. „Haben die jetzt wieder etwas Neues gefunden, um uns weiter zu unterdrücken?“ Die Schwulen der Generation vor mir hatten mühsam gekämpft, um die Freiheiten, auch die sexuellen Freiheiten, zu erreichen, die ich nun gerade in vollen Zügen genoss. Wollten die uns das alles wieder weg nehmen? War da überhaupt etwas dran? Oder übertrei­ben die wieder mal?

Mit HIV (das diesen Namen erst später erhielt) wollte ich damals zunächst nichts zu tun haben. Okay, an das mit den Kondomen, da musste ich mich wohl gewöhnen. Ein kleiner, hauchdünner Schritt war es, mit dem HIV in mein Leben drang.

In Urlauben, gern an Frankreichs schwulen Stränden, erleben wir – anders als in den Homoszenen zuhause – weiterhin ‚das pralle Leben‘. Sex, als sei Aids ein fernes Gespenst, safer Sex etwas für neurotische Großstädter (die genau hier ihren Urlaub machen). Es ist Urlaub, die Sorgen sind fern, Kondome bei Franzosen anscheinend noch un­beliebter als bei uns. Weitgehend sorgenfrei scheint das schwule Standleben hier weiter zu toben.

Mitte der 1980er

Irgendwann begann Aids, mehr Raum in meinem Leben einzunehmen. Ob ich wollte oder nicht (nein, ich wollte nicht), HIV drängte sich mehr in mein Leben. Nicht schleichend, sondern ganz ra­sant. Wegschauen war vorbei. Zunehmend mehr Freunde und Bekannte erkrankten. Die ersten ster­ben.

Ende der 1980er

Und es wurde nicht besser. Monatelang, jahrelang nicht. Im Gegenteil.

Kein Zeichen von Hoffnung.
Kein Lichtstreif am Horizont.
Immer mehr Freunde und Bekannte kamen an, sagten dieses traurige „du, ich hab’s auch“.
Hoffnungslosigkeit schwang bei jedem Test, jeder Diagnose sofort mit.
Zahle ich jetzt den Preis für mein liederliches Lotterleben, wie sie es uns einzureden versuchen? Hat ‚es auch mich erwischt‘? Und wenn ja – wie lange habe ich noch?

Immer mehr Lover, Weggefährten, Mitstreiter starben.
Die Zahl der Trauerkarten und Einladungen zu Begräbnissen in unserem Briefkarten nahm irgend­wann ein Maß an, für das mir nur ein Wort in Erinnerung bleibt: ‚unerträglich‘

Um HIV kam ich nicht mehr herum. Aids war längst tief drin in meinem Leben.

Anfang der 1990er

Im Sommer 1989 lernte ich in Paris einen jungen Mann kennen. Eine ‚große Liebe‘ meines Lebens.Wir verbrachten traumhaft schöne Momente mit einander, positive Momente. Irgendwann in den 1980ern hatte ich selbst die Diagnose ‚HIV-positiv‘ bekommen. Auch er war positiv. Seelenver­wandte waren wir, Gefährten. (Ich habe über die Zeit mit ihm auf unserem privaten Blog 2mecs ge­schrieben „Einige Tage mit dir“.)

HIV hatte sich wieder weiter voran in mein Leben gedrängt, wieder eine Stufe mehr auf der Leiter der Aids-Eskala­tion, eine unerträgliche. Nicht nur waren große Teile meines persönlichen Umfelds HIV-positiv, nicht nur hatte ich selbst längst mein Testergebnis in der Tasche. Nein, nun war auch einer der Menschen, die mir am nächsten sind, einer den ich liebe, positiv – und erkrankte, erkrankte schwer.

Ich erlebte mit ihm, mit uns nicht nur ’sein‘ HIV, sei fortschreitendes Erkranken. Mir war nur zu bewusst: du er­lebst hier auch dein HIV. Du erlebst auch dich selbst – in irgend einer nicht allzu fernen Zukunft. So wie ihm wird es bald auch dir ergehen.

Im Herbst 1990 starb Jean-Philippe.

Selten habe ich mein Leben elendiger empfunden.
Und lange hinterher stand immer wieder eine Frage im imaginären Raum meiner stillen Gedanken: Warum er? Warum ich nicht? Eine Frage, die heute nur schwer verständlich erscheinen mag. Eine Frage, auf die es keine ‚vernünftige‘ Antwort gibt. Keine Antwort die erträglich ist.

Mitte der 1990er

Irgendwann konnte ich auch meiner eigenen HIV-Infektion nicht mehr so locker umgehen wie zu­vor viele Jahre lang. Ich ging regelmäßig zum Arzt, ließ Werte kontrol­lieren, versuchte halbwegs auf eine gesunde Lebensführung zu achten. Nahm erste Medikamente gegen HIV, als sie verfügbar wurden. Bemühte mich aber, mein ich, mein Sein nicht von HIV bestimmen zu lassen.

Doch das funktionierte irgendwann nicht mehr. HIV drängte sich noch weiter vor in mein Leben, nahm nun eine zunehmend wichtigere Rolle ein. Ich erkrankte oft, vielfach an ‚harmlosen‘ Dingen, doch zu­nehmend häufiger, schwerer.

Bis mein Körper irgendwann ’nein‘ sagte, nicht mehr wollte. Ich wachte eines Morgens auf, im Krankenhaus, unter Sauerstoff. PcP – eine der Erkrankun­gen, die damals Horror-Gefühle bei jedem Positiven auslösten. Eines der untrüglichen Zeichen: nun ist es soweit.

HIV begann, mein Leben zu dominieren.

1996

„Wir können nichts mehr für Sie tun.“ Die Worte des Arztes waren eindeutig. Und sie überraschten meinen Mann und nicht, nicht mehr. Zu viel war passiert in den vergangenen Wochen und Monaten.
Mein eigener Horizont war immer enger geworden. Reichte nur mit großer Mühe noch über mich, mein kleines beschissenes Leben, das pure Über-Leben bis zum nächsten Morgen hinaus

Die maximale Eskalationsstufe schien erreicht. HIV hatte sich so massiv in mein Leben gedrängt, das kaum noch Raum für anderes war. HIV hatte mein Leben okkupiert. Zu einhundert Prozent. Es fraß mich auf.

Immer noch 1996

„Es gibt da ein neues Medikament. Noch nicht in Europa zugelassen, aber gute Studiendaten.“ We­nige Wochen später. Der Arzt kann mir zaghaft Hoffnung machen.
Einige Wochen, einige Probleme mit der Krankenkasse, einen Arztwechsel später: plötzlich macht es ‚peng‘. Plötzlich, einige Wochen nachdem ich mit der neuen ‚Kombi‘ begonnen hatte. Eines Tages merkte ich ‚da ist ja doch noch Leben in dir‘. Wachte auf, fühl­te mich. Fühlte mich – ein klein wenig kräftiger. Ein Wort, ein Gedanke, der mir sehr lange nicht mehr gekommen war.

Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer – aber er sagte: viel­leicht kannst du doch die Hoheit über dein Leben zurück gewinnen, zumindest für einige Wochen, einige schöne Tage noch.

In den 2000ern

Ein Auf und Ab folgte. Wirken die Pillen? Und wie lange? Wann versagen sie wieder? Trotz aller neuen Hoffnungen, HIV war immer da, ganz vorne im Bewusstsein. Die Drohung des Sterbens war immer präsent.

Mein Leben mit HIV, mit den Pillen ist zu dieser Zeit nicht immer einfach. Die eine Kombi macht so massive Neben­wirkungen, dass ich mich kaum ohne Unterhose zum Wechseln aus dem Haus traue. Die andere führt zu Taubheit an den Füßen, Neuropathien. Irgendwann werden die Arme und Beine immer dün­ner, Löcher schleichen sich ins Gesicht – Lipodystrophie.

Und doch: ich lebe. Und ich lebe zunehmend besser. Lerne mit Neben- und Wechselwirkungen um­zugehen. Therapiewechsel. Irgendwann auch Kombi-Therapien, die ich ruhigen Gewissens als ‚ver­träglich‘ empfinde.

HIV ist noch da, nimmt zuerst weiter einen sehr großen Raum in meinem Leben ein. Aber der Raum wird kleine. Schleichend reduziert sich der Einfluss, den HIV auf mein Leben hat, dem ich ihm gewähren muss.

Und doch – HIV und Aids haben Wunden hinterlassen in mir, die nur sehr langsam heilen (tun sie das?). Schmerzen, die immer wieder aufbrechen. Schaue ich (was ich vermeide) in alte Adressbücher, schreit mich eine Einsamkeit des Zurückgelassenen an. Erinnere ich mich an früher, an Menschen, die ich liebe, mit denen ich mich engagierte, die mich durch mein, durch unsere Leben begleiteten – ist da eine unendliche Traurigkeit. Leere.

2012

Inzwischen, und schon seit einigen Jahren, kann und soll Aids wieder weit weniger Raum in mei­nem Le­ben einnehmen, deutlich weniger. Ja, es gibt noch die täglichen Pillen, die dreimonatigen Arztbesu­che. Gelegentliche Positiventreffen. Meine Site ondamaris.

In meinem Fühlen, in dem was mich persönlich beschäftigt, nimmt Aids hingegen seit Jahren weni­ger Raum ein. HIV okkupiert nicht mehr mein Leben. Ich versuche, ihm ständig weniger Raum zu­zugestehen. Eine kleine, ganz private ‚Normalisierung‘.
Das Leben ist längst zurück gekehrt, mit all seinen Freuden, Banalitäten und Alltagssorgen.

HIV – ist noch da, und wird es wohl, so keine Wunder geschehen, auch mein Leben lang bleiben.
Aber HIV dominiert nicht mehr mein Leben. Ist ein Teil davon, ein kleiner. Bestimmt es nicht mehr.

Im Gegenteil, in den letzten Jahren verliert es an Bedeutung, für mich, in meinem Leben, wird HIV zunehmend – unwichtiger.

.

Was ich mir für die Zukunft wünsche?
Dass HIV und Aids wieder dorthin verschwinden, wo sie hingehören: in die Bedeutungslosigkeit.
Hier, und überall auf der Welt, unabhängig von Industrialisierung oder ‚Wohlstand‘.
Und dass der Weg, die Menschen die diesen Weg gegangen sind, die diesen Weg nicht überlebt ha­ben, erinnert werden.

Alles hat seine Geschichte. Auch Aids.
Geschichten haben für gewöhnlich ein Ende.
Auch die Geschichte von Aids.

.

Diesen Text habe ich als Gast-Beitrag für den ‚Teilzeitblogger‚ verfasst, der ihn am 14. Mai 2012 veröffentlicht hat.
Übernommen hat den Text auch thinkoutsideyourbox.

Mittelalter à la grecque ? – griechische Polizei stellt HIV-positive Frauen öffentlich an den Pranger

Hat Athen mitten in der Krise nun den Pranger wieder entdeckt? Diesmal in der ‚modernen‘ Kombination Aids, Prostitution – und Internet und Polizei?

Elf Frauen, jede mit Namen, Geburtsdaten und Photos – öffentlich als an Aids erkrankt bezeichnet, im Internet, auf einer offiziellen Seite, einer Seite der griechischen Polizei …

Was ist geschehen?

„Aids-Angst in Athen“ oder „Aids: Behörden suchen Freier“ titeln die Medien. Den Hintergrund, ja Anlass für aktuelle Berichte liefert – die griechische Polizei und Staatsanwaltschaft.

Etwa einhundert nicht registrierte Prostituierte haben die Behörden in Athen festgenommen, auf dem Straßenstrich und in illegalen Bordellen. Sie wurden auf  Veranlassung der griechischen Gesundheitsbehörden (KEEL.PNO) mit mobilen Tests auf HIV untersucht – ob freiwillig, darüber sagen die Medienberichte nichts. Elf von ihnen wurden HIV-positiv getestet.

Und  nun sucht die Staatsanwaltschaft Athen nach Freiern, die Sex mit diesen Frauen hatten. Dazu ordnete sie an (!), Bilder dieser Frauen zu veröffentlichen (!) – im Internet (!).

Um ‚die Kunden zu warnen‘, wie es heißt – und vielleicht auch, um etwaige Kunden nicht nur zu einem HIV-Test zu bewegen, sondern auch zu einer Anzeige zu motivieren. Die Frauen hatten den Berichten zufolge gestanden, Sex ohne Kondome gehabt zu haben.

So finden sich seit dem 1. Mai 2012 nun auf einer offiziellen Internetseite der Athener Polizei (hier; ergänzt um eine Pressemitteilung) 22 Fotos – jede der elf Frauen ist in einer Ganzaufnahme sowie einer Gesichts-Aufnahme zu sehen. Alle elf Frauen werden nicht nur in je 2 Photos gezeigt, auch ihr voller Name sowie Geburtsort und Geburtsdatum werden genannt. Das Ganze unter dem Titel „Bekanntmachung der Veröffentlichung von Photos von elf Frauen, die einer Gesundheitskontrolle zufolge AIDS haben“.

Griechische Medien berichten seit einigen Tagen breit über die Verhaftungen und HIV-Tests – und auch deutsche Medien greifen das Thema inzwischen auf.

.

Erschüttert sehe ich erste Meldungen. Recherchiere ein wenig [danke, A.!]. Stoße bald auf die Internetseite der griechischen Polizei, die die Photos von elf Personen mit Namen und Geburtsdaten veröffentlicht.

Bin erschüttert, fassungslos.

Geht’s noch?

Mittelalter in Zeichen des Internets?

Pranger à la grecque?

Haben die Frauen keinerlei Persönlichkeitsrechte?

Gibt es keinen Datenschutz?

Oder waren sie etwa mit der Veröffentlichung ihrer Photos  und Daten einverstanden?

Hat irgend jemand die Freier gezwungen, beim Sex auf die Benutzung von Kondomen zu verzichten?

Oder haben die Freier – und nicht die Prostituierten – vielleicht eher selbst nach „Sex ohne“ (Kondom) verlangt?

Werden die Freier jetzt eigentlich auch öffentlich an den Pranger gestellt? Mit Foto und Geburtsdaten? Weil sie ohne Kondome zu benutzen Sex mit Prostituierten hatten?

Niemand darf wegen seiner HIV-Infektion an den Pranger gestellt werden.

Dies gilt für jeden Menschen – unabhängig u.a. auch von seiner Tätigkeit, unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus.

Im Umgang mit Medien erleben Menschen mit HIV schon seit Jahren oft genug keinen Respekt – und erwarten ihn doch, selbstverständlich.

Respekt, Sensibilität –  gerade von staatlichen Stellen sollte ihn jeder Mensch  mit HIV erwarten dürfen. Und nicht das Gegenteil – öffentlich an den Pranger gestellt zu werden.

Oder rechtfertigt Aids hier – wieder einmal – jedes Mittel?

Wenn wir dies ohne Protest hinnehmen – befinden wir uns bald wieder im Mittelalter.

.

Pranger im Folter-Museum Freiburg (Foto: Flominator)
Pranger im Folter-Museum Freiburg (Foto: Flominator)

.

siehe auch
The Times That Belong To Us 03.05.2012: Greek brothel arrests
DAH 06.05.2012: Hilflos gefangen in den Netzen der Huren?

Larry Kramer: Happy Birthday, ACT UP

Einer der Gründer von ACT UP, der US-Autor und Aktivist Larry Kramer, gratuliert der Aids-Aktionsgruppe ACT UP zum 25. Geburtstag – mit kritischen Anmerkungen zum Schweigen der Schwulen.

Am 24. März 1987 – vor 25 Jahren – fand die erste ACT UP – Demonstration in New York statt. Aids-Aktivisten legten den Verkehr auf der Wall Street vor der New Yorker Börse lahm, um gegen hohe Preise für Aids-Medikamente und schleppende Zulassungsverfahren für neue Substanzen zu protestieren. Einige ACT UP – Aktivisten drangen bis in den Börsensaal („das Parkett“) vor.

Bereits zwei Wochen zuvor, am 10. März 1987, hatte Larry Kramer, US-Autor und Mitglied von GMHC Gay Men’s Health Crisis, im Gay Community Center in New York eine flammende Rede gehalten, in der er zu stärkerem Engagement für Aids-Kranke aufforderte. Tage später gründete Kramer gemeinsam mit Eric Sawyer und einigen weiteren Aktiven ACT UP.

Larry Kramer 2007 (Foto: David Shankbone)
Larry Kramer 2007 (Foto: David Shankbone)

25 Jahre später gratuliert Larry Kramer  ACT UP zum 25. Geburtstag – mit deutlichen Worten. Es sei schwer, dankbar zu sein (für 25 Jahre ACT UP Aktivismus), wenn die Aids-Krise weltweit betrachtet schlimmer als jemals zuvor sei, und  zugleich zwei Organisationen, die er mitgegründet habe, nur noch Schatten ihrer selbst seien. Dennoch sei es schwer, diese früher so bedeutenden Organisationen heute zu kritisieren, wenn gleichzeitig die Schwulen des Landes weiterhin so passiv und apathisch seien:

„It’s hard to blame these remnants of former greatness when the gay population of this country continues to be so passive, so apathetic, so shut-the-fuck-up-with-all-your-message-queen-shit.“

Kramer kritisiert, wie viele Schwule bereit seien, zweitklassige und marginalisierte Lebenswege zu akzeptieren – gerade wenn wir doch wüssten, was zu tun sei:

„We know what we have to do.
Why don’t we once-and-for-all do it?
And by „we,“ I mean all of us.
It is downright pathetic how so many of us are prepared to live in such a second-class and marginalized way.“

Kramer sieht eine der Ursachen für den Untergang der ACT UP – Gruppen in ‚Selbstzerstörung‘. Man sei hereingefallen auf hasserfüllte Taktiken, die man eigentlich gerade beseitigen wollte:

„For a variety of reasons, men and women who had worked so lovingly and courageously hand in hand in the kind of cooperation I have never ever seen before turned upon each other and effectively put paid to the organization’s usefulness. We succumbed to the very hateful tactics that we were pledged to eliminate.“

Kramer verweist auf die Passivität der Schwulen und die notwenfgkeit, sich zu wehren. Man erreiche nichts, ohne dafür zu kämpfen, gemeinsam und zahlreich. Nicht zuletzt dies habe ACT UP gelehrt:

„You don’t get anything unless you fight for it, united and with visible numbers. If ACT UP taught us anything, it taught us that.“

.

weitere Informationen:
Larry Kramer: Happy Birthday, ACT UP, Wherever You Are. in: HuffPost Gay Voices, 28.03.2012
.

HIV-Alarm? Infektionswelle? Und was sagt meine Oma dazu?

„HIV-Alarm“, gellen die Schlagzeilen. Was ist da los? Die Leserin, der Leser mag (soll?) erschrecken – was ist denn jetzt wieder los? Drohen neue Infektionswellen, gar ein Rückfall in die furchtbaren alten Aids-Zeiten? Ist es schon wieder so furchtbar? Schauen wir einmal nach …

HIV-Alarm in St. Gallen„, gellt es aus dem Internet-Nachrichten des Schweizer Fernsehens, „Präventionsstellen in Sorge“. „Deutlich mehr HIV-Infektionen“ berichtet das St. Galler Tageblatt, der ‚Bote der Ur-Schweiz‘ hingegen erkennt nüchtern eine „Häufung von HIV-Infektionen in St. Gallen“.  Ein „neuer Infektionsherd“ lauert, sorge laut Schweizer Fernsehen „für Schlagzeilen“. Es muss also tatsächlich schlimm sein. Vielleicht sehr schlimm? Es sieht so aus. „Überdurchschnittlich viele HIV-Ansteckungen in St. Gallen„, vermelden die TV-Nachrichten des gleichen Senders.

Hören wir genauer hin, lesen wir nach, halten wir inne.

Wer ist betroffen? „Auffällig viele homosexuelle Männer“ seien es, melden die TV-Nachrichten. Und, schlimmer noch, es geht um Männer die sich teiweise „bei männlichen Prostituierten angesteckt“ hätten. Waren da etwa gewissenlose Stricher am Werk? Und unschuldige Opfer, die mit HIV infiziert wurden? Eine Meldung immerhin, die das Kantonsspital später korrigiert – genauer dementiert und in das Gegenteil korrigiert (ohne dass die Pressemeldung des Kantons korrigiert wurde): „Im Bericht von SF-DRS wird gesagt, dass eine Quelle für diese Infektionen ein Mann sei, der sich prostituiere. Dies entspricht aber nicht unseren Informationen. Wir wissen, dass mindestens ein Mann, der Sex gegen Geld anbietet, auch Opfer dieser Infektionswelle geworden ist. Den umgekehrten Weg haben wir bisher nicht nachgewiesen bei diesen neu diagnostizierten Personen.“

Wer schlägt Alarm? Besorgte Präventions-Arbeiter, oder eine lokale Aids-Hilfe? Irritierte oder hilflose Patienten? Besorgte Krankenkassen? Nein,keiner davon. „Die Staatskanzlei im Kanton St. Gallen schlägt Alarm“, berichtet der TV-Beitrag. Die Staatskanzlei.

Und worum geht es? Genau, es geht, wie es das Kantonsspital vermeldet, um „Handlungsbedarf“. „Der [Kantons-; d. Verf.] Arzt bietet darum in der Schwulenszene von St. Gallen derzeit Tests vor Ort an“, berichten die Nachrichten, „mobile Teams in Saunas, Bars und Discos“. Das Kantonsspital meldet auch den Hintergrund: „Grund für die Information waren die Ergebnisse der Abklärung von frischen HIV Diagnosen in diesen Wochen. Es zeigte sich nicht nur, dass ein grosser Teil der neuen Diagnosen auf eine kürzlich zurückliegende Infektion zurückzuführen sei, sondern auch dass ein grosser Teil der frisch infizierten Personen mit demselben Virus angesteckt wurden.“ Auch hier wieder: „viermal mehr Patienten“ werden beklagt.

Aber – wie viele Menschen sind denn nun von dieser „Welle“ betroffen in St. Gallen? Der TV-Beitrag weiß zu berichten von „deutlich mehr“ Ansteckungen. Und die TV-Nachrichten konkretisieren „Viermal mehr Personen als im Vorjahr“ seien betroffen. Viermal so viele, das sieht schlimm aus, sehr schlimm. Und der St. Galler Chefarzt befürchtet sogar, „dass sich noch weitere Männer angesteckt haben“. Die Zahlen können also steigen, immer weiter steigen. Das klingt ganz furchtbar.

Schauen wir einmal in die Zahlen. Schließlich schlagen die Nachrichten doch Alarm, sprechen vone einer Infektionswelle, die duch St. Gallen rolle. Um wie viele HIV-Neudiagnosen geht es denn? Moment – die Zahlen werden ja in den Berichten zunächst gar nicht genannt. Viermal so viel – das klingt gewaltig, es muss schlimm hergehen in St. Gallen. Aber – viermal so viel von was, von welchem Ausgangswert? Haben sich in St. Gallen gerade Hunderte, womöglich Tausende mit HIV infiziert?

Die Medienbrichte basieren auf einer Pressemitteilung des Kantons St. Gallen „Gehäufte HIV-Infektionen in der Ost-Schweiz„. Auch hier ist die Rede von „deutlich mehr HIV-Infektionen“ (und, nebenbei, wieder und bisher unkorrigiert vom „Umfeld von käuflichem Sex“). Es folgen Verweise auf Safer-Sex-Regeln und den HIV-Test – aber keine konkreten Zahlen. Wir bleiben ratlos. Zumal auch das Kantonsspital auf seiner Seite von „viermal mehr Patienten“ spricht – aber keine absoluten Zahlen nennt.

Dann suchen wir einmal die Zahlen. Nach den grellen Schlagzeilen blendet der TV-Beitrag kurz eine Grafik ein, eine Grafik des Kantonsspitals „Neueintritt ambulanter Patienten mit HIV-Infektion“. Bei genauerem Betrachten (die Stop-Taste hilft) ist zu erkennen: im vergangenen Jahr wurden am Kantonsspital St. Gallen pro Monat durchschnittlich ein bis fünf  neue HIV-Patienten aufgenommen (im Januar 2011 vier; über das Jahr durchschnittlich drei). Im Januar 2012 aber „ist die Zahl explodiert“ – es kamen 13 neue HIV-Patienten. 13 – einzig noch DRS1 regional vermeldet diese absolute Zahl in einer kurzen Notiz.

Einen HIV-Test zu propagieren, gerade wenn es risikobehaftete Sitautionen oder Konstellationen gegeben hat, das mag gut und sinnvoll sein. Aber – rechtfertigt das alarmistische Schlagzeilen von „HIV-Alarm“ und „Infektionswelle“?

Oder ertönt hier ‚Begleit-Musik‘, gar ein Ablenkungs-Manöver? Schließlich wird in St. Gallen gerade auch eine Klage verhandelt, Ehemann und Tochter einer an den Folgen ihrer HIV-Infektion verstorbenen Frau verklagen eine Ärztin, die Unterlassung eines HIV-Tests während der Schwangerschaft habe den Tod der Frau verursacht; sie fordern 1,5 Mio. Schweizer Franken Schadenersatz.

Wurden große Schlagzeilen produziert, um ‚mal wieder in den Medien zu sein‘? Oder ‚um auch mal was mit MSM zu machen (und nicht mit serodifferenten heterosexuellen Paaren)? (Was, nebenbei, die Frage aufwirft, warum werden nun zwar Schwule (MSM) angesprochen, sich auf HIV testen zu lassen – nicht aber die Sexworker (Stricher), die gezielt mit in die Berichte eingebracht wurden?)

Viele Frage. Es bleibt der bittere Eindruck von effekthascherischen Schlagzeilen, die die Frage nach dem Grund aufwerfen.
Mir kommen Erinnerungen an den „Schock zu Neujahr: Tausende absichtlich mit HIV infiziert – oder doch nicht?

Ohne einen Anstieg der Zahlen verharmlosen zu wollen – mich erinnert diese Art, Schlagzeilen zu generieren an meine Oma.
Die hätte, wenn jemich kleine Zahlen gaaanz gross aufgeblasen hätte, gesagt „Junge nun hör mal auf aus einer Mücke einen Elefanten zu machen“, und ergänzt „nun laß mal die Kirche im Dorf“.


.

Nachtrag:
27.02-2012, 10:15: „HIV-Massentests für Schwule“ kündigt die NZZ an. „Die schnelle Verbreitung des HI-Virus in St. Gallen hat mit dem sexuellen Verhalten von schwulen Männern zu tun.“

„Wir setzen auf einsichts- und lernfähige Menschen“

Düsseldorf Januar 2012: Spezialkräfte der GSG-9 verhaften einen Aidshilfe-Mitarbeiter unter dem Verdacht, die rechtsextreme Terror-Gruppe ‘NSU’ unterstützt zu haben. Wie kommt ein (ehemaliger) Rechtsextremer zur Aids-Hilfe?

Die Aids-Hilfe Düsseldorf hat sich in Reaktion auf die Verhaftung in einer Presseerklärung „von der rechten Szene und ihrem Gedankengut“ distanziert. Bei vielen Mitgliedern, Klienten und Angestellten hat die Verhaftung vermutlich Bestürzung ausgelöst, Fragen aufgeworfen. Die Aids-Hilfe Düsseldorf steht derzeit zudem unter erheblichem medialem Druck. Partner in Politik ebenso wie Unterstützer und Geldgeber haben Erwartungen, fordern vermutlich klare Worte. Insofern ist die Distanzierung der Aids-Hilfe Düsseldorf verständlich, vermutlich auch richtig, vielleicht sogar hinreichend.

Dies ist sie jedoch nicht für den Dachverband, die Deutsche Aids-Hilfe (die sich bisher außer in Form einer Übernahme der Düsseldorfer Presseerklärung nicht zu dem Vorgang geäußert hat).

„Recht auf Selbstbestimmung, Teilhabe und Solidarität“ und „verantwortungsvoll und solidarisch mit den Bedrohten und Betroffenen umgehen“ – Werte wie diese stehen im Mittelpunkt es Grundverständnisses von Aidshilfe, so formuliert im Leitbild der Deutschen Aids-Hilfe. „Deshalb setzen wir in unserer Arbeit auf das verantwortliche Handeln vernunftbegabter, einsichts- und lernfähiger, freier und gleichberechtigter Menschen“.

Politischer Extremismus egal welcher Richtung (insbesondere, aber nicht nur in seiner gewaltbereiten Form) ebenso wie religiöser Fundamentalismus (egal welcher Glaubensrichtung) bedrohen und gefährden diese Werte, diese Basis der Arbeit von Aidshilfe. Schon aus diesem Grund muss Aidshilfe in ihrem Reden und Handeln immer auch ihre Werte reflektieren und sich aktiv für sie einsetzen.

Sich von Extremismus und Fundamentalismus zu distanzieren, aktiv gegen sie und für Freiheit und Solidarität einzusetzen sollte also zum Wesen des Handelns von Aidshilfe gehören.

Ein Distanzieren von Extremismus und Fundamentalismus – wie es jetzt die Aids-Hilfe Düsseldorf gemacht hat – ist somit nicht nur verständlich. Es sollte für jede Aidshilfe selbstverständlich sein.

Distanzierung darf jedoch nicht alles sein. Aktive Schritte des Engagements gegen Extremismus sind erforderlich. Dieses Engagement darf nicht nur Lippenbekenntnis sein, es muss reales Handeln beinhalten.

Hierzu gehört dann auch, Aussteigern aus dem Extremismus, aktuell: der rechten Szene, eine reale Chance zu geben, eine Chance auf Neubeginn, auf einen persönlichen, menschlichen wie auch beruflichen Neuanfang.

Chance auf Neuanfang für Aussteiger, dies ist gesellschaftlich wie politisch wichtig im Engagement gegen Extremismus und Fundamentalismus. Und hier ist selbstverständlich auch Aidshilfe gefordert. Chancen geben, dies beinhaltet auch: Risiken eingehen. Risiko und der Umgang mit Chancen und Risiken – Themenfelder, die für Aidshilfe nichts Unbekanntes sind.

Dass die Aids-Hilfe Düsseldorf einem Aussteiger aus der rechten Szene diese Chance auf Neuanfang gegeben hat, ist also nur konsequent. Und es ist zu begrüßen.

Die Deutsche Aids-Hilfe ist gefordert, nicht nur das Selbstverständliche zu sagen, die Distanzierung von Extremismus und Gewalt. Sondern auch das Unbequemere:

Es ist wichtig, Aussteigern eine Chance auf Neuanfang zu geben.
Die Aids-Hilfe Düsseldorf hat, indem sie Carsten S. diese Chance auf Neuanfang gab, eine mutigen, einen richtigen Schritt gemacht.
Einen Schritt im Sinn der Werte von Aidshilfe. Ein Schritt, den der Dachverband begrüßen und unterstützen sollte.

Wie heisst es im Leitbild der Deutschen Aids-Hilfe?
„Deshalb setzen wir in unserer Arbeit auf das verantwortliche Handeln vernunftbegabter, einsichts- und lernfähiger, freier und gleichberechtigter Menschen“.


.

siehe auch ondamaris 10.02.2012: DAH: Respekt und Solidarität für Einräumen einer zweiten Chance

Wie wichtig sind uns Erinnern und Gedenken an die an Aids Verstorbenen?

New York gibt sich vielleicht bald einen grossen Park – zur Erinnerung, zum Gedenken, an all die an den Folgen von Aids verstorbenen Bürger. Den New York City Aids Memorial Park. Bravo, möchte man rufen – und zugleich sich vor Scham weg beugen. Vor Scham darüber, wie, in welcher Form wir in Deutschland oftmals der an den Folgen von Aids verstorbenen Mitbürger gedenken.

Nur wenige Städte in Deutschland (unter ihnen Berlin, Frankfurt und Köln) haben überhaupt dem Gedenken der an Aids Verstorbenen gewidmete Orte. Viele Orte haben – nichts. Oder kleine Initiativen, die mit Veranstaltungen gedenken, aber keinen Ort des Erinnerns haben. Die Städte, die einen Ort des Aids-Gedenkens aufweisen können, haben nur selten eine Form gefunden, die mehr ist als die kleine Form. Gedenken und Erinnern an die an Aids Verstorbenen – jenseits der Welt-Aids-Tags-Rituale findet es nur noch selten statt, wird es kaum noch beachtet. Vergessliches Aids?

Michael Jähme fragte im November 2011 “Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?“. Die Frage steht immer noch im Raum, einer Antwort harrend.

Ein Aids-Gedenk-Park mitten in Berlin (oder Köln, Hamburg, Stuttgart, München …) – warum nicht? Platz hat die Stadt genug – und allein in Berlin sind Tausende Menschen bisher an den Folgen von Aids verstorben.

Sollten wir die Kampagne für einen Aids Memorial Park in New York zun Anlass nehmen, auch hierzulande neu über Erinnern und Gedenken nachzudenken – und aktiv zu werden?

Was hat Priorität in der globalen Aids-Bekämpfung? Oder: warum geht Michel Kazatchkine ?

Der Chef des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM)  Michel Kazatchkine, geht. Und ein neuer, Gabriel Jaramillo, kommt. Ein Wechsel an der Spitze. Nichts weiter – kurze Notiz, kaum weitere Fragen, übergehen zum Tagesbetrieb. Oder?

Man könnte auch Fragen stellen.
Denn – viele Fragen sind derzeit offen.
Wir sollten Fragen stellen – schließlich: beim Globalen Fonds handelt es sich um die international bedeutendste und finanzstärkste Organisation auf dem Gebiet der Aids-Bekämpfung. Dass Bundesentwicklungsminister Niebel keine Fragen stellt, sich (im Gegensatz zur französischen Regierung) eher erfreut über die Demission Kazatchkines zu zeigen scheint, überrascht nicht. Aber: die Beantwortung der Frage, warum ein Chef geht, und welche Hintergründe dazu führten, sollte also auch Aids-Organisationen und Menschen mit HIV / Aids interessieren – gerade beim Globalen Fonds.

Michel Kazatchkine selbst verhält sich diplomatisch, sagt nicht viel zu den Beweggründen seines Rücktritts (nachdem sein Vertrag erst vor einem Jahr um weitere drei Jahre verlängert worden war). Er respektiere die Entscheidung des Fonds, einen Direktor für die Transformation einzusetzen. Er habe lange über die Konsequenzen für sich und für die Organisation nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass es für ihn angesichts dieser Situation unmöglich sei, auf seinem Posten zu bleiben.

„En novembre, le Conseil d’administration a décidé de nommer, sous son autorité directe, un Directeur général chargé de superviser la mise en œuvre du Plan de transformation. Je respecte cette décision et je ne doute pas qu’elle ait été prise dans l’intérêt du Fonds mondial. J’ai longuement réfléchi à ses conséquences pour moi et pour l’organisation. Je  suis venu à la conclusion qu’il m’était impossible, dans ces circonstances, de rester à mon poste.“

Einzig ein Rücktritt weil er sich übergangen fühlt, brüskiert gar davon, einen Supervisions-Manager der ‚Transformation‘ zur Seite gestellt zu bekommen?

Geht er – oder wurde er gegangen?
Letzteres wurde von der französischen Zeitschrift ‚Marianne‘ angedeutet, im Kontext der ‚Carlagate‘-Vorwürfe um die zweifelhafte Verwendung von Aids-Geldern. Hillary Clinton selbst solle seinen Rücktritt gefordert haben. Der Fonds dementiert einen Zusammenhang.

Geht er – weil der Globale Fonds mehrfach ins Gerede gekommen ist wegen unklarer Mittelverwendung? Weil Deutschland und Schweden Zahlungen stoppten? Weil eine Fonds-interne Arbeitsgruppe eine Verschärfung interner Kontrollen forderte?

Oder liegt ein Hintergrund in dem, was sowohl Kazatchkine als auch der Fonds selbst (in seiner Pressemeldung zur Benennung Jaramillos) als „Transformation“ bezeichnen? Der Fonds spricht von einem „Consolidated Transformation Plan“ und

„changes to risk-management, governance and oversight to ensure the institution manages donor resources as efficiently and safely as possible“.

Und der neue Direktor Jaramillo beschreibt seine Aufgaben bei dieser ‚Transformation‘ selbst mit den Worten

„My priorities at the Global Fund are to achieve maximum efficiency, accountability and concrete results that save lives. … In essence, we will start with a reorganization that emphasizes simplicity, discipline and rigor, with grant-management as the core activity of the institution.“

Effizienz, Zurechenbarkeit, Haftungsfragen, Zuwendungs-Management – Begriffe, die Minister Niebel sicher gerne hört.

Begriffe die auf eine weitere Frage weisen:
Steht im Hintergrund ein beabsichtigter Wechsel der Strategie des Fonds? Kazatchkine selbst soll derlei angedeutet haben, Anfang diesen Jahres auf einer Veranstaltung des französischen außenpolitischen Monats-Magazins ‚Le Monde diplomatique‘. Er warnte einem Pressebericht zufolge  vor einer „zu amerikanischen Strategie des Fonds, ausgerichtet auf die Wünsche und Bedürfnisse der Geberländer“. Wohlgemerkt, Interessen der Geberländer – nicht der Empfängerländer, der Staaten, in denen Aids bekämpft, Menschen mit HIV unterstützt werden sollen.

Könnte dieser Wechsel seinen Ausdruck auch darin finden, dass statt des klinischen Immunologen Kazatchkine nun – ausgerechnet ein Mann der Finanzwelt, ein jahrzehntelanger Banker benannt wurde?

Ist ein Mann der Finanzwelt – wie ACT UP Paris fragt – gerade jetzt der richtige an der Spitze der mittelstärksten Aids-Hilfsorganisation weltweit? Sind Management-Praktiken wie verbessertes Risikomanagement oder Zuwendungsmanagement tatsächlich die Kern-Aufgaben und zentralen Kompetenzen, die derzeit benötigt werden, und die an der Spitze des Globalen Fonds benötigt werden, um den internationalen Kampf gegen Aids (der beginnt erste deutlich sichtbare Früchte zu tragen) erfolgreich fortzusetzen?

Oder bräuchte der Kampf gegen Aids, bräuchten die Millionen Menschen mit HIV weltweit nicht gerade jetzt einen Fonds, der – auch und gerade in der Position seines Direktors – ihre Interessen und Lebensbedingungen in den Vordergrund stellt?
Bräuchten die Millionen HIV-Infizierten, Malaria-Kranken, Tuberkulose-Kranken nicht einen Direktor des ‚Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose‘, der bereit ist, statt Rentabilität, Patenten, Pharmaindustrie und Geberländer-Interessen die Priorität auf der Verbesserung der Qualität der Maßnahmen des Fonds zu setzen, auf den Nutzen für die Menschen – die Millionen Menschen, die mit HIV leben oder davon bedroht sind, mit/von Malaria oder Tuberkulose?

Der Rücktritt Kazatchkines wirft Fragen auf, weit mehr als eine.
Wir täten gut daran, nachzuforschen, nachzufragen.
Nach dem Warum, nach den Hintergründen des Rücktritts.

Fragen danach, was hat zukünftig Priorität im weltweiten Kampf gegen Aids?
Interessen der Geberländer oder der Empfängerländer?
Rentabilität der Mittel oder Nutzen für möglichst viele Infizierte und Erkrankte?
Wir sollten nachfragen.
Im Interesse der Menschen mit HIV, Malaria und Tuberkulose – hier und weltweit.

 

Positiv – na und ?

1981 veröffentlichte der Hamburger Schwulen-Aktivist und Autor Thomas Grossmann ein Taschenbuch unter dem programmatischen Titel „Schwul – na und?“. Ein Bändchen, das bald eine gewisse Bekanntheit erreichte, und das mit „Beziehungsweise andersrum“ 1986 eine Fortsetzung fand (darin, nebenbei bemerkt, u.a. auch ein Interview mit mir).

Damals, Mitte der 1980er Jahre, behagte mir der Titel von Grossmanns erstem Band nicht sehr. Ja, ich engagierte ihn direkt für eine Veranstaltung – in der Kleinstadt war das ein guter Weg, das Thema wie auch unsere neu gegründete Schwulengruppe bekannt zu machen. Aber dieses „na und?“, musste das sein? Klang es nicht fast entschuldigend? Mir schien der Titel damals zu defensiv, schien zu wenig eine offensivere Haltung auszudrücken.

„Sing, if you’re glad to be gay„, die Tom Robinson Band (TRB) drückte in ihrem Lied von 1976/78 (einer zu unrecht bei Schwulen in Deutschland in Vergessenheit geratenen Hymne schwulen Lebens zu Beginn der 1980er Jahre) mein Lebensgefühl viel eher aus. Ja, ich war stolz, schwul zu sein, endlich offen schwul. Wollte etwas unternehmen gegen die, die uns weiterhin unterdrücken woll(t)en. Und es machte mir einen Heidenspaß, mein Schwulsein auszuleben, meine mühsam errungene Freiheit in jedem Zug zu genießen. Grossmanns „na und“ – es schien mir damals eher einen verdrucksten, beinahe verklemmten Unterton zu haben.

Erst Jahre später entdeckte ich, dass dieses „na und“ auch anders lesbar ist.
Dass es eine wunderbare Gelassenheit, Unaufgeregtheit ausdrücken kann.
„Na und, stört dich irgendwas daran? Mich nicht …“

Wenige Jahre nach Erscheinen gerieten Grossmanns Bändchen in meinem Bücherschrank ein wenig in Vergessenheit. Die Aids-Krise überrollte uns. Auch ich wurde irgendwann von der (Schwulen-) ‚Bewegungsschwester‘ zum ‚Aids-Aktivisten‘. Jüngst kam Grossmanns „Schwul na und“ wieder zum Vorschein. Und erinnerte mich, an damals, an schwule Bewegungen, an mein Lebensgefühl damals, auch an die Aids-Krise, an die „schlimmen Jahre“.

Was sich alles verändert hat. Auch im Leben mit HIV und mit Aids. Der ‚grosse Horror‘ wie ich ihn Ende der 1980er / Anfang der 90er empfand ist (in den wohlhabenden Industriestaaten) nicht mehr. Das Leben besteht auch für HIV-Positive aus so viel mehr als Helferzellen und Viruslast.

Ist es nun an der Zeit auch zu sagen „Positiv – na und?“

„positiv – na und“ wäre Ausdruck eines Umgangs mit mir selbst, einer Haltung, einer Selbst-Sicht. Einer Sicht, die dabei nicht negiert, dass Positive weiterhin diskriminiert, stigmatisiert, kriminalisiert werden. Einer Sicht die vorher fragt, wie sehe ich mich selbst, wie gehe ich mit mir um – und wie bewege ich mich dann damit in der Gesellschaft

„positiv – na und?“ – das hieße dann auf einer persönlichen Ebene vielleicht: ‚ja, ich habe HIV. Ich mache mir Gedanken darüber, was das für mich und mein Leben bedeutet. Aber ich mach kein Drama draus. Gehe verantwortlich mit mir und meinem Mitmenschen um. HIV steht nicht im Mittelpunkt meines Menschseins. Und es definiert mich nicht – ich definiere mich nicht darüber, und ich will darüber auch nicht von anderen definiert werden. Ich mach‘ kein Drama draus – mach du es auch nicht.‘

Ist es dann – gerade auch in diesem Sinne – an der Zeit, all jenen, die meinen immer noch Menschen mit HIV diskriminieren und stigmatisieren zu können, ein beherzt selbstbewusstes „positiv – na und?“ zu entgegnen? Und zwar zahlreich?

„positiv – na und?“ – das könnte dann in diesem Sinne sagen „Ich bin HIV-positiv. Na und? Hast du ein Problem damit? Dann löse es selbst. Kümmere dich um  dein Problem – und mach es nicht zu meinem. Halse es mir nicht auf. Denn ich komm damit ganz gut klar. Ich bin HIV-positiv – na und?“

.

siehe auch
Termabox 278.01.2012: Selbstverständlich positiv – meine „Positive Stimme“
.

Schock zu Neujahr: Tausende absichtlich mit HIV infiziert – oder doch nicht? Über Schlagzeilen und Wahrheitsgehalt

„Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an“, mit dieser grellen Schlagzeile schreckt die Zeitung mit den grossen Buchstaben und dem fragwürdigen Verhältnis zur Wahrheit ihre Leser/innen ins Neue Jahr. Und erläutert „Seine kranke Mission: So viele Personen wie möglich zu infizieren und so umzubringen.“

Ein 51jähriger (mit vollem Namen genannter und mit Foto abgebildeter) Mann aus dem US-Bundesstaat Michigan solle, so das Blatt, seit drei Jahren versucht haben, „durch absichtlich ungeschützten Sex“ Tausende mit HIV zu infizieren. Über das Internet habe er sich „an seine ahnungslosen Opfer herangemacht“, „junge Frauen und … auch Männer“.

Einem weiblichen „mutmaßlichen Opfer“ gegenüber, das sich in einem US-Fernsehsender geäußert hat, habe er zugegeben, „dass er mit 3000 Frauen und Männern ungeschützten Sex hatte“.

Das ist ja fürchterlich! Wir erschrecken maßlos, sind angewidert, fassungslos – oder?
Halten wir inne, denken ein wenig nach. Nur ein klein wenig.

Überlegen wir einmal:

  • Drei Jahre – das macht 1.095 Tage. Der Mann müsste also, sollte er tatsächlich wie behauptet innerhalb der letzten 3 Jahre „Tausende infiziert“ haben, täglich mehrmals Sex gehabt haben, und das jeden Tag, sonn- wie werktags, ohne Unterbrechung, ohne Krankheit, ohne Tage sexueller Untätigkeit.
  • Doch nicht nur das, jeder Sex-Kontakt müsste auch gleich zur Übertragung von HIV geführt haben.
  • Dass dies nicht der Fall ist, bemerkt sogar das Blatt selbst: „er ist in zwei Fällen angeklagt, in denen es ihm allerdings nicht gelang, das lebensgefährliche Virus zu übertragen.“
    Eine HIV-Übertragung erfolgt nicht etwa bei jedem ungeschützten Sex – der Mann hätte, um wie behauptet „Tausende mit HIV angesteckt zu haben“ wohl mit Zehntausenden Sex haben müssen, innerhalb von drei Jahren. Was selbst bei großer Promiskuität eine beachtliche Leistung wäre.
  • Und – vergessen wir nicht, zu einer sexuellen Übertragung von HIV gehören immer (mindestens) zwei Personen. Zwei Personen, die beide keine Schutz-Vorkehrungen wie zum Beispiel die Verwendung von Kondomen ergreifen. Beide sind hierfür verantwortlich – nicht allein eine etwaig mit HIV infizierte Person.
  • Denn – ob der US-Amerikaner tatsächlich mit HIV infiziert ist, oder nur HIV als Vehikel für eine grossspurige Wichtigtuerei nimmt, verschweigt der Artikel ebenfalls.
  • Ganz außer Acht gelassen haben wir dabei bisher die Frage, ob der HIV-Positive antiretrovirale Medikamente nimmt – dies hätte wie bekannt im Fall erfolgreicher Therapie das Risiko einer HIV-Übertragung drastisch gesenkt (siehe „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„).

Eine letzte Frage noch: wie viele Menschen hat er nun infiziert?
„Bislang wurden zwei seiner Opfer identifiziert“, vermerkt der Artikel an unauffälliger Stelle mitten im Text. Sind es genau die zwei Fälle, in denen es – wie der Artikel ebenfalls vermerkt – „nicht gelang“, HIV zu übertragen?
Es bleiben – statt der behaupteten „Tausende“ zwei bis null Fälle einer HIV-Übertragung. Und eine grelle Schlagzeile, von deren überprüfbarem Wahrheitsgehalt wenig bleibt.

Ist eine aufmerksamkeitsheischende schreiende Schlagzeile alles wert?

.

Nachtrag:
Immer wieder werden Geschichten von absichtlichen HIV-Infektionen und Horror-Zahlen kolportiert. Bei genauem Nachsehen erweisen sie sich fast immer als substanzarm oder substanzlos.
Schon ZDFneo suchte vergeblich nach Männern, die andere Männer absichtlich mit HIV infizieren wollen – und fand nichts. Es blieb damals Bugchasing: viel neo-Lärm um nichts.
Die gerne behauptete ’neue Sorglosigjkeit‘ ist längst als Mythos entlarvt. Ebenso ein Mythos: die Geschichten vom verantwortungslosen Positiven.
Und auch die ‚Ausrede‘ der vermeintlich guten (präventiven) Absicht greift nicht, denn längst ist gezeigt: Schock-Prävention wirkt nicht.

.

Bild.de 01.01.2012: ‚Er wollte mit AIDS töten – Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an‘
dailymail 31.12.2011: „‚I’m turning myself in, my life is over‘: HIV-positive man ‚infected hundreds‘ after setting out to pass on virus to as many as possible“