Elektronische Gesundheitskarte: Experten warnen vor Hackerangriffen und Milliardenkosten

„Die elektronische Gesundheitskarte ist ein teures, überflüssiges bürokratisches Monster“, warnt der Arzneimittelexperte Professor Dr. rer. nat. Harald Schweim. Die Gesundheitskarte sei kein Fortschritt, sondern eine gigantische Geldverschwendung, kritisierte der frühere Leiter des Instituts für Arzneimittelsicherheit im Bundesministerium für Gesundheit bei einer Veranstaltung der bundesweiten Bürgerinitiative “ Stoppt die e-Card“ im Ärztehaus Hamburg. Auch weitere unabhängige Wissenschaftler aus den Bereichen Datensicherheit und Gesundheitsversorgung sprachen sich gegen die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte in der geplanten Form aus.

„Der Berg kreißte und gebar eine Maus“, sagt Schweim. Die neue Versichertenkarte könne nicht mehr als die alte und „alle Versprechungen über eine Verbesserung der Datenlage im Notfall mit denen der Patient gelockt werden soll, sind nur Makulatur und das Ganze für 4-10 Milliarden Euro, je nach Schätzung, die dem Gesundheitssystem für den medizinisch-therapeutischen Fortschritt entzogen werden“.

In seiner jetzigen Form biete das System der elektronische Gesundheitskarte Hackern jede Menge Angriffpunkte, warnte Professor Hartmut Pohl auf der Veranstaltung. Der Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises Datensicherheit der Gesellschaft für Informatik sagte, seine Gesellschaft sei zwar eindeutig für die Chancen, die verstärkte Nutzung von Informationstechnologien im Gesundheitswesen biete. Sie fordere aber nachdrücklich „die Sachziele der Informationssicherheit im digitalisierten Gesundheitswesen zu berücksichtigen: Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Verbindlichkeit mit Authentizität und Beherrschbarkeit“.

Die Sicherheit sei aber bislang nicht garantiert: „Da die Patientenakten zumindest derzeit wegen ihrer Menge nicht auf der Gesundheitskarte der Patienten gespeichert werden können, müssen sie im Internet gespeichert werden. Eine sichere Speicherung im Internet ist aber trotz Verschlüsselung und Pseudonymisierung nicht möglich: Alle Computer, Server, Bridges, Switches etc. können erfolgreich angegriffen werden“, warnte der Datenschutzspezialist auf der Hamburger Podiumsdiskussion.

„Der Rollout der Karte in der Testregion Nordrhein muss sofort gestoppt werden“, forderte Dr. Silke Lüder, Sprecherin der bundesweiten Bürgerinitiative aus 47 Verbänden aus allen Teilen der Gesellschaft. Die Stellungnahmen der unabhängigen Experten seien eine eindeutige Aufforderung an die neue Bundesregierung, die unsichere Gesundheitskarte sofort zu stoppen. „Alleine in 2009 wurden für dieses verfehlte Projekt 760 Millionen Euro an Versichertengeldern zur Verfügung gestellt. Das e-GK Projekt in der geplanten Form ist gescheitert und die neue Bundesregierung würde gut daran tun, hier im Interesse der Versicherten mutige Konsequenzen zu ziehen, fordert Lüder. Hamburg 12.12.2009

Die Aktion „Stoppt die e-Card“ wird getragen von der „Freien Ärzteschaft“, IPPNW, „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“, Chaos Computer Club, NAV Virchowbund, Deutsche AIDS-Hilfe, Bundesarbeitsgemeinschaft PatientInnenstellen (BAGP) und 40 weiteren Organisationen.

eCard endgültig auf Eis legen - Flyer der Initiative 'Stoppt die eCard'
eCard endgültig auf Eis legen - Flyer der Initiative 'Stoppt die eCard'

(Pressemitteilung der Aktion „Stoppt die eCard“)

„Aus“ für elektronisches Rezept, „Spar- Version“ für elektronische Gesundheits- Karte

Die Elektronische Gesundheitskarte, einst vermeintliches Vorzeigeprojekt der deutschen Gesundheitspolitik, wird vorerst auf eine Modernisierung der Versichertenkarte eingedampft. Das ‚elektronische Rezept‘ steht vor dem völligen ‚Aus‘.

Einst war die umfassende Elektronisierung Ziel und Vorzeigeprojekt deutscher Gesundheitspolitik. Langfristige Einsparungen im Milliardenbereich versprachen sich Gesundheitspolitik und Krankenkassen, eine Effizienzsteigerung der Abläufe die Ärzteschaft – und lukrative Aufträge die Industrie. Doch nun kommt einiges auf den Prüfstand, anders steht direkt vor dem ‚Aus‘.

Wie im Koalitionsvertrag ausgehandelt, soll zum Themenbereich „elektronische Gesundheitskarte“ zunächst eine Bestandsaufnahme erfolgen, bevor weitere Entscheidungen getroffen werden. Dabei sollen

„der mögliche Leistungsumfang der Gesundheitskarte sowie das Geschäftsmodell und die Organisationsstrukturen …  sowie die bisherigen Erfahrungen in den Testregionen überprüft und bewertet werden.“

Dazu Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler:

„Wir gehen den Aufbau der Telematikinfrastruktur schrittweise an und beginnen mit einer erweiterten und datenschutzrechtlich sichereren Krankenversichertenkarte. Die Realisierung weiterer medizinischer Anwendungen wird so lange mit einem unbefristeten Moratorium belegt, bis praxistaugliche, höchsten datenschutzrechtlichen Anforderungen entsprechende Lösungen vorgelegt werden.“

Für die nahe Zukunft konkretisiert das Bundesministerium für Gesundheit:

„Die Erweiterung der Krankenversichertenkarte zu einer elektronischen Gesundheitskarte soll deshalb zunächst auf ein modernes, sicheres Versichertendatenmanagement sowie die Notfalldaten konzentriert werden.“

Das elektronische Rezept, das bisher als eines der Kernstücke einer umfassenden „Elektronisierung“ des Gesundheitswesens geplant war, wird es Medienberichten zufolge so nicht geben. Ein Vertreter des BMG kommentiert dazu trocken „wir müssen eine neue Sicht der Dinge entwickeln“.

Die elektronische Gesundheitskarte ist seit langem in der Kritik. Sylvia Urban, Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe, hatte schon auf dem111. Deutschen Ärztetag 2008 in Ulm betont

„Meine Daten gehören zu mir als Mensch und sie müssen bei mir bleiben. Ich muss entscheiden können, wer sie bekommt. Es ist gegen mein informationelles Selbstbestimmungsrecht, wenn so intime Daten gezielt gewonnen werden und vielleicht bald von Kassen, Arbeitgebern und anderen interessierten Gruppen ausgewertet werden dürfen. Menschen mit schweren Erkrankungen wie Aids müssen eine Chance behalten“.

Neben vielen anderen Organisationen ist auch die Deutsche Aids-Hilfe einer der zahlreichen Partner der Initiative „Stoppt die e-Card“.

Gläserner Patient - Aktion "Stoppt die e-Card!"
Gläserner Patient - Aktion "Stoppt die e-Card!"

Fortschritt durch Einschränkungen? Röslers Worte klingen vermeintlich nach schrittweisem Aufbau – jedoch von etwas (elektronische Gesundheitskarte, elektronisches Rezept, …), das längst beschlossen wurde. Worum geht es de facto? Im Gespräch ist eine „ergebnisoffene  Bestandsaufnahme“ – mit Moratorium und vorheriger Einschränkung auf eine Versichertenkarte. So wird, was als umfassende Elektronifizierung des Gesundheitswesens konzipiert wurde, zunächst zu kaum mehr als einer Modernisierung der lang bekannten Versicherten-Karte. Verklausuliert ein Ausstieg auf Raten aus einem nicht nur aus Sicht von Patientenvertretern und Datenschützern fragwürdigen Projekt?

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weitere Informationen:
BMG 18.11.2009: Bestandsaufnahme für den Aufbau der Telematikinfrastruktur aufgenommen
heise 19.11.2009: Elektronische Gesundheitskarte: Abgespeckt bis aufs Gerippe
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