Meine erste positive Nacht hab ich im Nachtzug verbracht …

Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt, doch das war der beschissenste…

Gleich vorweg, ich war überhaupt nicht überrascht, ich war körperlich bereits diffus angeschlagen, unerträglich schlapp, Nachtschweiss, die üblichen Symptome würde ich sagen.
Ich hatte auch noch andere Gründe eine HIV-Infektion zu befürchten, aber das soll hier nicht das Thema sein.

Schon die Sprechstundenhilfe verhielt sich komisch, mir schwante Übles. Ich kam auch sofort dran.
Meine Hausärztin fackelte auch nicht lange, kaum sass ich wurde Tacheles gesprochen. „Herr Zero, es tut mir leid, aber der HIV-Test war positiv!“

Als das Rauschen in meinen Ohren und die Gedankenflut ein wenig abebbten hörte ich sie immer noch sprechen „…es wäre völlig in Ordnung wenn Sie weinen würden.“ Doch ich hatte mich schon wieder gefangen, ich war ja einer von der harten Sorte.
Ich unterhielt mich noch kurz mit ihr über die Medikation, leierte ihr eine ungefähre Lebenserwartung aus dem Kreutz ( ca. 5-10 Jahre), erhielt eine Überweisung in’s UNI-Klinikum Eppendorf und wurde der Arzthelferin zur erneuten Blutabnahme übergeben.
Die war auch echt geschockt und war persönlich sehr berührt, was ich nutzte um ein paar paar sehr geschmacklose Bemerkungen über AIDS-Kranke zu machen, ich hoffe die Leser verzeihen mir.

Na ja letztlich verliess ich die Praxis dann und war erstmal platt.
Meine erste Amtshandlung bestand darin einen Joint zu rauchen, unten auf einer Bank zwischen Balduintreppe und den Landungsbrücken. In meinem Gehirn kämpften 2 Funktionen gegeneinander an, die fahle, kalte Erkenntnis sich zu weit vorgewagt zu haben einerseits und der wirre Versuch alle Sexual-Kontakte seit meinem letzten Test 2 oder 3 Jahre zuvor aufzuschlüsseln.

Und das war die Stimmung des Tages, ich hatte in meinem Leben viel riskiert, Kämpfe, illegaler Kram, was Jungs halt so machen und ich hatte allen immer Schnippchen geschlagen, stolze Männer zu Boden geschickt, die schönsten Frauen gehabt und der Justiz den Finger gezeigt und das satt und reichlich… und jetzt würde ich dafür sterben. Und mir wurde in dem Moment auch klar von wem ich „es“ hatte. Was sich Monate später bestätigte ahnte ich mit (wie man so schön sagt) an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Michelle hiess die Gute und sie hatte mich nicht nur angesteckt, sie hatte es sogar vorsätzlich und geplant gemacht. Aber das ist wieder eine andere Geschichte….

Und da ja leider jeder Denkprozess zu seinem Ende führt gab mir das Schicksal einen letzten Judaskuss mit. Ich hatte auch mit grosser Wahrscheinlichkeit jemanden angesteckt, meine Ex-Freundin, die jetzt in Belgien wohnte und von der ich seit 3 Monaten oder so getrennt war.

Der schlimmste Moment an meinem „ersten Tag“ war in einer Telefonzelle. Meine Ex hatte sich so über meinen Anruf gefreut, dachte dass wir wieder zusammenkommen würden, aber ich musste ihr leider sagen was Fakt war.

Dieses Telefonat war wohl der schlimmste Moment in meinem Leben, ich heulte Rotz und Wasser. Ein gebrochener Mann.

In dieser Nacht fuhr ich mit der Bahn nach Belgien, Brüssel, eine Stadt in der ich vieles erlebt hatte.
Meine erste positive Nacht hab ich im DB-Nachtzug verbracht.

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„Ich hab in meinem Leben viele beschissene Tage gehabt …“ ist ein Beitrag von ‚Zero‘ [Pseudonym; Verfasser der Redaktion persönlich bekannt] im Rahmen der ondamaris-Reihe „unsere Geschichte(n)“.
Zero ist 38 Jahre alt und lebt in Hamburg. Er weiß seit 2000 von seiner HIV-Infektion, ist seitdem unter Therapie und unter Nachweisgrenze.

Danke an Zero für den Beitrag !