Fernziel ‚test and treat‘ ?

Auf verschiedenen Ebenen wird über die Zukunft des HIV-Tests diskutiert. Im Blick, langfristig: „test and treat“, die umfassende Testung mit direkt anschließender Behandlung möglichst vieler HIV-Positiver. Chance – oder Gefahr?

„test and treat“, dieser Begriff meint ‚umfassende Testung auf HIV und sofortige antiretrovirale Behandlung aller Personen, die als HIV-positiv diagnostiziert werden‘.

Hintergrund dieser Strategie: die Überlegung, dass bei erfolgreich antiretroviral behandelten HIV-Positiven die Infektiosität sehr deutlich absinkt – und dass, so biostatistische Modellrechnungen, durch eine umfassende antiretrovirale Behandlung möglichst vieler Positiver nicht nur Erkrankungsrate und Sterblickkeit Positiver, sondern vor allem auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich reduziert werden könne. Ein (inzwischen u.a. aufgrund sehr optimistischer Annahmen häufig hinterfragtes und kritisiertes) mathematisches Modell von WHO-Forschern (Lancet 373, 48, 2009) meint gar zu zeigen, dass durch die Strategie eines umfassenden „test and treat“ HIV innerhalb von 50 Jahren ausgerottet werden könne.

Umfangreiche Studien laufen, ob in Südafrika, Uganda oder Asien und Latein-Amerika. Studien sowohl im Bereich theoretischer Modelle, als auch ganz praktisch in Form von Studien, die die Durchführbarkeit und Durchsetzbarkeit testen sollen.

„test and treat“ – diese Strategie scheint auf den ersten Blick weit weg, für Industriestaaten, für moderne Demokratien kaum vorstellbar.
Oder?

Die New York Times berichtet in ihrer Ausgabe vom 26.10.2009:

„Federal health officials are preparing a plan to study a bold new strategy to stop the spread of the AIDS virus: routinely testing virtually every adult in a community, and promptly treating those found to be infected.“

„test and treat“ – diese HIV-Strategie soll in den USA konkret getestet werden, in einem Pilotprojekt sowohl im District of Columbia als auch in der Bronx (beides Gebiete mit für die USA sehr hohen Infektionsraten).Offizielle betonen, dies sei nur der erste Schritt, der der Prüfung der Durchführbarkeit diene.
Worin der Kern des Pilotprojekts bestehen soll? Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes erläutert der New York Times:

„the key to test and treat would be capturing those who did not volunteer for testing because they did not believe they could be infected —“people who are promiscuous at college, the partygoers, the young professionals who go to the club”.

Die derzeitigen Diskussionen um ‚provider-initiated test‘, um ‚opt-out‘ sind nur der Auftakt – „test and treat“ ist der auf opt-out vermeintlich logisch folgende nächste Schritt im Arsenal von so manchem Aids-Experten. Zahlreiche Forscher arbeiten bereits auf verschiedenen Ebenen daran, diese Strategie zu spezifizieren und zu untersuchen, wie sie durchgesetzt und in der Praxis realisiert werden kann.

„test and treat“ ist keine ungefährliche Strategie. Eine Strategie, die potentiell Grundlagen unserer Gesellschaft bedrohen kann.
Wenn Menschen ohne ihre explizite Einwilligung auf HIV getestet, und dann direkt anschließend forciert mit Medikamenten behandelt werden – ist dies noch vereinbar mit Menschenrechten, mit dem Recht auf freie Entscheidung, mit dem Recht auf Nicht-Wissen, mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung?
Oder wird hier die Freiheit und Autonomie des Individuums geopfert auf dem Altar einer falsch verstandenen“public health“? Für ein „höheres Ziel“ der ‚öffentlichen Gesundheit‘? Ein weiterer Schritt in eine „Gesundheits-Diktatur“?

Die derzeitigen Diskussionen und Pilotprojekte scheinen weit weg. Die USA, ja ja.
Nein, so weit weg sind sie nicht. Wer Diskussionen in manchen unserer Nachbarländer verfolgt, wer auf Zwischentöne achtet, der mag hören, dass derartige Strategien auch in Europa zunehmend salonfähig werden. Der in meist eher verschwiegenen Zirkeln nicht selten zu hörende Gedanke, den gesellschaftlichen Nutzen in der Aids-Politik deutlich gegenüber dem individuellen vorzuziehen ist dann nur der erste Schritt vor dem zweiten, die individuellen Freiheiten bewusst einzuschränken.

Es gibt mancherorts eine Agenda hinter den vordergründigen Debatten um eine Intensivierung von HIV-Tests.

Können wir allen Ernstes um der öffentlichen Gesundheit willen eine HIV-Strategie wollen, die in die Freiheit des Einzelnen derart massiv eingreift? Eine Debatte, die nicht wenigen Ärzten, Statistikern und Gesundheitspolitikern überlassen werden darf. Eine Debatte, die breit und früh genug geführt werden muss – bevor verdeckt längst die entscheidenden Weichen gestellt werden.

weitere Informationen:
Regina McEnery: Test and Treat on trial. in: IAVI report Juli/August 2009
New York Times 26.10.2009: Fighting H.I.V., a Community at a Time
POZ 27.10.2009: U.S. to Launch 3-Year Comprehensive “Test and Treat” Study in Bronx and DC
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9 Gedanken zu „Fernziel ‚test and treat‘ ?“

  1. Jetzt nicht schockiert sein: Ich fänd‘ dieses ‚“test and treat“ nicht so schlimm. Wenn’s funktioniert und unterm Strich weniger Neuinfektionen und Leute mir bleibenden Immunschäden trotzt Therapie bei rauskommen. Dann müssen sich ein paar Leute halt beugen. Ausserdem: Jeder HIV+ muss ohnehin irgendwann behandelt werden. Eradiaktion mal anders.

  2. @ mike:
    ach nein, schockiert, deswegen? 😉

    aber: würdest du auch so argumentieren, wenn du selbst
    – keine versicherungen für deine eigene (zb alters-)vorsorge mehr abschliessen könntest, weil du plötzlich und unerwartet (und ungewollt) hiv-positiv getestet wurdest?
    – vielleicht probleme am arbeitsplatz bekommst, oder gar deinen traum-beruf gar nicht mehr ausüben darfst – weil du nun aktenkundig hiv-positiv bist?
    – chemotherapie (nichts anderes sind antiretrovirale Medikamente) nehmen müsstest, mit möglicherweise heftigen nebenwirkungen, obwohl dies medizinisch (noch) gar nicht erforderlich ist?
    – … (die aufzählung liesse sich fortsetzen)

    nur so gedanken 🙂
    das mit dem „dann müssen sich ein paar Leute halt beugen“ lässt sich leicht sagen, wenn’s einen persönlich nicht betrifft … und wenn’s einen dann persönlich angeht, sieht die welt vielleicht plötzlich ganz anders aus …

  3. @ mike
    Geht´s noch?!?
    …“dann müssen sich ein paar Leute halt beugen” – na wenn´s sonst nichts ist!
    Und wer sich nicht „beugen“ will, wird halt gebeugt – oder wie?
    Es schadet nie, vor dem Reden/Schreiben mal nachzudenken, z.B. darüber, wie dieses „beugen“ denn konkret aussehen soll? Wie man Zwangstests auf HIV macht, das wissen wir aus dem alten Seuchenrecht und dem alltäglichen Handeln deutscher Asylbehörden (zur Not mit polizeilicher Gewalt). Und wie habe ich mir dann eine Zwangstherapie vorzustellen? Täglicher Hausbesuch der Amtsärtztin? Gegebenenfalls auch mit polizeilicher Hilfe?

    Danke, ondamaris, für diese klare Analyse eines Denkens, das immer wieder so scheinbar harmlos daherkommt!
    In einer Zeit, wo immer mehr Bürger ihre Freiheiten offenbar gar nicht schnell genug selber aufgeben können (und die ihrer Nachbarn gleich mit, s.o.), sind Gedanken wie Deine wichtiger denn je.

  4. Eine absolute Horrovorstellung die zur Realitä werden kann. Wir denken das Du zu einer Risikogruppe gehörst – wissen das Du einer angehörst, Wir haben Dich aufgeklärt und Du weigerst Dich testen zu lassen. Da durch Menschen wie Dich die Volksgesundheit auf dem Spiel steht, bzw das Bestreben unser Volk vor Krankheiten zu schützen unterläufst werden wir wegen Verdacht der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen die im Verdacht stehen HIV + sein zu können und der daraus resultierenden Gefahr für die Volksgesundheit sowie der damit verbundenen Kosten im Gesundheitsbereich im Falle das Du HIV sein solltest zwangstesten.

    Die Menschenrechte des EInzelnen haben der Moral Herschenden zu weichen. Und wie diese Moral zu sein hat das bestimmen die Herrschenden.

    Nur ein gesundes Volk ist ein gutes Volk

  5. …nun meine herren und damen, wie ich zum beispiel- und wirklich nur als eines der vielen beispiele- am dienstag an der verbandstagung der aids-hilfe schweiz, lesen/hören konnte, sind die ziele klar: “ senkung der kollektiven virenlast in den hochprävalenz-gruppen“ , denn
    public health steht über allem anderen.
    und auf kurz oder lang wird der zweck die mittel heiligen. es sei denn es findet ein umdenken statt. einerseits was denn gesundheit des einzelnen und der gemeinschaft bedeutet und andereseits das machbarkeitsphantasien und macht klar benannt und relativiert würden.

  6. liebe michelle
    dem ansatz des umdenkens der u.a. die fähigkeit des reflektierens beinhaltet stimme ich zu. und – das ist die gute nachricht – es wird kommen der tag an dem es so sein wird. dessen bin ich gewiß. auf sprosse 4 der evolutionsleiter geht s damit los.

    gez
    mfg alivenkickn
    gruppe mensch – evolutionsleiter – sprosse 1

  7. „test and treat“

    Hier werden durch das Wörtchen ‚und‘ (‚and‘) zwei Begriffe, zwei Verfahren miteinander verbunden, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben.

    ‚treat‘ ist der gefährlichere der beiden Begriffe. Ich war und bin der Auffassung, dass der (mutmaßliche) Patient und nicht der Arzt über Behandlungen und ggf deren Unterlassen entscheidet. Jeder Mensch hat das Recht, Behandlungen, auch lebensrettende Behandlungen abzulehnen. Dieses Ablehnungsrecht – ich halte es für ein Grundrecht; es ist das Recht eines jeden Menschen leiden zu dürfen, krank sein zu dürfen, sterben zu dürfen – soll hier unterlaufen werden, indem man ‚treat‘ mit ‚test‘ verbindet. ‚treat‘ alleine wäre angesichts der aktuellen Diskussion um Sterbehilfe, würdiges Sterben, Patiententestament, Selbstbestimmungsrecht der Patienten, … nicht gut zu verkaufen. Dehalb kommt mit dem hinzugfügten ‚test‘ die scheinbar harmlose Variante eines Angebots zur Gesundheitsüberprüfung daher. Und es wird verfangen. Wer kann schon etwas gegen einen Test haben? Die aktuell bekannt gewordene Einstellungspraxis bei Daimler zeigt, dass die Menschen offenbar bedenkenlos ein bisserl Blut abgeben, ohne sich Gedanken zu machen, was für eine umfassende Erkenntnisquelle sie damit frei Haus liefern.

    Ist man aber erst getestet, bekommt man mit dem Testergebnis gleich die Behandlungsempfehlungen dazugeliefert (dabei muss es ja nicht unbedingt um HIV gehen) und die Vorladung zum nächsten Kontrolltermin dazu – wie beim TÜV! Derartige Massensicherheitsinspektionen kann man mit Maschinen und Elektrogeräten machen, aber nicht mit Menschen.

  8. Wenn schon Gesundheitsdiktatur, dann aber richtig. Massenzwangsimpfung Schweinegrippe, Kinder, die in ihren Familien nicht gesund ernährt werden in Gesundheitscamps, vorgeschriebenes Normalgewicht, absolutes Rauchverbot und Alkoholverbot bzw. staatl. kontrollierte Rationierung auch in privaten Zusammenhängen usw. usw.

  9. “ schöner “ gedankengang, steven. danke.
    wobei es in beide richtungen funktioniert bzw funktionieren soll, auch das recht auf nicht-wissen wird mit dem machbarkeitsdiktat nach dem testergebnis unterwandert.

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