Im Folgenden als Dokumentation die Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe am 13.11.2008 (als Video hier):
Lieber Herr Henn,
liebe Frau Kollegin Ulla Schmidt,
liebe Freunde und Unterstützer der Deutschen AIDS-Hilfe,
meine Damen und Herren,
um auf die Anmoderation einzugehen: In der Tat werden nicht nur hier bei der AIDS-Hilfe immer gute Ideen und kräftige Hilfe gebraucht, sondern auch bei den Weltfinanzen; das ist in diesen Tagen offensichtlich. Wenn Sie also eine gute Idee haben, nehme ich sie gerne nach Washington mit. Wenn Sie mir dann sogar noch helfen könnten, sie durchzusetzen, wäre es noch besser.
25 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe sind 25 Jahre gelebte Solidarität. Deshalb möchte ich damit beginnen, einfach Danke zu sagen, und zwar denen, die die Deutsche AIDS-Hilfe 1983 gegründet haben, was damals gar nicht so selbstverständlich war, wie es heute erscheint. Ich möchte auch all denen Danke sagen, die aus der anfänglichen Selbstinitiative in Berlin einen bundesweit aktiven Dachverband gemacht haben, der heute rund 120 regionale Mitgliedsorganisationen umfasst, sowie all denen, die sich für die Deutsche AIDS-Hilfe in so vielfältiger Weise immer wieder eingesetzt haben.
All diejenigen, die den Mut aufgebracht und sich ein Herz gefasst haben, die sich engagiert haben, haben dazu beigetragen, dass die Deutsche AIDS-Hilfe heute ein richtiges Erfolgsmodell ist und dass sie ein völlig unverzichtbarer Streiter und Partner im Kampf gegen AIDS geworden ist. Dahinter steckt unglaublich viel. Wenn wir noch einmal an die Anfangssituation in den 80er Jahren denken, erinnern wir uns daran, dass nach den ersten bekannt gewordenen AIDS-Diagnosen die Informationen rund um die Immunschwächeerkrankung rudimentär waren. Gerüchte hatten alle Möglichkeiten, sich zu verbreiten. Unbegründete Vorstellungen schossen ins Kraut, vor allem was vermeintliche Übertragungswege der Krankheit anbelangte. Viele haben geglaubt, allein durch Berühren des gleichen Geschirrs könne das Virus übertragen werden. Was die Ansteckungs- und Krankheitsgefahr anbelangt, war vieles überhaupt noch nicht abschätzbar.
Wenn wir uns daran zurückerinnern – das ist nun gerade einmal 25 Jahre her –, dann bekommen wir ein Verständnis dafür, wie es für viele Länder auf der Welt ist, in denen man genau in der gleichen Situation ist. Man muss überhaupt nicht verzagen, sondern muss einfach mutig seinen Weg gehen. Denn wenn man sieht, was wir erreicht haben, dann kann man sagen: Unwissenheit, Unsicherheit und Ängste, die damals noch erstaunliche Blüten getrieben haben, sind überwunden. Damals fühlten sich von der Krankheit Betroffene genau deshalb auch hilflos und alleingelassen. Es ist heute schon gesagt worden: Die Angst vor verstärkter Ausgrenzung und vor Diskriminierung ging gerade bei Homosexuellen um.
In dieser für uns heute kaum noch vorstellbaren Situation haben damals zehn Männer und eine Frau den Mut zur Gründung der Deutschen AIDS-Hilfe gehabt. In einer Zeit der Unsicherheit, der Angst, der Orientierungslosigkeit haben sie nicht nur die Notwendigkeit gesehen, aufzuklären, zu beraten, zu informieren und zu helfen, sondern sie haben das auch in die Tat umgesetzt. Dazu gehörte Mut, denn sie mussten nicht allein gegen die kaum fassbare Gefahr AIDS ankämpfen, sondern sie mussten vor allen Dingen – und das ist mindestens genau so schwierig gewesen – gegen Vorurteile, Diskriminierung und Ausgrenzung angehen.
Die Anfänge der Zusammenarbeit mit den Behörden und der Bundesregierung waren vermutlich nicht immer einfach, um es einmal vorsichtig zu sagen. Es sind dann aber – das ist heute schon erwähnt worden – doch Schritte gelungen mit der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Ich weiß aber, dass sie dafür auch in meiner Partei – ich sage das einmal so – nicht immer nur Lob bekommen hat. Trotzdem waren di Schritte richtig. Sie hat es vor allen Dingen geschafft, dass es möglich wurde, den seuchenpolizeilichen Ansatz der AIDS-Bekämpfung zurückzudrängen und dagegen den Ansatz der gesellschaftlichen Lernstrategie so zum Durchbruch zu verhelfen, wie wir ihn auch heute kennen. Deshalb ist auch all denen, die diese Richtungsentscheidung mitgetragen haben, ganz herzlich Dank zu sagen.
Wir wissen, dass sich der Mut der Gründer der Deutschen AIDS-Hilfe und der im Laufe der Jahre angewachsenen Schar von Mitstreiterinnen und Mitstreitern wirklich gelohnt hat. Wir haben ihnen zu verdanken, dass in den letzten 25 Jahren in Deutschland in gewisser Weise ein Stück Normalität eingekehrt ist, wenn man das so sagen darf. Wir können stolz auf das sein, was Ministerin Schmidt eben gesagt hat, nämlich darauf, dass wir wirklich zu den vorbildlichen Ländern auf der Welt gehören. So können wir heute über die einstigen Tabuthemen HIV und AIDS weitgehend offen sprechen. Das ist vielleicht die erste Voraussetzung, um überhaupt voranzukommen, wenngleich ich glaube, dass das von Generation zu Generation immer wieder neu gelernt und eingeübt werden muss.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass es Selbsthilfegruppen, Verbände und Nichtregierungsorganisationen gibt, die mit den Regierungen – auch der Bundesregierung – im Kampf gegen HIV und AIDS zusammenarbeiten. Heute sehen wir es als selbstverständlich an, dass Mittel für diesen Kampf bereitgestellt werden. Ich möchte die Gesundheitsministerin ausdrücklich in dem, was sie eben zur Behandlung gesagt hat, unterstützen: Es wird von uns nicht zugelassen werden, dass es hier Einschränkungen gibt, die nicht vertretbar sind. Ulla Schmidt hat das eben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele von Ihnen, obwohl die Probleme im eigenen Land groß sind, sich engagieren, auch in anderen Ländern dazu beizutragen, dass dort der Kampf gegen AIDS ganz selbstverständlich geführt wird. Ich war deshalb auch sehr gerne bei der von der Gesundheitsministerin organisierten G8-Konferenz – einer Konferenz, die uns vor Augen geführt hat, dass nicht nur in Afrika oder in Asien, sondern auch direkt bei uns um die Ecke, in der europäischen Nachbarschaft, noch viele, viele Vorurteile zu überwinden sind. Wir können kein einiges Europa, keine Europäische Union sein, wenn es nicht möglich ist, in den Mitgliedstaaten in gleicher Weise vorzugehen. Ich glaube, das ist eine Aufgabe für uns alle.
Das, was wir seit Anfang der 80er Jahre erreicht haben, haben wir erreicht, weil es mutige Menschen gab. Das haben wir auch dadurch erreicht, dass bis heute, wie ich sagte, ein Stück weit Normalität eingekehrt ist. Aber ich will auch, so wie Herr Henn das schon getan hat, auf die Gefahren solcher Selbstverständlichkeiten hinweisen. Denn alles, was geradezu selbstverständlich aussieht, kann allzu leicht auch aus dem Licht der Öffentlichkeit und damit wieder aus dem Bewusstsein herausrücken. Wenn ein Problem nicht mehr täglich in den Nachrichten auftaucht, muss es deshalb noch lange nicht aus der Welt sein. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, dass wir zwar, wie hier gesagt wurde, ein Plateau bei der Zahl der Infizierten erreicht haben, dass wir aber längst noch nicht das erreicht haben, was wir erreichen wollen: weniger Menschen, die sich infizieren, und auch das Besiegen der Krankheit, das immer noch nicht gelungen ist.
Die traurige Wahrheit ist, dass das Leid vieler Menschen heute noch mit dieser Krankheit verbunden ist. Auch in Deutschland müssen wir immer wieder wachsam sein. Hinter jeder Krankheit stehen leidvolle Schicksale. An AIDS erkrankte Menschen leiden auch heute noch oftmals doppelt: zum einen körperlich und zum anderen an einer Umgebung, die zum Teil immer noch auf Distanz geht. Die Bekämpfung dieser Krankheit hat deshalb auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Ob Politik, ob medizinische Forschung oder die gesamte Zivilgesellschaft – letztlich ist jeder Einzelne in unserer Gesellschaft aufgerufen, sich in die Phalanx gegen AIDS einzureihen. Wenn die ganze Gesellschaft dies als eine Aufgabe begreift, haben wir viel geschafft.
Politik allein – das sage ich auch – wäre hier auf verlorenem Posten. Deshalb ist es so ein Erfolgsmodell, dass mit der Deutschen AIDS-Hilfe ein starker, ein unverzichtbarer, ein kompetenter Partner da ist, der natürlich oft auch sehr eigenständig sagt, was konkret vor Ort notwendig ist. Erst damit wird gezielte Hilfe in gemeinsamer Kooperation überhaupt möglich. Die Zusammenarbeit zwischen engagierten Bürgern, Selbsthilfegruppen, Verbänden und Regierungsstellen ist es, die überhaupt das Fundament dafür bildet, dass AIDS-Bekämpfung erfolgreich sein kann. Wir brauchen einen Staat, der einen verlässlichen Rahmen schafft – darüber ist gesprochen worden –, einen Staat, der Unterstützung anbietet, aber das Heft des Handelns in der Hand derer belässt, die mit ihren Erfahrungen am besten wissen, was vor Ort und für den einzelnen Menschen ganz konkret zu tun ist.
Es ist immer das Spannungsfeld in Demokratien, dass Regierungen Rahmen schaffen müssen, staatliche Stellen einen Rahmen sicherstellen müssen, aber dann natürlich auch ein Stück loslassen müssen, damit sich Menschen engagieren können, damit sich Menschen auch gegen Bedenkenträger und Widerstände durchsetzen können und damit diejenigen eine Chance bekommen, die nicht aufgeben, die manchmal unbequem sind, die nicht wegschauen und die immer wieder neue Wege gehen. Deshalb müssen die staatlichen Stellen natürlich die Kraft dazu aufbringen, das, was gestern war, nicht immer schon auch für morgen für gut zu halten.
Ich glaube, dass ein schönes Beispiel für das, was gemeint ist, ein ganz in der Nähe von hier liegendes Wohnareal ist: Eine Wohnanlage für Menschen mit AIDS, eines der gemeinnützigen Wohnprojekte von „ZIK – Zuhause im Kiez“. Betroffene können dort so wohnen und leben, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Sie erfahren Pflege und Betreuung, die sie brauchen. So ist aus einer Eigeninitiative engagierter Bürger ein echtes Vorbild geworden für Strukturen, in denen Leben, Betreuung, Pflege und Vorsorge möglich ist.
Die Krankheit ist inzwischen behandelbar, aber heilbar ist sie immer noch nicht. Deshalb ist Prävention nach wie vor der beste Schutz – man kann das nicht oft genug wiederholen. Darüber dürfen die großartigen Erfolge in der Erforschung und Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln nicht hinwegtäuschen. Prävention ist und bleibt auch auf absehbare Zeit das beste Mittel. Wir wissen, Nährboden für Neuinfektionen sind noch immer vor allem Unwissen, Leichtsinn und Fehleinschätzungen. Das heißt, wir müssen auch weiterhin auf Aufklärung, Information und Förderung von Gesundheits- und Verantwortungsbewusstsein setzen.
Das ist natürlich an dieser Stelle leichter gesagt, als es dann in der Praxis in umfassender Weise getan wird. Man kann das nicht von oben herab verordnen. Vielmehr funktioniert Prävention dann, wenn sie dezentral und auch gemeinsam mit den betroffenen Menschen entwickelt wird, wenn also der gemeinsame, teilhabende Charakter der Prävention betont wird. Genau darauf setzt die Deutsche AIDS-Hilfe auch mit ihrer kürzlich gestarteten Initiative „ICH WEISS WAS ICH TU“. Das ist eine Kampagne, die sich über die verschiedensten Medien hinweg erstreckt, einschließlich des Internets – ich glaube, dass das sehr wichtig ist –, bis zu Aktivitäten vor Ort. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass ich dieser Kampagne viel Erfolg wünsche – einen Erfolg, der sich dann möglichst auch so niederschlägt, dass wir in den nächsten Jahren auf bessere Zahlen bei den Neuinfektionen blicken können.
Darauf hinwirken und den Trend umkehren, das ist eine Aufgabe für uns alle. Deshalb werde ich auch nicht müde, nun gerade auch für die Benefiz- und Spendenaktionen rund um den Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember um Unterstützung zu bitten und um Unterstützung zu werben. Ich will jedem sagen, der noch unsicher ist: Ob Geld- oder Sachspenden – jeder einzelne Betrag und Beitrag hilft hier weiter. Ich glaube, auch jedes Zeichen der menschlichen Solidarität ist willkommen. Dieses kann man zum Beispiel setzen, indem man sich auf der Internetseite des Welt-AIDS-Tages als Botschafter einträgt.
Ich glaube, es wäre das beste Geburtstagsgeschenk für Sie, Herr Henn, und Ihre Mitstreiter in der Deutschen AIDS-Hilfe, wenn sich möglichst viele in unserer Gesellschaft engagieren – mit Optimismus, Tatkraft und der Bereitschaft, auch einmal einen unbequemen Weg zu gehen. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch und viel Kraft für die weitere Arbeit! Sie dürfen ab und zu auch unbequem sein, damit wir nicht vergessen, was noch Wichtiges zu tun ist. Alles Gute für die nächsten Jahre!
[Quelle: bundeskanzlerin.de]
In ihrer Rede streifte Bundeskanzlerin Angela Merkel 1 Mal auch namentlich “Homosexuelle” in dieser Passage:
“Wenn wir uns daran zurückerinnern – das ist nun gerade einmal 25 Jahre her –, dann bekommen wir ein Verständnis dafür, wie es für viele Länder auf der Welt ist, in denen man genau in der gleichen Situation ist. Man muss überhaupt nicht verzagen, sondern muss einfach mutig seinen Weg gehen. Denn wenn man sieht, was wir erreicht haben, dann kann man sagen: Unwissenheit, Unsicherheit und Ängste, die damals noch erstaunliche Blüten getrieben haben, sind überwunden. Damals fühlten sich von der Krankheit Betroffene genau deshalb auch hilflos und alleingelassen. Es ist heute schon gesagt worden: Die Angst vor verstärkter Ausgrenzung und vor Diskriminierung ging gerade bei Homosexuellen um.”
Ihre Rede stand im Zeichen von 25 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe und damit ALLER von HIV und AIDS betroffenen Menschen.
Trotzdem oder auch gerade deshalb wäre ein sprachlich prägnanteres Benennen des Trauma AIDS, das in der Community der schwulen Männer bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat, der geleisteten kollektiven Bewältigung angemessen gewesen. Schwule Männer haben in dieser Zeit nicht nur sich selber geholfen, sondern leisteten in der Vergangenheit und leisten auch heute noch jeden Tag sogar zahlenmäßig umfangreicher Aufklärungs- Informations- und Präventionsarbeit für die heterosexuellen Mitbürger.
Angela Merkel gelingt es sogar, die Präventionskampagne “Ich weiss was ich tu” in ihrer Rede SO anzusprechen, dass dort keinerlei die Zielgruppe benennende Worte wie “Homosexuelle”, “Schwule Männer” oder “MSM” vorkommen. Ein beachtliches Meisterstück! Der Leser staunt…
Für ihre heterosexuellen Wähler und Wählerinnen hätte Kanzlerin Merkel aus Anlass von 25 Jahren DAH ohne Not duraus etwas “unbequemer” sein dürfen.
@ termabox:
Aber, aber,… Frau Kanzlerin ist niemals unbequem. Sonst wäre sie nicht Kanzlerin.
Gleichwohl, wie schon an anderer Stelle geschrieben: Gut, dass sie da war, schön, was sie gesagt hat. Es ist nicht der große Wurf, aber ich meine, es hilft.