„Unsere Geschichte sind unsere Geschichten“ – Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?

Vom 4. bis 6. November 2011 fand in Berlin die Präventions-Konferenz der Deutschen Aids-Hilfe statt. Michael Jähme befasste sich in einem hier dokumentierten Impuls-Vortrag mit der Frage des Erinnerns:

„Unsere Geschichte sind unsere Geschichten“ –
Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?

Impulsvortrag zur DAH-Präventionskonferenz „Bis hierher – und noch weiter…“, 4.-6.11.2011 in Berlin
Workshop 1.3. Neues AIDS – alte Bilder / „Es sterben doch immer noch so viele!“

Wenn ich mich an die nun 30 Jahre von HIV und Aids erinnere, spüre ich als erstes, welch mächtigen Einfluss HIV auf mein Leben genommen hat. Durch HIV kam ein Faktor ins Leben, den weder ich noch andere schwule Männer ignorieren konnten. Wir mussten eine Form des Umgangs und des Arrangements mit diesem Virus finden. Das Virus wurde eine fremdbestimmende Einflussgröße, welche Autonomie und Eigenart zu beherrschen drohte, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.

Erinnerungen sind scheu. Sie stellen sich nicht auf Kommando ein. Erinnern ist nicht planbar. Erinnerungen kommen spontan. Manchmal überfallen und erschüttern uns Erinnerungen, wenn wir gar nicht damit rechnen: Untrennbar sind Erinnerungen mit Emotionen verbunden.

Wir spüren, dass das, was wir erinnern, immer emotional besetzt ist. Überhaupt erinnern Menschen nur, was emotional bedeutsam war im Leben. Es sind oft Begegnungen mit Menschen, bei denen wir uns wohl, geborgen und sicher gefühlt haben, mit denen wir Nähe erlebt haben, eben besondere, herausragende Momente im Leben.
Wir erinnern Erlebnisse, die selbstwertstärkend waren, wo wir uns angenommen und verstanden gefühlt haben – aber eben auch genau gegenteilige Erfahrungen: Situationen von Bedrohung, Gefahr und kränkender Ablehnung. Wir erinnern Brüche und Wendepunkte im Leben, Ereignisse, die starke Veränderungen ausgelöst haben, wo etwas Neues in unser Leben hineingekommen ist.

Wenn wir uns erinnern, vergewissern wir uns dabei unserer Identität und der Kontinuität unseres Lebens. Wie bedeutsam, ja existenziell die Fähigkeit zur Erinnerung für unser Identitätserleben ist, wird deutlich, wenn Menschen durch ein Hirntrauma, Demenz oder andere Ursachen ihr Erinnerungsvermögen verlieren: Sie wissen dann nicht mehr, wer sie sind, sie sind beziehungslos und verloren in der Zeit.

Unsere Erinnerungen sind also unser Anker und unsere Verortung in der Welt und in unserer Lebensumgebung, die sich permanent verändert. Durch das Bewusstsein über den eigenen Lebensweg erhalten wir die Gewissheit und Sicherheit, wo wir hingehören, wo wir zuhause und verwurzelt sind. Erinnerung ist Halt und Orientierung. Wir identifizieren uns mit dem, was wir erlebt haben: Es ist unsere Geschichte, die wir erzählen können und es ist unser Biografie, unsere Lebensgeschichte, unsere Einzigartigkeit.

Für ein selbstbewusstes Älter-werden hat in meinem Verständnis eine zentrale Bedeutung, möglichst umfassend zu allem, was ich erlebt habe und was ich handelnd getan habe, sagen zu können: „Ja, so war es – genau so war es!“

Angesichts von HIV und Aids wird es nun schwer, rückblickend auszuhalten, wie es war. Es sind doch viele Erinnerungen von starker und existenzieller Bedrohung: HIV machte Angst, die homophobe, sexualfeindliche Gesellschaft machte Angst – und gleichzeitig erlebten viele von uns, wie Partner, Freunde, Weggefährten, Menschen in unserem Umfeld, starben– oder auch wir selber durch HIV krank wurden.

Ob als HIV-Positiver, HIV-Negativer oder Ungetesteter: es ging ums Überleben in einer bedrohlichen und feindlichen Welt. Der Solidarität anderer konnten wir nie selbstverständlich gewiss sein. Unsere Erinnerungen sind oft bittere und schmerzhafte Erfahrungen.

Wie kann man überhaupt mit der Fülle all dieser Erfahrungen leben? Als ich einen über 60-jährigen schwulen Langzeitpositiven und HIV-Aktivisten der ersten Jahre einmal fragte: „Was machst du nur mit all deinen vielen Erinnerungen?“, antwortete dieser nach einem kurzen Moment des Innenhaltens spontan: „So schnell wie möglich vergessen!“
Diese Antwort stimmt mich nachdenklich. Ja, es ist eine Wahrheit, dass es vieles in unserem Leben gibt, an das wir uns nicht gerne erinnern, weil der Schmerz immer noch so groß ist – und wahrscheinlich auch bis an unser Lebensende groß bleiben wird.

Das ist glücklicherweise nur die eine Seite der Medaille.

Denn Not schweißt auch zusammen und angesichts der früher auszuhaltenden Not gab es oft unerwartete Hilfe und Solidarität von außen, und es gab einen sich immer stärker organisierenden Zusammenhalt von innen. Es gab nicht nur die persönlichen Niederlagen, wenn Freunde und Weggefährten an Aids starben, es gab auch Siege, wo wir uns als starke Gemeinschaft erlebten, wo wir uns in der Gesellschaft behaupteten, Einfluss und Macht errungen und unsere Realität in die öffentliche Wahrnehmung gerückt haben.

Zum Wesen der Erinnerung gehört die Nachdenklichkeit. Beim Erinnern blicken wir aus einer veränderten Perspektive und aus zeitlicher Distanz auf das Erlebte zurück. Indem wir Erinnerungen teilen und mitteilen, bewerten wir darin das Erlebte immer wieder neu, können es in einen größeren Zusammenhang stellen und die Bedeutung der Ereignisse neu bewerten.

Und wenn wir erst einmal anfangen, uns zu erinnern, dann erinnern wir auch immer mehr! Auch vergessen geglaubte Erfahrungen werden wieder wach. Sich zu erinnern braucht Zeit – und das Erinnern widersetzt sich damit hartnäckig einem Zeitgeist, der auf Professionalität, Ergebnisproduktion und Effektivität fokussiert ist. Wer sich erinnert, geht eben nach „innen“, geht auf eine Zeitreise in seine innere Welt. Vielleicht ist das Erinnern auch deshalb eher dem Alter vorbehalten, weil dann – befreit von beruflichen Zwängen – mehr Zeit da ist, sich zu erinnern. Gleichzeitig entsteht ein Bedürfnis, in der Fülle der eigenen Biografieerfahrungen den Überblick nicht zu verlieren: Wir finden eine Struktur, definieren Episoden und Abfolgen, konzentrieren Erlebtes in erzählbaren Geschichten.

Brauchen wir also eine neue Kultur des Erinnerns?

Ich vermag nicht zu benennen, ob wir überhaupt eine „alte“/bisherige Kultur des Erinnerns leben. Unsere Geschichte sind unsere Geschichten – und Geschichten zu erzählen wird häufig als verstaubt und unangebracht sentimental abgewertet. Wo gönnen wir uns denn im Alltag die Zeit, uns Geschichte und Geschichten zu erzählen? Wenn aber in unserer Geschichte unsere Identität liegt, vernachlässigen wir uns selber, wenn wir unsere Geschichten nicht wertschätzen und erzählen. Es lohnt, die Erinnerungen einzuladen. Erinnerungen sind stolz: Sie kommen nur zu denen, die ein offenes Ohr mitbringen.

Ich glaube, wir brauchen zunächst eine Sensibilität und ein Bewusstsein für den Wert des Erinnerns. Unsere Erinnerungen sind ein Schatz an Erfahrungen. Schließlich leben wir noch – und verfügen offensichtlich über Fähigkeiten und Lebensweisheiten, die dieses Überlegen zustande gebracht haben.