Diskriminierung und Stigmatisierung sichtbar machen – ist das ein positiver Ansatz? Oder ist sie ein weiterer Schritt im Opfer-Dasein? Gar das „goldene Ticket für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde“? Die Festschreibung des Sonder-Status?
Ein Gast-Kommentar von Manuel Schubert, Autor des Blogs „Immunantwort„:
HIV-Stigma – das „goldene Ticket“ für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde ?
Im Regelfall prallt die Präventionsreklame an mir ab. Ausgenommen die Aktion „Positive Stimmen“. Der neueste Streich der Deutschen Aids Hilfe brachte mich tatsächlich ins Grübeln. Stark verkürzt hören sich bei diesem Projekt Menschen mit HIV gegenseitig dabei zu, wie sie über schlechte Behandlungen aufgrund ihres Virus berichten. Aus dem gesammelten Material wird anschließend der sog. „PLHIV Stigma Index“ (neudt.: „People living with HIV Stigma Index“) destilliert. Der soll abbilden, inwieweit und wo auf der Welt Menschen mit HIV diskriminiert werden bzw. aufgrund der Abstempelung als „positiv!“ Leid und Benachteiligungen erfahren. Das Projekt rühmt sich einer Besonderheit: Man verfährt nach den sog GIPA-Prinzipien („Greater Involvement of People Living with HIV/ Aids“), auf gut deutsch: Von Positiven für Positive. Wendet man eine kontroverse Lesart an, dann sind die „Positiven Stimmen“ der Kinderteller, den „uns“ die Präventionsinstanzen ausnahmsweise gewähren. Für mich riecht das irgendwie nach Entmündigung durch die Hintertür. Aber vielleicht missverstehe ich da auch nur etwas.
Sprechen ist jedenfalls angesagt bzw. das Antworten auf Fragen, die positive Interviewer ihren positiven Interviewten anhand eines standardisierten Fragebogens (sic!) stellen. Ferner Sinn des Ganzen ist die Absicht, mit dem sich hoffentlich(?) abzeichnenden Bild von der Schlechterstellung infizierter Menschen, „langfristig“ in Politik und Gesellschaft intervenieren zu können. Klingt nett. Wer diese Interventionen letztlich vornimmt, sei dahin gestellt. Ebenso, ob die „GIPA“ Prinzipien dann gelten.
„Positive Stimmen“ trägt, das D- und das S-Wort trophäenartig vor sich her: Diskriminierung und Stigmatisierung. Die Sprachdatenbank der Uni Leipzig kennt für das D-Wort 12 Synonyme, darunter „Missachtung“ und „Benachteiligung“. Ganz egal ob Versicherungen, Arbeitgeber, Chatpartner oder Richter – Menschen mit HIV im Blut schlechter zu behandeln als vorgeblich „gesunde“ Menschen, ist in westlichen Industriestaaten gängige Praxis. Schnell geraten dabei neben dem persönlichen Respekt auch Grundrechte unter die Räder. Die Frage nach Diskriminierung lässt sich relativ schnell beantworten. Die Antwort ist so mannigfaltig, wie die „Täter der Diskriminierung“ vielgestaltig sind. Und so wie sich deutsche Juden in schöner Regelmäßigkeit für die „Machenschaften“ der israelischen Regierung(-en) rechtfertigen sollen. Genauso oft dürfen sich Positive anhören, dass die Krankenkassen Verletzungen aus Extremsportarten ja auch nicht mehr bezahlen. Der einzig „positive“ Aspekt an Diskriminierung: Sie ist häufig so dermaßen dämlich und offenkundig plump, dass sie sich schnell identifizieren lässt. Sich dagegen dann auch wehren zu können, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Ob Kampagnen wie die „Positiven Stimmen“ hier hilfreich sind, sei erheblich bezweifelt. Ich würde politisch progressive, lautstarke und von Fördermitteln unabhängige Interessenvertretungen bevorzugen.
Beim S-Wort ist die Sache schwieriger. Was ist ein Stigma – in Bezug auf HIV und unter Fortlassung der historischen Wurzeln des Begriffs? Ist die Ordnungsnummer der Ärzte und Krankenkassen für HIV „B24 G“ schon Stigma, oder nur eine Kennziffer im Abrechnungswesen? Ist die Phrase „poz“ für positiv schon ein Stigma, oder einfach nur Slang unter schwulen Positiven? Erneut gefragt: Wie definiert man das „HIV-Stigma“? Und vor allem: Wer definiert es? Jeder Infizierte erfasst den Umstand des Virus im eigenen Blut anders.
Nicht wenige scheinen das Wunschdenken der Prävention vollkommen geschluckt zu haben und sind seit dem „Un-Fall“ der Infektion erstarrt. Sie reagieren mit Selbstvorwürfen oder Verstecken. Andere können mit HIV nur aus einer Opferhaltung heraus umgehen, die wiederum oft mit einer Betonung der eigenen Sonderrolle einhergeht, welche häufig auch noch institutionalisiert wird. Beide Typen, nennen wir sie den „gescheiterten Präventionsgläubigen“ und „das Opfer“, haben meiner Meinung nach ein vordringliches Interesse an der Definierung des Stigma-Begriffs. Die nicht infizierte Gesellschaft ist ihr Ziel oder vielmehr deren Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Das HIV-Stigma als „Golden Ticket“ für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde. Was paradox klingt, wird durch Aktionen wie die „Positiven Stimmen“ und Worthülsen wie das „GIPA“-Prinzip auf erschreckende Weise schlüssig.
Doch was soll hierbei für ein Index herauskommen? HIV+, 38, beschimpft in München! HIV+, 22, gemieden in Berlin! HIV+, 41, verurteilt in Rostock? HIV+, 52, arbeitslos in Duisburg? Oder eher so: „Die Deutschen malträtieren ihre Positiven besonders effektiv mit Isolation, Rechtssprechung und gezielter Warnung vor dem Rauswurf aus der Solidargemeinschaft.“ Tauchen wir dann in einer „Hotlist“ von UNAIDS auf – Deutschland, Platz 3 in der Kategorie Psychoterror gegen Positive? Nein, bestimmt nicht. Dieses Volk ist ja so leidenschaftlich gerne Weltspitze. Ergo wird vor Veröffentlichung der Hotlist noch schnell die Gesundheitsversorgung von HIV auf 100% Selbstbeteiligung umgestellt und der Hartz4-Anspruch für Positive gestrichen – damit ist der erste Platz gesichert.
Nochmal: Was soll das werden? Ein Atlas der Schande? Wie viele solcher Atlanten braucht dieses Land noch? Das Suhlen in der eigenen Schande als deutscher Fetisch? „Der deutsche Fetisch – jetzt neu, auch in der Version für HIV! Zusammengestellt von unseren versierten Autoren.“ Werkzeuge stumpfen ab, nutzt man sie zu oft. Und welchen Nutzen hat dieser Atlas, wenn er nur aussagt, dass ich nirgendwo ein zu Hause habe? Ich kann mit den „Positiven Stimmen“ nichts anfangen! Meine Stimme ist nicht „positiv“, sie ist nur die des Manuel Schubert. Ja, der ist auch HIV-positiv und ja, das sogar sehenden Auges. Kein persönliches Scheitern, kein Opfer von jemandem. Aber er ist deswegen noch lange keine „positive“ Stimme, schon gar nicht im Sinne der institutionalisierten Prävention. Nein, in deren Sinne ganz bestimmt nicht!
Ich habe als deutscher Staatsbürger eine Stimme und gehe zu jeder Wahl. Ich bin Mitglied in einer Bundestagspartei. Als Blogger verschaffe ich mir öffentlich Gehör. HIV ist da eines unter vielen Themen. Meine Stimme prangert offen an, dass dieser Staat, seine Institutionen, die Gesellschaft daran gehen, meine Grundrechte, meine körperliche und geistige Konstitution und somit meine Entfaltungsfreiheit in Abrede zu stellen. Die institutionalisierten HIV-Interessenvertretungen reagieren darauf öffentlich kaum und wenn doch, dann mit hilflosen Appellen. Die schlichte Reihenfolge, in der sie ihre Arbeitsschwerpunkte benennen, macht klar, das, da nichts weiter kommen wird: An erster Stelle steht die Schaffung eines „gesellschaftspolitischen Rahmen, in dem Infektionen vermieden werden können“. Ein Perpetuum mobile für fördermittelabhängige Institutionen und ihr Personal. Die Forderung nach einer allgemeinen Lebensstilakzeptanz für Menschen mit HIV findet sich in der Proklamation zum Selbstverständnis der Deutschen Aids Hilfe (DAH) nicht.
Dieser Tage plakatieren die staatlichen Gesundheitsbehörden wieder Floskeln und lassen Rollenmodelle Sprechblasen aufsagen. In ihren gecoachten Sätzen über das positive Zusammenleben schwingt immer auch ein Wohlverhaltensvorbehalt mit: „Aber sicher.“ Etwas anderes als die Sicherheit kommt unterm Strich nicht vor. Da man sich mit der breiten Vermittlung bspw. des EKAF-Statements überraschend schwer tut, kennt die Volksgesundheit nur den Heiligen Gral: Das Kondom. Das Kampagnenziel der gesellschaftlichen Umarmung entpuppt sich so bei genauerer Betrachtung als sinnbildliche Sicherheitsverwahrung für Positive. Staatsanwälte und Richter interpretieren diese anachronistischen Mantras längst in Verhaltensnormen und damit Rechtssprechung um, da ihnen die Paragrafen des StGB den Spielraum dazu lassen. Die Politik duckt sich hier weg. Wir Positiven befragen uns derweil, selbstverständlich nach Anleitung der DAH, gegenseitig über unser Leiden.
Am 1. Dezember legen all jene, die zwischendurch das Bedürfnis haben für ein paar Minuten solidarisch zu sein, wieder die rote Schleife an. Es wird Zeit, dass Menschen mit HIV diesen modernen gelben Stern endlich mit jener Verachtung strafen, die ihm gebührt. Die Schleife ist zum Symbol eines verkommenen Solidarverständnis mutiert, das Infizierte in der Sonderrolle eines gescheiterten und fürsorgebedürftigen Individuums festschreibt. Die Sonderrolle ist die eines Hofnegers, wie er im 18. Jahrhundert von österreichischen Adeligen gehalten wurde. Anstatt mit Spendendosen zu klappern, sollten die lokalen Aidshilfen an diesem Tag Unterschriftenlisten auslegen: „Ich fordere die uneingeschränkte Straffreiheit der Transmission von HIV.“ Übrigens: „Positive Stimmen“ sucht noch Gesprächspartner. Wir sollten uns alle bewerben! Und im Interview die Welt schön biegen, damit der „PLHIV Stigma Index“ am Ende aussagt: Deutschland ist unter den Industrieländern das Paradies für Positive. Natürlich wäre das Humbug. Doch zu denken, der Index würde etwas zur Besserung der Situation Positiver beitragen, grenzt an Aberglauben.