In Nürtingen wurde Mitte März ein HIV-positiver Angeklagter vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen. Einer der Gründe: er sei aufgrund erfolgreicher Therapie ’nicht ansteckend‘.
Der Angeklagte, ein Staatsbürger Kameruns, hat 2002 in Deutschland Asyl beantragt. Bei einer medizinischen Untersuchung in der Asylunterkunft wurde 2003 eine HIV-Infektion festgestellt.
Dem Angeklagten wurde ungeschützter Geschlechtsverkehr mit seiner früheren Lebensgefährtin in 192 Fällen vorgeworfen, wobei er billigend ihre HIV-Infektion in Kauf genommen habe.
Im April 2007 wurde ein gemeinsamer Sohn geboren. Die Hebamme informierte die Lebensgefährtin des Angeklagten über dessen HIV-Infektion (von der sie, so das Urteil, zulässigerweise durch die Betreuerin des Asylverfahrens wusste), fälschlicherweise mit dem nicht zutreffenden Hinweis, ihr Partner habe Aids.
Die Partnerin des Angeklagten wie auch das gemeinsame Kind sind medizinischen Untersuchungen zufolge nicht mit HIV infiziert.
Die HIV-Infektion des Angeklagten wird regelmäßig medikamentös behandelt. Aufgrund der erfolgreichen Therapie war bei dem Angeklagten seit mindestens 2005 die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesunken.
Der Angeklagte wurde vom Vorwurfs des Versuchs gefährlicher Körperverletzung freigesprochen.
Der Freispruch erfolgte, obwohl er ungeschützten Sex hatte und dabei vom Bestehen eines möglichen Infektionsrisikos -aber auch des Erfolgs seiner Therapie-wusste, zudem seine Partnerin nicht oder nicht in vollem Umfang von seiner Erkrankung informierte.
Der Vorwurf des Versuchs einer gefährlichen Körperverletzung sei nicht bestätigt worden, so das Gericht.
Zur Begründung führt das Urteil aus: Der Angeklagte habe eine Viruslast ‚Null‘ (so das Urteil, gemeint wohl ‚unter der Nachweisgrenze‘) und zudem eine hohe Compliance (nehme seine Medikamente regelmäßig und korrekt ein). Der Angeklagte sei aus medizinischer Sicht „nicht ansteckend“, führte ein eingeschalteter Gutachter aus. „Dies bedeute, dass von einer solchen Person keine Gefahr der Ansteckung für Dritte ausgehe“, so der Gutachter laut Urteil.
Das Urteil resümiert: „Soweit eine Person, die HIV positiv ist, eine Viruslast von Null hat, ist sie nach medizinischen Gesichtspunkten und menschlichem Ermessen nicht ansteckend. Diese Person kann sonach tatsächlich den HI-Virus nicht übertragen. Ein von dieser Person ausgeübter ungeschützter Geschlechtsverkehr ist daher grundsätzlich -in objektiver Hinsicht -nur als untauglicher Versuch zu werten.“
Der ‚Täter‘ erfülle nicht alle ‚Tatbestandsmerkmale‘. Insbesondere der Vorsatz entfalle: „Unzulässig ist aber, ohne weiteres aus dem Wissen eines Täters um seine HIV-Infektion und darum, dass ungeschützter Sexualverkehr generell zu einer HIV-Übertragung geeignet sein kann, auf die billigende Hinnahme einer Infizierung des Partners zu schließen (BGH NStZ 1989, 114, 116). Wenn -wie hier -die Gefahr sich objektiv nicht verwirklichen kann, da beispielsweise eine Viruslast nicht besteht, kann aus der Tatsache, dass der Täter ungeschützt Geschlechtsverkehr ausübt und um seine HIV-Infektion weiß, nicht von bedingtem Vorsatz hinsichtlich einer Ansteckung ausgegangen werden. Vielmehr kann in solchen Fällen ein Täter -wie der Angeklagte in vorliegender Sache- sogar begründet davon ausgehen bzw. hoffen, es werde nicht ’schon nichts‘, sondern ’sicher nichts‘ passieren. Dies lässt einen Vorsatz entfallen.“
Amtsgericht Nürtingen, Geschäftszeichen 13 Ls 26 (HG)-Js 97756/07
Das Urteil des AG Nürtingen ist bemerkenswert. Vor allem, weil hier in erstaunlich deutlichem Umfang das in Rechtsprechung umgesetzt wurde, was noch jüngst zu lauten Diskussionen und Aufschreien führte, als es die EKAF in ihrem Statement „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs“ verkündete.
Das Urteil sollte allerdings nicht als Aufforderung zu ungeschütztem Sex fehlverstanden werden.
Vom richterlichen Urteil unbenommen bleibt sicher eine Bewertung des Verhaltens des Angeklagten. Ob man eine vertrauensvolle Basis für eine Beziehung legen kann, indem man im Wissen des eigenen positiven HIV-Status ohne (ausreichende) Information ungeschützten Sex mit seinem Partner, seiner Partnerin hat, bleibt zumindest fragwürdig.
weitere Informationen:
Zu dem Urteil wurde inzwischen u.a. berichtet in der Zeitschrift GesR (Gesundheits-Recht) Ausgabe 05/2009 S. 276/277 (Inhaltsverzeichnis pdf, Artikel nicht online)
Der ‘Täter’ erfülle nicht alle ‘Tatbestandsmerkmale’. Insbesondere der Vorsatz entfalle: „Unzulässig ist aber, ohne weiteres aus dem Wissen eines Täters um seine HIV-Infektion und darum, dass ungeschützter Sexualverkehr generell zu einer HIV-Übertragung geeignet sein kann, auf die billigende Hinnahme einer Infizierung des Partners zu schließen (BGH NStZ 1989, 114, 116). Wenn -wie hier -die Gefahr sich objektiv nicht verwirklichen kann, da beispielsweise eine Viruslast nicht besteht, kann aus der Tatsache, dass der Täter ungeschützt Geschlechtsverkehr ausübt und um seine HIV-Infektion weiß, nicht von bedingtem Vorsatz hinsichtlich einer Ansteckung ausgegangen werden. Vielmehr kann in solchen Fällen ein Täter -wie der Angeklagte in vorliegender Sache- sogar begründet davon ausgehen bzw. hoffen, es werde nicht ’schon nichts’, sondern ’sicher nichts’ passieren. Dies lässt einen Vorsatz entfallen.“
Hossa . . . ein weiterer paradigmenwechsel – quantensprung bzgl einer seelischen entlastung – befreiung für hiv positive.
„Vom richterlichen Urteil unbenommen bleibt sicher eine Bewertung des Verhaltens des Angeklagten. Ob man eine vertrauensvolle Basis für eine Beziehung legen kann, indem man im Wissen des eigenen positiven HIV-Status ohne (ausreichende) Information ungeschützten Sex mit seinem Partner, seiner Partnerin hat, bleibt zumindest fragwürdig.“
Was die Bewertung betrifft steht es niemand ausser den beiden Betroffenen zu. Der individuelle moralische und ethische aspekt – damit muß jeder selbst zu recht kommen – soweit sich ihm persönlich dieser aspekt überhaupt im kontext für sein handeln und denken erschlossen haben.
@ Dennis:
hoppla … ja, ein paradigmenwechsel, aber derzeit nur bei einem amtsgericht … bleibt abzuwarten, wie sich die neuen entwicklungen in weiteren urteilen auswirken … mehr dazu folgt …
Ist bekannt, ob die Staatsanwaltschaft gegen die Hebamme ermittelt? Wegen ausgesprochener Dummheit!
Falls jemand den Volltext des Urteils hat, ich wäre daran sehr interessiert.
@stefan
wohl eher wegen verletzung der persönlichkeitsrechte…
@ Stefan:
aus dem Urteil geht nur hervor, dass die dame berechtigterweise von der hiv-infektion wusste. von weiteren ermittlungen ist mir nichts bekannt …
@ Michèle:
na ja – die dame hat vielleicht, dies sei ihr als mögliche motivation zugute gehalten, auch die persönlichkeitsrecht der werdenden mutter (sowie des kindes) im auge gehabt …