Wann ist der optimale Zeitpunkt, mit einer antiretroviralen Therapie zu beginnen? Eine seit Jahren immer wieder diskutierte Frage – mit nun einer neuen Antwort aus den USA: ab 500 CD4-Zellen. Oder früher…
Spätestens seit es Kombi-Therapien und eine gewisse Auswahl an Medikamenten gibt, steht immer wieder auch die Frage im Raum: wann ist der beste Zeitpunkt, mit der Therapie zu beginnen?
Bisher gab es immer wieder verschiedene Aussagen zu dieser Frage – und bisher wenig harte Daten. Kaum eine Studie hatte bisher konkret untersucht, welche unterschiedlichen Folgen für den Patienten (z.B. in Form von Erkrankungen) verschiedene Zeitpunkte des Therapiebeginns haben. Nun liegen Studiendaten vor, und eine neuen Empfehlung aus den USA.
Das ‚USA-Panel‘ der IAS International Aids Society kommt nun (für die USA) zu dem Schluss, dass für HIV-Infizierte ohne Symptome ein Beginn einer antiretroviralen Therapie bei 500 CD4-Zellen empfohlen wird. Positive mit Immunwerten über 500 CD4 sollten (unabhängig vom konkreten CD4-Wert) einen Therpaiebeginn erwägen, insbesondere wenn sie einen starken Abfall der CD4-Werte haben, oder z.B. an Ko-Erkrankungen wie Hepatitis B oder Hepatitis C leiden, über 60 Jahre alt sind oder ein erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben:
„Therapy is recommended for asymptomatic patients with a CD4 cell count ≤500/µL, for all symptomatic patients, and those with specific conditions and comorbidities. Therapy should be considered for asymptomatic patients with CD4 cell count >500/µL.“
und
„Therapy is recommended regardless of CD4 cell count in the following settings: increased risk of disease progression associated with a rapid decline in CD4 cell count (ie, >100/µL per year) or a plasma HIV-1 RNA level greater than 100 000 copies/mL; older than 60 years; pregnancy (at least by the second trimester); or chronic HBV or HCV coinfection … ; HIV-associated kidney disease …“
Begründet werden die veränderten Empfehlungen u.a. mit Ergebnissen der Cascade-Studie. Auf der XVIII. Internationalen Aids-Konferenz in Wien vorgestellte Daten der Studie an 9.455 Teilnehmern zeigten Vorteile für einen Therapiebeginn schon ab 500 CD4-Zellen. Die Rate der Aids-Erkrankungen und Todesfälle sank in der Gruppe, die zwischen 350 und 499 CD4/mm³ hatten, von 21 pro 1.000 Personen-Jahre (bei den Teilnehmern, die mit Therapiebeginn warteten) auf 17 pro 1.000 Personen-Jahre bei denen, die bei 500 CD4 mit der Therapie begannen (minus 25%). In der Gruppe 200 bis 349 CD4 belief sich der Unterschied auf 29 im Vergleich zu 19 pro 1.000 Personen-Jahre (minus 40%).
Die aktuellen Deutsch-Österreichische Leitlinien zur antiretroviralen Therapie der HIV-1-Infektion betonen
„Die Indikationsstellung zur Therapie … muss im Dialog zwischen spezialisiertem Arzt und informiertem Patienten gestellt werden.“
Und äußert sich zur Frage eines Therapiebeginns zwischen 350 und 500 CD4:
„In diesem Bereich der CD4+-Zellzahl ist eine Therapieindikation daher generell vertretbar. Bei Hinzutreten zusätzlicher Risikofaktoren oder rasch sinkenden CD4-Zellzahlen ist eine Therapie im allgemeinen ratsam.“
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Die Frage ‚wann beginne ich mit antiretroviraler Therapier‘ ist für jede und jeden HIV-Positiven im Verlauf seiner HIV-Biografie eine wichtige Frage. Zumal es sich i.d.R. um eine ‚Entscheidung fürs Leben‘ handelt – geht es doch darum, einmal angefangen die Medikamente lebenslang zu nehmen.
Allerdings ist bei der Frage, welcher Zeitpunkt der richtige für einen Therapiebeginn ist, immer auch der Blickwinkel und die Interessenlage entscheidend. Geht es um Behandlung? Oder geht es um Prävention?
Ein HIV-Positiver wird vermutlich neben reinen Zahlen und Werten auch seine Lebensumstände in Erwägung ziehen, sich über Nebenwirkungen und Langzeit-Folgen Gedanken machen.
Ein Epidemiologe oder auch ein Präventionist hingegen wird z.B. eher die Frage im Auge haben, wie entwickelt sich das Infektionsgeschehen. Tendenziell wird dies potentiell zu der These führen, jeder HIV-infizierte sollte schnellstmöglich dauerhaft Medikamente nehmen – weil er dann nicht mehr infektiös ist. Überlegungen und Konzepte wie „test and treat“ zeigen, dass dies weit mehr ist als nur eine unkonkreten Befürchtung.
Die Frage des Therapiebeginns war lange eine überwiegend individuelle Frage. Eine Entscheidung von Arzt und Patient. inzwischen jedoch wird sie zunehmend auch zu einer kollektiven Frage, zu einer von Prävention und Public Health (gemacht). Eine Verschiebung der Gewichte, die die Frage aufwirft, welche Bedeutung noch Situation und Wille des einzelnen Patienten haben. Und – im Extremfall, wo das Recht und die Freiheit des Patienten bleibt, dennoch, trotz aller möglicherweise guten Gründe, ’nein‘ zu sagen zum Angebot der medikamentösen Therapie.
Wir erleben eine der schwierigen Folgen des EKAF – Statements. Schon finden auf Ärzte-Kongressen (wie dem DAGNÄ-Workshop 2010) Veranstaltungen statt mit Titeln wie „Alle Infizierten behandeln“ – immerhin derzeit noch mit einem Fragezeichen dahinter.
Noch steht dort ein Fragezeichen. Wie lange noch? Denkbar ist ein Szenario, dass der sofortige Beginn einer medikamentösen Therapie nach Test Pflicht, gar Zwang wird, unabhängig von der individuellen Situation des einzelnen HIV-infizierten Menschen, allein „zum Wohl der Volksgesundheit“. Eine erschreckende Vorstellung – die so unrealistisch nicht scheint. Es gilt wachsam zu sein …
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Nachtrag 03.08.2010: Im gedruckten Vorab-Programm des DAGNÄ-Workshops 2010 war ein Vortrag von St. Deeks mit dem Titel „Alle Infizierten behandeln?“ angekündigt. Im nun online stehenden Programm hat der Vortrag des selben Redners den (das Thema vermutlich weiter umschreibenden bis vielleicht verhüllenden) Titel „HIV and inflammation: the pathogenesis of treated HIV disease and its implications for when to start ART“.
weitere Informationen:
aidsmap 23.07.2010: CASCADE analysis finds antiretroviral treatment benefits are evident below CD4 count of 500, uncertain above this level
JAMA 21.07.2010: Antiretroviral Treatment of Adult HIV Infection – 2010 Recommendations of the International AIDS Society–USA Panel
hivandhepatitis.com 23.07.2010: New International AIDS Society-USA Guidelines Recommend Starting Antiretroviral Therapy at 500
NZZ online 24.07.2010: Frühzeitige Behandlung als Mittel gegen die HIV-Epidemie
Marcel Dams 27.07.2010: Mein persönliches Horroszenario: Ein Therapiezwang!
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Die Frage des Therapiebeginn MUSS eine individuelle bleiben., muss eine Entscheidung von Arzt und Patient sein und bleiben. Sie darf nur von einem Aspekt abhängig sein: vom gesundheitlichen Aspekt des Patienten. Nur die Untersuchungsparameter das Patienten dürfen die Basis für diese Entscheidung sein.
Leider so fürchte ich wird dieses Recht einer freier Willensentscheidung zunehmend zu einer Forderung werden, einer Forderung der nur dann Rechnung getragen wird, wenn entsprechender Druck vorhanden ist. Diesen „Druck ausübend, eine solche Forderung vertretend“ sehe ich hier in Deutschland nicht. Aber vielleicht ist da die IAC in Wien ein Mut machender Anstoß gewesen.
gez Kassandra
Zwang bei der Behandlung gibt es selbst bei bestimmten Krankheiten nicht, die im Infektionsschutzgesetz hervorgehoben werden.
„(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) werden insoweit eingeschränkt.“
http://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/BJNR104510000.html
„Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden.“ Deshalb halte ich die Vorstellung einer Zwangsbehandlung zumindest für Deutschland für sehr unwahrscheinlich.
Und diese dürfte schon allein an der Kostenfrage scheitern. Würde man wirklich alle HIV-Infizierten in Deutschland zwangsbehandeln, wären das enorme Kosten. Langfristig dürfte das angesichts der Vorteile einer frühzeitigen ART zwar zu Kosteneinsparungen führen (sofern nicht völlig desaströse, bislang unbekannte Langzeitnebenwirkungen auftreten), aber wer denkt denn heutzutage in der Politik noch langfristig.
Ich finde es aber nicht verkehrt, wenn der einzelne HIV-Positive sich auch Gedanken um andere macht. Wenn er weiß, daß er z.B. gern unsafen Sex betreibt, dann sollte er sich auch der Verantwortung stellen, daß er durch eine Therapie das Risiko für den Partner minimieren kann.
Ja, ich weiß, da sind alle Partner jeder für sich verantwortlich, aber dennoch unterstütze ich es, wenn man hier nicht nur egoistisch denkt, sondern auch an die Allgemeinheit, und entsprechende Überlegungen in die Entscheidung „Therapiestart ja oder nein“ mit einfließen läßt.
Ach so, der zitierte Paragraph aus dem IFSG war § 28 Schutzmaßnahmen.