Rolands Washington-Tagebuch, Tag 1: Aids 2012 – Es geht los … mit Demo und Minister

Wir treffen uns zu einer verträglichen Uhrzeit um als Gruppe gemeinsamen zur großen Demo unter dem Titel „Keep the Promise“ zu marschieren. Politiker in den USA und in aller Welt sollen durch diese Großdemonstration daran erinnert werden, die vereinbarten Ziele und Versprechungen zu HIV / AIDS endlich umzusetzen.

morgendliches Frühstücks-Hot Dog in DC
morgendliches Frühstücks-Hot Dog in DC

H. und ich müssen uns kurz vor dem Ziel erst mal stärken, da das Frühstück wegen vieler kleiner Arbeiten dann doch ausgefallen ist.

wir mal so ...
wir mal so ...

Die Veranstaltung wurde massgeblich von der Aids Health Foundation ausgerichtet.

Bühne mit Leinwänden und trommeltragenden Frauen
Bühne mit Leinwänden und trommeltragenden Frauen

Eine riesige Demomaschine wurde dafür in Gang gesetzt. Perfekt organisiert für sicher 10.000 Teilnehmer – inklusive kostenloser Regenschirme und Trinkwasserversorgung.

Leider waren dann die erhofften Massen nicht gekommen

Platz für weitere 8000 Demonstranten
Platz für weitere 8000 Demonstranten

In Amerika wir nicht so laienhaft wie bei uns in Deutschland demonstriert. Es gibt immer ein Prop-Department, das vieles Nützliches für die Teilnehmer vorbereitet, um eine schlagkräftige Veranstaltung zu gewährleisten – so sind auch vorbereite Transparente üblich. Das führt dann allerdings auch dazu, das der Veranstalter seine Message leichter unter das Volk bringen kann.

 Take Away Statement
Take Away Statement

Ich würde ungern mit einer Tafel „TEST AND TREAT NOW“ herumlaufen. So eine Forderung dient nicht unbedingt den Positiven, sondern eher Pharmafirmen und Public Health Überlegungen. Dass die Medikamente teuer sind für den Einzelnen und die Gesellschaft, dass Nebenwirkungen auftreten und die Auswirkungen von langer ART unbekannt sind, wird dabei vernachlässigt.

es gibt sie noch: Die guten Aktivisten aus Texas
es gibt sie noch: Die guten Aktivisten aus Texas

Im Gespräch mit P. aus Texas höre ich, das in Austin eine besonders hohe Neuinfektionsquote zum Problem wird. Der Cowboystaat ist schon immer restriktiv, defensiv, vermeidend, strafend mit seiner HIV- und Sexpolitik umgegangen. Gleichzeitig kommt es durch das gute Wirtschaftswachstum in der Region zu einer erhöhten Zuwanderung von Leuten, deren kulturelle Hintergründe anders sind (jemand aus New York kann da bereits aus einer anderen Welt kommen). Beide Faktoren zusammen bieten die Grundlage für eine überdurchschnittliche Ausbreitung von HIV.

Irgendwann geriet die Veranstaltung zum Popkonzert, weil der befürchtete Regen ausblieb, die Regenschirme zu Sonnenschirmen wurden und die Redner, Tänzer und Sänger sich nicht vom leeren Platz einschüchtern ließen und enthusiastisch „eindroschen“ auf das Publikum …

Weather Girls
Weather Girls

… das dann auch bereitwillig mitging

Wir mussten dann vor dem großen Finale bereits zum Kongresszentrum, um bei der Eröffnung des Deutschen Stands und des Global Villages auf der Aids 2012 dabei zu sein.

Bundesgesundheitsminister Bahr mit iwwit- Rollenmodell Marcel bei der Eröffnung des deutschen Standes auf der XIX. Internationalen Aids-Konferenz
Bundesgesundheitsminister Bahr mit iwwit- Rollenmodell Marcel bei der Eröffnung des deutschen Standes auf der XIX. Internationalen Aids-Konferenz

M. ist dann im letzten Moment (eigentlich schon 5 Minuten später) wie ein Schauspielprofi mit dem Minister vor die Kameras gesprungen und hat brilliant seinen Eröffnungspart zur Freude der Zuschauer, der Medien und sicher auch des Ministers gegeben.
Global Village und Exposition unterscheiden sich schon bei der Eröffnung sehr stark in ihrer Atmosphäre. Das Village ist lebendig und überraschend. Bis zum späten Abend wurden noch Gespräche geführt und Präsentationen gestartet…. und sogar Stände aufgebaut.

Scheinbar kein Tag ohne den Präsidenten in diesem Land: Heute flog er mit seinem Hubschrauber über mir herum (– vielleicht klappt ja doch was??).

Präsident über Demonstranten
Präsident über Demonstranten

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In ‘Rolands Washington-Tagebuch’ ist bisher erschienen:
ondamaris 18.07.2012: XIX. International Aids Conference 2012: Rolands Washington-Tagebuch, Tag -5: Flug und Einreise
ondamaris 18.07.2012: Rolands Washington-Tagebuch, Tag -4: Einladung bei Barack Obama
ondamaris 20.07.2012: Rolands Washington-Tagebuch, Tag -3: Obama spricht nicht
ondamaris 21.07.2012: Rolands Washington-Tagebuch, Tag -2: Kriminalisierung der HIV-Infektion … und … der Präsident … rauscht vorbei
ondamaris 22.07.2012: Rolands Washington-Tagebuch, Tag -1: Aids 2012 – Indigenious Youth is the Present … weil sie schon angefangen haben die Welt zu verändern
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‚Test and Treat‘ – Gefahr für ganzheitliche HIV-Prävention ?

Insbesondere in den USA wird in einigen Regionen massiv eine ‚test and treat‘ – Strategie zur Bekämpfung der HIV-Epidemie gefördert. Doch dies könnte nicht ausreichen für eine erfolgreiche HIV-Prävention, zeigt eine neuere Studie – und könnte zudem sowohl ganzheitliche HIV-Prävention als auch die Arbeit von Aids-Organisationen gefährden, befürchten andere.

Insbesondere in den USA wird breit über die Möglichkeiten der Strategie ‚test and treat‘ diskutiert. Eine jetzt publizierte Studie hat untersucht, ob mit dieser Strategie die HIV-Epidemie in den USA kontrolliert werden könnte – und kommt zu dem Ergebnis, ‚test and treat‘ allein sei nicht ausreichend.

“test and treat”, dieses Konzept meint ‘umfassende Testung auf HIV und sofortige antiretrovirale Behandlung aller Personen, die als HIV-positiv diagnostiziert werden‘, unabhängig davon ob eine antiretrovirale Behandlung im individuellen Fall tatsächlich auch medizinisch erforderlich ist:

„a strategy of universal voluntary HIV testing for persons aged ≥15 years and immediate administration of antiretroviral therapy for those found to be positive“ (Joep Lange; s.u.)

Doch ‚test and treat‘ könnte in der Praxis auf Probleme stoßen – und sich allein als nicht ausreichend erweisen, die HIV-Übertragung weitestgehend zu unterbinden. Zu diesem Schluss kommen Forscher in einer Mitte März veröffentlichten Untersuchung.

„Aids“ – russische 90 Rubel Briefmarke 1993 (wikimedia commons / Vizu)

Verspätete HIV-Diagnose, ein niedriges Maß an (dauerhafter) Überweisung an HIV-Spezialisten sowie suboptimale Therapietreue könnten die Möglichkeiten von ‚test and treat‘ unterminieren, die Übertragung von HIV massiv zu reduzieren.

Die Autoren äußern die Befürchtung, diese Problem könnten die Wirksamkeit von ‚test and treat‘ insgesamt gefährden:

„poor engagement in care for HIV-infected individuals will substantially limit the effectiveness of test-and-treat strategies“ (Gardner et al.; abstract; s.u.)

Selbst im besten Szenario, so die Autoren, habe ein Drittel aller HIV-Positiven in den USA [einschließlich derjenigen, die nicht von ihrem positiven HIV-Status wissen, d.Verf.] eine nachweisbare Viruslast und könne somit potentiell HIV auf andere Personen übertragen.

Besser als ‚test and treat‘ allein, so der Amsterdamer Aids-Experte Joep Lange in einem den Artikel begleitenden Kommentar, könne vor diesem Hintergrund eine ‚kombinierte Prävention‘ sein.

In den USA wird derzeit von manchen Experten massiv der Ansatz ‚test and treat‘ gefördert. Soweit, dass bereits Befürchtungen geäußert werden, hierbei könnten ganzheitliche Präventions-Ansätze gefährdet werden. So könne ‚test and treat‘ auch dazu führen, dass Aids-Organisationen zunehmend weniger Mittel zur Verfügung gestellt werden, befürchten zum Beispiel Organisationen in Kalifornien.

Bereits 2010 hatte eine Studie aus China Hinweise darauf geliefert, dass das Konzept ‚test and treat‘ im realen Leben komplexer und problematischer sei als in der Theorie erwartet.  Auch in Deutschland sind zudem Warnungen vor einer zunehmenden Medikalisierung der HIV-Prävention und deren Folgen zu hören.

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Eine bemerkenswerte Situation, eine Debatte die staunen lässt.

Bemerkenswert ist zum einen, mit welcher Intensität manche Experten die baldmögliche Einführung der Strategie ‚test and treat‘ befürworten und herbeizureden versuchen. Und angesichts neuer Daten und Erfahrungen fragen, ob denn ‚test and treat‘ genug ist – oder was ansonsten noch zu unternehmen sei.

Bemerkenswert ist vor allem aber, dass derzeit nur wenige Experten noch generell hinterfragen, wie verantwortbar das Konzept ‚test and treat‘ ist.

De facto bedeutet ‚test and treat‘, dass nicht nur breit auf HIV getestet wird, sondern auch, dass möglichst jede erkannte HIV-Infektion sofort und dauerhaft antiretroviral behandelt wird. Sofort – dies bedeutet auch: als HIV-positiv getestete Menschen werden antiretroviral behandelt, unabhängig davon, ob es für ihre individuelle (persönliche, medizinische, Lebens-) Situation überhaupt erforderlich, passend und sinnvoll ist.

Hier drohen nicht nur individuelle Gesundheit und individuelle Freiheitsrechte (z.B. das Recht, selbst über einen etwaigen Therapiebeginn zu entscheiden) unter die Räder zu geraten – was schlimm genug ist.

Sondern hier werden auch gesellschaftspolitische Akzente verschoben – mit weitreichenden Folgen. Test and treat, diese Strategie stellt den (vermeintlichen) gesamtgesellschaftlichen Nutzen (der erhofften Senkung der Anzahl der HIV-Neuinfektionen) über die individuelle Freiheit.

Die Freiheit des Einzelnen wird dabei potentiell dem höheren Wohl der ‚Volksgesundheit‘ untergeordnet. Eine Politik, die nach den Debatten um die Grundausrichtung der Aids-Politik längst überwunden schien. Eine Politik, die letztlich bitter an den Bayrischen Massnahmen-Katalog und seine freiheitsfeindlichen Tendenzen erinnert.

Diese Debatte jedoch wird kaum geführt – statt dessen werden Optimierungs-Möglichkeiten von ‚test and treat‘ vorgeschlagen.

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weitere Informationen:
Gardner EM et al. The spectrum of engagement in HIV care and its relevance to test-and-treat strategies for prevention of HIV infection. Clin Infect Dis 52: 793-800, 2011 (abstract)
Lange JMA. “Test and Treat”: is it enough? Clin Infect Dis, 52: 801-02, 2011 (Intro)
aidsmap 25.03.2011: Test-and-treat not enough to control HIV epidemic in the US
Bay Area Reporter 24.03.2011: New prevention plan likely to shuffle money for AIDS orgs
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Aids-Medikamente als Prävention: ‚test and treat‘ im realen Leben nicht so einfach wie gedacht?

HIV-Medikamente als Mittel der Aids-Prävention – ein viel diskutiertes Konzept in den letzten Monaten.  Eine Studie aus China zeigt, dass im realen Leben manchmal einiges anders laufen kann als in der Theorie erwartet …

‚Therapie als Prävention‘ (treatment as prevention), dieses Konzept geht davon aus, dass dadurch dass möglichst HIV-Positive erfolgreiche antiretrovirale Therapien einnehmen, aufgrund der stark reduzierten Infektiosität auch die HIV-Übertragungsrate sinken müsste. Gedankliche Basis dieses Konzepts ist das so genannte ‚EKAF-Statement‘ (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs).

Eine Studie aus China, die in der 1. Oktober-Ausgabe des Journal of Acquired Immune Deficiency Syndromes publiziert ist, wirft nun die Frage auf, ob dieses aufgrund theoretischer Überlegungen entwickelte Konzept sich im realen Leben ohne weiteres umsetzen lässt.

In der Studie lag die HIV-Transmissionsrate bei heterosexuellen serodifferenten Paaren (ein Partner HIV-positiv, ein Partner HIV-negativ) bei 5% – im Vergleich zu 3% bei anderen Paaren.

Die Studie fand in der chinesischen Provinz Henan statt – einer Region, die u.a. durch den ‚Blutspende-Skandal‘ bekannt wurde: durch unsaubere Verfahren bei kommerziellen Blutspenden wurden Tausende Chinesinnen und Chinesen in der Region mit HIV infiziert, als sie zum Gelderwerb Blut spendeten.
Aids-Aktivisten wie der mit dem Sacharow-Preis geehrte Hu Jia oder der jüngst festgenommene Tian Xi, die auf diese Missstände hinwiesen und sich für HIV-Infizierte einsetzten, wurden von den chinesischen Behörden kriminalisiert und verfolgt.

An der nun publizierten Studie nahmen 1.927 serodifferente Paare teil. Für die Jahre 2006 bis 2008 wurde die HIV-Inzidenz retrospektiv analysiert; die Teilnehmer wurden hinsichtlich ihres HIV-Schutzverhaltens befragt.

Dr. Myron Cohen (Foto: UNC)
Dr. Myron Cohen, Leiter der Studie (Foto: UNC)

Insgesamt konnten 4.918 Personen-Jahre ausgewertet werden. 84 Serokonversionen traten auf (HIV-Infektionen) – eine Rate von 4%.

91% der Paare, in denen eine HIV-Infektion auftrat, berichteten vom Geschlechtsverkehr in den letzten drei Monaten (im Vergleich zu 83% in der Gruppe, in der keine HIV-Infektion auftrat).
Die Häufigkeit von Geschlechtsverkehr korrelierte eindeutig mit dem Infektionsrisiko (fünffach höheres Transmissions-Risiko bei Paaren, die viermal oder häufiger Sex hatten im Vergleich zu Paaren mit niedrigerer Sex-Häufigkeit). Nur sieben Personen berichteten Sex außerhalb der Beziehung (darunter eine Serokonversion). Eine Person berichtete Drogengebrauch (keine Serokonversion); keiner der männlichen Teilnehmer berichtete von Sex mit anderen Männern.

1.369 Studienteilnehmer nahmen antiretrovirale Medikamente ein (80%); Daten zur Viruslast lagen nicht vor. Bei den Studienteilnehmern, die Medikamente nahmen, lag die HIV-Transmissionsrate bei 5%, bei denen ohne Medikamente bei 3% (Unterschied nicht signifikant).

Der Hypothese ‚Therapie als Prävention‘ folgend, wäre bei den behandelten Studienteilnehmern eine wesentlich niedrigere Transmissionsrate zu erwarten gewesen als bei den unbehandelten.

Die Forscher fanden heraus, dass bei denjenigen behandelten Teilnehmern, die ihre im Verlauf der Studie ihre Therapie wechselten, die Transmissionsrate niedriger war als bei denjenigen, die durchgehend die gleiche Therapie erhielten.

„Wird antiretrovirale Therapie auch unter den Bedingungen des realen Lebens geeignet sein, die HIV-Übertragungsrate zu senken?“, fragte der Leiter der Studie, Dr. Myron Cohen (University of North Carolina School of Medicine). Er halte es für klug, diese Frage zunächst zu beantworten, bevor Strategien wie „test and treat“ mit der Hoffnung auf einen positiven Effekt für die Bevölkerung breit angewendet werden.

Die Autoren vermuten, dass eine schlechte Compliance (Genauigkeit und Zuverlässigkeit der regelmäßigen Einnahme der Medikamente) eine der Ursachen des überraschenden Ergebnisses sein könnte.

weitere Informationen:
Cohen, Myron S MD: HIV Treatment as Prevention: To be or not to be? in: J Acquir Immune Defic Syndr, 55, 137-8, 2010 (online, kostenpflichtig)
aidsmap 07.10.2010: Does ‚real world‘ study cast doubt on use of HIV treatment as prevention?
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Guter Posi, böser Posi – Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

Guter Posi, böser Posi

Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

ein Gast-Kommentar von Phil. C. Langer

Es waren mitunter zwei miteinander zusammenhängende Themen, die vor zwei Jahren auf der Welt-AIDS-Konferenz in Mexiko im Mittelpunkt vielfältiger und kontroverser Diskussionen standen. Während unter dem Schlagwort der „Kombinationsprävention“ eine effektive Zusammenführung von Ansätzen thematisiert wurde, die sowohl auf Veränderungen des Verhaltens und der Verhältnisse als auch auf biomedizinische Interventionsinstrumente zielten, wurden letztere anhand der männlichen Beschneidung als Möglichkeit, die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr signifikant zu vermindern, unter die Lupe genommen. Wer nun eine Fortsetzung dieser Diskussionen auf der diesjährigen Welt-AIDS-Konferenz in Wien erwartet hatte, wurde enttäuscht. Von Beschneidung war nur mehr am Rande die Rede, wenn es darum ging, die damals geäußerten sozial- und kulturwissenschaftlichen Bedenken bezüglich der Akzeptanz und der Folgen als „bewiesenermaßen“ gegenstandslos ad acta zu legen. Und auch die Frage, wie die unterschiedlichen Präventionsansätze synergetisch zusammenwirken können, schien überholt zu sein. So wurde in mehreren Vorträgen die Bedeutung antiretroviraler Medikament als neue „magic bullet“ der Prävention auf eine einfache Formel gebracht: ART ist Prävention – oder vielmehr: Eine erfolgreiche Prävention ist letztlich nur durch die ART möglich.

Die Fokussierung auf die ART als privilegiertes Instrument zur Bekämpfung der globalen Pandemie bezieht sich natürlich auf die Erkenntnis, dass die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit von der Viruslast abhängt, die auch in der bekannten EKAF-Stellungnahme ausgeführt wird. Davon ausgehende mathematische Modelle legen in diesem Sinn eine umfassende Therapisierung aller Infizierten nahe. Am Beispiel von Südafrika etwa kommen Grulich et al. zum Ergebnis, dass eine universelle jährliche HIV-Testung aller Menschen über 15 Jahre in Verbindung mit einem sofortigen Beginn der ART nach der Diagnose zu einem absehbaren Ende der Epidemie führen würde: „Die Übertragung kann auf ein niedriges Niveau reduziert werden und die Epidemie kann über eine stetige Abnahme hin zur vollständigen Elimination eintreten, wenn diejenigen, die eine ART erhalten älter werden und sterben.“ (1) In Wien wurden diese statistischen Berechnungen fortgeführt. Die unbehandelte Positiven tauchen darin indes nur mehr als ein kollektives „Reservoir“ der Viruslast auf, das es auszurotten gilt. In der abstrahierten Kollektivierung schien dabei das konkrete Subjekt, der einzelne mit HIV und Aids lebende Mensch, zu verschwinden. Damit erhält die emanzipatorische Forderung nach universellem Zugang zur Therapie eine bedenkliche Schlagseite, sofern sie sich auch als nach universelle Behandlungsforderung verstehen lässt.

Die angedeutete Entwicklung wird in den Sozialwissenschaften als Biomedikalisierung bezeichnet (2). Der Begriff beschreibt einen Prozess, in dem nichtmedizinische Probleme als medizinische Probleme definiert und behandelt werden. Die damit einhergehende Ausweitung der medizinischen Deutungs- und Handlungsmacht auf psychosoziale und soziokulturelle Phänomene betrifft weite Lebens- und Erfahrungsbereiche auch jenseits von HIV und Aids: Zu den oft angeführten Beispielen gehören die extensive medikamentöse Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern, die monokausale Erklärung depressiver Störungen durch ein biochemisches Ungleichgewicht im Hirn, wodurch psychotherapeutische Möglichkeiten zu bloßen Begleitverfahren degradiert werden, und die pharmaindustriellen Möglichkeiten zur Behebung erektiler Dysfunktion, für die Viagra® steht, der die aktuell unter dem Schlagwort „Neuroenhancement“ laufende Diskussion um den Einsatz amphetaminhaltiger Medikamente zur Leistungssteigerung ohne medizinische Indikation.

Seit einigen Jahren wird von unterschiedlicher Seite auf eine umfassende Biomedikalisierung von HIV und Aids hingewiesen, die vielfältige Einflüsse der Biomedizin in Bereichen begründet, die außerhalb der rein medizinischen Behandlung der HIV-Infektion und ihrer physischen Folgen liegen – also zum Beispiel in der Psychologie, der Politik, im Recht oder der Prävention. Die aktuelle präventive Bedeutung der ART, auch im Hinblick auf ihre Nutzung als PEP und PrEP, sowie der Beschneidung, des HIV-Tests, aber auch die Neuverhandlung der Rolle von Ärzten, die über die Behandlung hinaus Deutungshoheit auch in der Prävention erlangen, sind Ausdruck dieser Biomedikalisierung. Unabhängig von den unbestrittenen Perspektiven, die sich durch die ART auch für die Prävention, nicht zuletzt als Beitrag zur Destigmatisierung von Positivsein und zur Integration von Positiven in Arbeit ergeben, gibt es doch auch „Nebenwirkungen“ dieser Biomedikalisierung für HIV-Positive, die thematisiert werden sollten.

Denn folgt man der argumentativen Linie, die unter Berufung auf ein festgesetztes, gesamtgesellschaftliches Allgemeingut von den mathematischen Modellen zur antiretroviralen Elimination der identifizierten „Reservoirs“ von Nichtbehandelten führt, so werden moralische Zuschreibungen erkennbar, die zwischen „guten“ und „bösen“ Positiven unterscheiden. So ist letztlich die umfassende Testung aller möglichen oder wahrscheinlichen Infizierten Voraussetzung ihrer umfassenden Behandlung. Wie aber ist dies mit dem Prinzip der Freiwilligkeit der Testentscheidung zu vereinen? Führt dies nicht zur Einführung des in den USA bereits bestehenden Opt-Out-Modells, demzufolge die HIV-Testung im Kontext ärztlicher Routineuntersuchungen mit gemacht wird, sofern kein expliziter Widerspruch erfolgt? Wie erscheint dabei ein Mensch, der sich trotz erkannter Risikokontakte nicht testen lassen will, obwohl es für Viele psychologisch durchaus wichtig sein kann, sich längere Zeit mehr oder weniger bewusst mit der möglichen Infektion auseinanderzusetzen, bevor sie durch die Diagnose „objektiv“ und „manifest“ wird.

Im Sinne der präventiven Durchmedikalisierung des „Reservoirs“ würde sich auch die Frage eines „richtigen“ Therapiebeginns – und damit der eigenen Entscheidung dazu – erübrigen: Die ART wäre sofort und für alle, unabhängig von dem gesundheitlichen Zustand und der Bereitschaft des Einzelnen durchzusetzen. Was aber wäre zu tun, wenn ein Mensch mit bekannter HIV-Infektion die Therapie nicht beginnen möchte? Wie weit geht man, die Freiheit des Einzelnen angesichts des ökonomisch und kollektivhygienisch definierten Allgemeinwohls einzuschränken? In diesem Sinn führen scheinbar wertfrei vorgebrachte Argumente der biomedizinischen Prävention schnell zu einer vermeintlich „objektiven“ Alternativlosigkeit der Implementierung, die dann indes moralische Bewertungen subjektiven Verhaltens mit sich bringt und sich in juristische Fragen übersetzen lässt.

Im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault kann man dies als Ausdruck der modernen Bio-Macht eines neoliberalen Staates verstehen, die einst gesellschaftlich definierte Bereiche wie Gesundheit/Krankheit in den Zuständigkeitsbereich des Individuums verlagert und zu einem Problem der individuellen Selbstsorge und Eigenverantwortlichkeit macht: „Das Spezifikum der neoliberalen Rationalität liegt in der anvisierten Kongruenz zwischen einem verantwortlich-moralischen und einem rational-kalkulierenden Subjekt. Sie zielt auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, deren moralische Qualität sich darüber bestimmt, dass sie die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational kalkulieren. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten.“ (3)

Paradoxerweise ermöglicht die Zuweisung individueller Handlungsverantwortung es dem Staat aber nicht nur, sich aus seiner Verantwortung zurückzuziehen, sondern eröffnet ihm auch neue strategische Möglichkeiten der Kontrollausübung, was in der Diskussion um die Anwendung des Strafrechts auf mögliche Infektionssituationen erkennbar wird. Der HIV-Positive erscheint als „Risikofaktor“, den es mithilfe juristischer (oder ökonomischer) Instrumente zu sanktionieren gilt; so hat es etwa rechtskräftige Verurteilungen von HIV-Positiven wegen ungeschützten Geschlechtsverkehrs gegeben – selbst wenn dieser einvernehmlich oder ohne signifikantes Übertragungsrisiko vollzogen worden ist –, und es liegen auch Berichte vor, wonach Krankenkassen versucht haben, (vermeintliche) HIV-Überträger in Regress zu nehmen. Hinzu kommt eine der für die strukturelle Prävention fatalen Folgen einer Schwächung des sense of community durch eben jene Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“ HIV-Positiven: zwischen denjenigen also, die sich „richtig“ – also: rational, moralisch, verantwortlich, präventionsgerecht, safe(r) – verhalten, und denjenigen, die sich „falsch“ – also: den Präventionsnormen widersprechend, unverantwortlich, unmoralisch, „gemeinschaftsschädigend“ – verhalten.

Vielleicht sollten wir – statt dieses Spiel moralischer Zuschreibungen mitzumachen – doch noch einmal an die Diskussion in Mexiko anknüpfen und die Frage stellen, welchen spezifischen Ort biomedizinische Ansätze und Instrumente im Kontext einer umfassenderen „Kombinationsprävention“ haben kann und wo ihre Grenzen liegen. In diesem Sinne ginge es dann nicht zuletzt darum, die Herstellung eines politischen und gesellschaftlichen Rahmens sowie individueller psychosozialer und ökonomischer Ressourcen als unverzichtbare Voraussetzung eines eigenverantworteten, gesundheitsbewussten Verhaltens zu verstehen. Und hier ist sicherlich noch genug zu tun.

Referenzen:
(1) Granich et al. (2008). Universal voluntary HIV testing with immediate antiretroviral therapy as a strategy for elimination of HIV transmission: a mathematical model. Lancet Online vom 26. November 2008.
(2) Kippax, S., & Holt, M. (2009). The State of Social and Political Science Research Related to HIV: A Report for the International AIDS Society.
(3) Lemke, T. (2007). Gouvernementalität und Biopolitik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Dieser Artikel erschien zuerst in ‚Projekt Information Juli / August 2010‘
Vielen Dank an Phil C. Langer und Projekt Information für die Genehmigung der Übernahme!

Fernziel ‚test and treat‘ ?

Auf verschiedenen Ebenen wird über die Zukunft des HIV-Tests diskutiert. Im Blick, langfristig: „test and treat“, die umfassende Testung mit direkt anschließender Behandlung möglichst vieler HIV-Positiver. Chance – oder Gefahr?

„test and treat“, dieser Begriff meint ‚umfassende Testung auf HIV und sofortige antiretrovirale Behandlung aller Personen, die als HIV-positiv diagnostiziert werden‘.

Hintergrund dieser Strategie: die Überlegung, dass bei erfolgreich antiretroviral behandelten HIV-Positiven die Infektiosität sehr deutlich absinkt – und dass, so biostatistische Modellrechnungen, durch eine umfassende antiretrovirale Behandlung möglichst vieler Positiver nicht nur Erkrankungsrate und Sterblickkeit Positiver, sondern vor allem auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich reduziert werden könne. Ein (inzwischen u.a. aufgrund sehr optimistischer Annahmen häufig hinterfragtes und kritisiertes) mathematisches Modell von WHO-Forschern (Lancet 373, 48, 2009) meint gar zu zeigen, dass durch die Strategie eines umfassenden „test and treat“ HIV innerhalb von 50 Jahren ausgerottet werden könne.

Umfangreiche Studien laufen, ob in Südafrika, Uganda oder Asien und Latein-Amerika. Studien sowohl im Bereich theoretischer Modelle, als auch ganz praktisch in Form von Studien, die die Durchführbarkeit und Durchsetzbarkeit testen sollen.

„test and treat“ – diese Strategie scheint auf den ersten Blick weit weg, für Industriestaaten, für moderne Demokratien kaum vorstellbar.
Oder?

Die New York Times berichtet in ihrer Ausgabe vom 26.10.2009:

„Federal health officials are preparing a plan to study a bold new strategy to stop the spread of the AIDS virus: routinely testing virtually every adult in a community, and promptly treating those found to be infected.“

„test and treat“ – diese HIV-Strategie soll in den USA konkret getestet werden, in einem Pilotprojekt sowohl im District of Columbia als auch in der Bronx (beides Gebiete mit für die USA sehr hohen Infektionsraten).Offizielle betonen, dies sei nur der erste Schritt, der der Prüfung der Durchführbarkeit diene.
Worin der Kern des Pilotprojekts bestehen soll? Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes erläutert der New York Times:

„the key to test and treat would be capturing those who did not volunteer for testing because they did not believe they could be infected —“people who are promiscuous at college, the partygoers, the young professionals who go to the club”.

Die derzeitigen Diskussionen um ‚provider-initiated test‘, um ‚opt-out‘ sind nur der Auftakt – „test and treat“ ist der auf opt-out vermeintlich logisch folgende nächste Schritt im Arsenal von so manchem Aids-Experten. Zahlreiche Forscher arbeiten bereits auf verschiedenen Ebenen daran, diese Strategie zu spezifizieren und zu untersuchen, wie sie durchgesetzt und in der Praxis realisiert werden kann.

„test and treat“ ist keine ungefährliche Strategie. Eine Strategie, die potentiell Grundlagen unserer Gesellschaft bedrohen kann.
Wenn Menschen ohne ihre explizite Einwilligung auf HIV getestet, und dann direkt anschließend forciert mit Medikamenten behandelt werden – ist dies noch vereinbar mit Menschenrechten, mit dem Recht auf freie Entscheidung, mit dem Recht auf Nicht-Wissen, mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung?
Oder wird hier die Freiheit und Autonomie des Individuums geopfert auf dem Altar einer falsch verstandenen“public health“? Für ein „höheres Ziel“ der ‚öffentlichen Gesundheit‘? Ein weiterer Schritt in eine „Gesundheits-Diktatur“?

Die derzeitigen Diskussionen und Pilotprojekte scheinen weit weg. Die USA, ja ja.
Nein, so weit weg sind sie nicht. Wer Diskussionen in manchen unserer Nachbarländer verfolgt, wer auf Zwischentöne achtet, der mag hören, dass derartige Strategien auch in Europa zunehmend salonfähig werden. Der in meist eher verschwiegenen Zirkeln nicht selten zu hörende Gedanke, den gesellschaftlichen Nutzen in der Aids-Politik deutlich gegenüber dem individuellen vorzuziehen ist dann nur der erste Schritt vor dem zweiten, die individuellen Freiheiten bewusst einzuschränken.

Es gibt mancherorts eine Agenda hinter den vordergründigen Debatten um eine Intensivierung von HIV-Tests.

Können wir allen Ernstes um der öffentlichen Gesundheit willen eine HIV-Strategie wollen, die in die Freiheit des Einzelnen derart massiv eingreift? Eine Debatte, die nicht wenigen Ärzten, Statistikern und Gesundheitspolitikern überlassen werden darf. Eine Debatte, die breit und früh genug geführt werden muss – bevor verdeckt längst die entscheidenden Weichen gestellt werden.

weitere Informationen:
Regina McEnery: Test and Treat on trial. in: IAVI report Juli/August 2009
New York Times 26.10.2009: Fighting H.I.V., a Community at a Time
POZ 27.10.2009: U.S. to Launch 3-Year Comprehensive “Test and Treat” Study in Bronx and DC
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