Egoismus versus Risikomanagement

Egoismus als Mittel der Prävention„, diesen Gedanken hat der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker vor Kurzem zur Diskussion gestellt. „Egoismus versus Risikomanagement“, fragt heute Steven in einem Gast-Kommentar:

Egoismus versus Risikomanagement

Die Diskussion um den richtigen Schutz vor einer HIV-Infektion ist fast so alt wie die Kenntnis um HIV selbst. Ficken nur mit Gummi, nicht im Mund abspritzen, blutige Sexpraktiken meiden, keine Partnerwechsel, auf Sex verzichten, Einhaltung der EKAF-Regeln und anderes mehr wurde und wird empfohlen.

Martin Dannecker, Sexualwissenschaftler in Berlin, bereichert nun die Diskussion um einen weiteren Ansatz:

Es gibt eine radikale Position, die man im Zusammenhang mit Prävention vertreten kann: die egoistische Position. Unter Schwulen ist es doch klar: Jeder, der eine HIV-Infektion nicht wenigstens stillschweigend in Kauf nimmt, kann nachhaltig darauf bestehen, dass entweder ein Kondom eingesetzt wird oder bestimmte Sachen nicht gemacht werden.

Ich glaube, es ist das Fruchtbarere, die erfolgreichere Position, wenn ich sage, ich will unter keinen Umständen positiv werden und setze daher meinen Egoismus durch. Von Egoismus zu sprechen hat etwas Erleichternderes, weil es die geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgeht.

Ondamaris berichtet darüber unter der Überschrift Egoismus als Mittel der HIV-Prävention?

Die Diskussion um die HIV-Prävention findet meiner Wahrnehmung nach überwiegend in geschlossenen Kreisen statt. Der „Endverbraucher“, namentlich der HIV-negative Endverbraucher, bekommt nur die auf Schlagworte und einfache Formeln reduzierten Präventionsbotschaften, meistens in Gestalt von Plakaten, Fernseh- und Kinospots sowie Zeitungsanzeigen, zu Gesicht. Die damit verbundenen Bemühungen, Vorverurteilungen und Schuldzuweisungen an die Adresse HIV-positiver Menschen abzubauen, werden von Zeit zu Zeit durch tendenziöse Berichterstattungen in den Medien konterkariert. Anhand spektakulärer Einzelfälle wird suggeriert, dass Prävention allein Sache HIV-positiver Menschen wäre und diese letztlich die Verantwortung trügen, falls es zur Übertragung von HI-Viren käme.

Dannecker möchte nun mit seinem Präventionsansatz der „egoistischen Position“ die „geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgehen“. Ich habe Zweifel, ob das gelingt. Dannecker überträgt die Aufgabe, für risikolose Sexpraktiken und/oder für die Benutzung von Kondomen zu sorgen, den vermeintlich und tatsächlich HIV-negativen Menschen, also zum Beispiel auch mir. Übernehme ich die Aufgabe nicht, bin ich nicht egoistisch genug und kommt es zu einer HIV-Übertragung, dann steht ganz automatisch der mir geltende Vorwurf im Raum, nicht wie empfohlen gehandelt zu haben und damit für die Folgen verantwortlich zu sein. Nun will ich mich nicht vor der Verantwortung für mein Wohlergehen und das der Menschen, mit denen ich sexuell interagiere, drücken. Ich gebe aber zu Bedenken, dass Präventionskonzepte, die für den Fall des Scheiterns im Einzelfall die Schuldfrage schon geklärt haben, nur schwer überzeugen können.

Es gibt noch andere Aspekte der „egoistischen Position“, mit denen ich mich nicht anfreunden kann:

Man kann sich um gelehrte Deutungen des Wortes „Egoismus“ bemühen, man kann den Begriff aber auch schlicht und ergreifend mit „Rücksichtslosigkeit“ übersetzen. Denn in der Tat ist ein egoistischer Menschen jemand, der auf die Belange und Interessen anderer keine Rücksicht nimmt; er stellt seine eigenen Wünsche und Ziele in den Vordergrund. Diese Wünsche und Ziele sind selten langfristige. Meistens geht es darum, Augenblicksziele zu verwirklichen. Konkret: „Ich will unter keinen Umständen positiv werden“, wird kaum Bestandteil einer auf lange Sicht angelegten, rationalen persönlichen Gesundheitsstrategie sein, sondern ist Zielvorstellung für das aktuelle Date, den One-Night-Stand, den Quickie. Damit entspringt die Unter-Keinen-Umständen-Haltung eher einer emotionalen Regung und berücksichtigt nicht die Belange des Sexpartners.

Auch wenn Sex heute eine leicht verfügbare Massenware ist – für schwule Männer obendrein fast immer kostenlos -, sehe ich in meinen Sexpartnern doch immer noch Menschen mit eigenen Wünschen und Vorstellungen. Das gilt auch, wenn der Kontakt, der sexuellen Kontakt nur eine halbe Stunde oder so andauert. Ich möchte von anderen Menschen als Mensch – und nicht als Fickmaschine – wahrgenommen werden und ich unterstelle meinen Sexpartnern, dass es ihnen nicht anders ergeht. Damit einhergehend möchte ich mir die Option auf kondomfreien Sex zumindest offen halten. Man mag diese Sichtweise als Gefühlsduselei abtun und dem unpersönlichen Orgasmus den Vorzug geben – eine Haltung, die sich gut mit dem von Dannecker erwähnten Egoismus paaren lässt. Man mag auch einwenden, dass gerade in Spontansexsituationen kaum ein anderes Schutzmittel als Kondome oder der Verzicht auf bestimmte Sexpraktiken verfügbar sei. Eine langwierige Diskussion über Serostatus und Infektiosität steht dem schnellen Sex jedenfalls im Wege.

Mitten im Wege steht aber auch die vermeintlich erfolgreiche Position (Dannecker!): „Ich will unter keinen Umständen positiv werden.“

Diese Haltung, konsequent umgesetzt, schließt viele Sexpraktiken, wenn nicht sogar jeden Sex aus. Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz, schon gar nicht durch Kondome. Ich gehe soweit zu sagen, dass diese Position Selbstbetrug darstellt: Der Egoist hat zwar seinen kurzfristigen Willen durchgesetzt, weil zum Beispiel Kondome benutzt werden, wiegt sich aber in falscher Sicherheit, denn er erkennt nicht, dass er keine erfolgreiche Position, sondern eine gefährliche Risikoposition eingenommen hat. Mit einem vernünftigen Risikomanagement hat sie jedenfalls nichts zu tun. Risikomanagement heißt nicht, alle Risiken zu vermeiden, sondern (vereinfacht) Risiken zu bewerten und Risiken bewusst einzugehen. Welche Risiken eingegangen werden können, hängt von der persönlichen Risikotragfähigkeit und Risikobereitschaft ab. Man kann hierfür vielleicht Faustregeln aufstellen, aber keine allgemeingültigen Verhaltensmaßstäbe definieren.

Egoismus ist auf lange Sicht unergiebig. Wer alle Risiken beim Geschlechtsverkehr ausschließen will, darf keinen Sex haben, ebenso wie jemand, der alle Risiken beim Straßenverkehr ausschließen will, nicht am Straßenverkehr teilnehmen darf. Wer unter keinen Umständen etwas riskieren will, hört am besten auf zu leben.

Man mag meinen Risikomanagementüberlegungen ob ihrer abstrahierten Schilderung Lebensferne vorhalten. Ich halte entgegen, dass in zwei, drei Sätzen formulierte Empfehlungen oft auch nur den Anschein der Lebensnähe und Machbarkeit für sich haben. Zum Beispiel geht Danneckers Herleitung des Fruchtbaren, des Erfolgreichen offenbar von der Annahme aus, dass der Verzicht auf bestimmte Sexpraktiken und die Kondombenutzung für die allermeisten Männer kein Problem darstellt. Für mich stellt er aber ein Problem dar. Ich möchte ohne Kondome ficken und gefickt werden und ich möchte auf keine der mir liebgewordenen Sexpraktiken verzichten. Und ich biete meine Lebenserfahrung als Beweis an, dass ich mich damit nicht in einer verschwindend geringen Minderheit schwuler Männer befinde. Schon deshalb komme ich mit der Egoismus-Methode nicht weiter. Sie würde zu der paradoxen Situation führen, auf gewollte Sexpraktiken zu verzichten, um dann höchst egoistisch ungewollte, aber vermeintlich sichere Sexpraktiken und/oder die Benutzung von Kondomen durchzusetzen.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Selbstverständlich können Kondome und Minimalsex für Sofortsexsituationen das Mittel der Wahl sein. Risikomanagementüberlegungen schließen das nicht aus – ganz im Gegenteil!

Dannecker stellt in dem Siegessäule-Interview, auf das sich ondamaris bezieht, zunächst den Egoismus als Präventionsmethode vor und meint, es gehe nur über die egoistische Schiene, um dann zu bekräftigen:

Die Vorstellung, es würde aus dem Altruistischen funktionieren, ist in dieser kapitalisierten egoistischen Kultur aberwitzig.

Wenn es tatsächlich so ist, dass wir in einer egoistischen Kultur, einer kapitalisierten gar, leben und dieser Zustand ein beklagenswerter ist – so jedenfalls verstehe ich Dannecker -, dann kann die Lösung doch nicht in noch mehr Egoismus bestehen. Mehr Egoismus bedeutet auch, mehr Verantwortung abschieben – also genau das Gegenteil dessen, was bezweckt werden soll.

Ich bezweifle allerdings schon, ob die Erkenntnis von der kapitalisierten egoistischen Kultur so pauschal richtig ist und für alle Bevölkerungsteile und alle Regionen Deutschlands gilt. Sicher haben die kulturellen, die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Einfluss auf das Verhalten der Menschen – auf der Straße und im Bett. Ich hoffe es ist nur der gestauchten Interviewform geschuldet, aber allen schwulen Männern das Prädikat „egoistisch“ und damit „rücksichtslos“ aufdrücken zu wollen, geht an der Lebenswirklichkeit zahlloser schwuler Beziehungen, mögen sie ein Leben lang oder nur ein paar Stunden halten, vorbei und wird den Präventionsdiskurs kaum fördern können.

And the Winner is…

Das nervt! All die Preisverleihungen im Fernsehen – kaum ein Sender kommt heute noch ohne aus. Wen interessiert das? Niemand weiß es so genau. Laufend werden neue Preise und Preiskategorien erfunden. Das Publikum ist gelangweilt und verlangt immer abenteuerlicheres von den Hofnarren, die es sich hält (oder halten sich die Narren das Publikum?). Deshalb durften oder mussten wir in dieser Preisverleihungssaison ertragen, dass Preisträger ihren Preis nicht tragen wollten („ich nehme den Prrrrrrreisssss nicht an“) und ein B-Promi einem anderen B-Promi kamerawirksam seinen fast nackten Hintern ins Gesicht reckte. Das nervt!

Es gibt aber auch andere Auszeichnungen; fernab des medialen Almabtriebs. Preise und Preisverleihungen, die einen ganz anderen ‚Wert‘, eine ganz andere Bedeutung haben. Preise, mit denen Menschen und ihre nicht austauschbaren persönlichen Leistungen gewürdigt werden sollen. Der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung ist ein solcher Preis, mit dem abseits des Mainstreams der Massenmedien Menschen und ihr, ich glaube es so schreiben zu dürfen, Wirken in einer medialen Nische gewürdigt werden sollen. HIV und AIDS sind eine solche mediale Nische. Jedenfalls soweit es um objektive und lebensnahe Berichterstattungen geht (das eine schließt das andere nicht aus, ganz im Gegenteil!), soweit es um sorgfältige und nicht tendenziöse Informationsvermittlung geht. Schlagzeilenträchtig und titelseitenfüllend ist HIV/AIDS fast immer nur, wenn es in einen negativen und dramatischen Kontext gestellt werden kann.

Seit mehr als zwanzig Jahren verleiht die Deutschen AIDS-Stiftung ihren Medienpreis. Die Liste der bisherigen Preisträger ist ein Verzeichnis mir unbekannter Menschen. Und doch sind sie mir vertrauter als die auswechselbaren Allerweltspreisträger, die alle paar Wochen über die Bildschirme flimmern.

In diesem Jahr gehört Ulrich Würdemann zu den Preisträgern. Ulli Würdemann ist ondamaris.

Geht man der Frage nach, warum der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung so unbekannt ist, dann liefert die AIDS-Stiftung selbst die traurige Antwort. Gerne hätte ich an dieser Stelle ein wenig mehr über den Preis und die Beweggründe der Stiftung, Ulli Würdemann mit diesem Preis auszuzeichnen, geschrieben. Doch die AIDS-Stiftung schweigt. Google liefert in diesen Minuten Informationen über alle möglichen viert- und fünftrangigen Preisverleihungen, aber so gut wie nichts über den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Auf der Homepage der Stiftung ist nur eine falsche Terminangabe zur Preisverleihung zu finden. Allein in einer Pressemitteilung heißt es lapidar: „Als Initiator und Redakteur des Internetauftrittes „Positiv schwul – Ondamaris“ erhielt Ulrich Würdemann den Medienpreis.“

Soweit ich sehe, erhält zum ersten Mal ein Blogger den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Ein schöner Beleg dafür, dass auch ‚die Profis der AIDS-Arbeit‘ anerkennen, dass Informationsvermittlung und Meinungsbildung nicht nur über den Zeitungskiosk und die Mattscheibe funktionieren, sondern zu Beginn des 21. Jahrhunderts andere, möglicherweise sogar zielführendere Wege gehen müssen und gehen können.

Soll ich eine eigene Würdigung versuchen? Eine ins einzelne gehende Analyse des Blogs ondamaris könnte die Bezüge der Posts untereinander und die Abfolge bestimmter Entwicklungen, auch in der formalen Gestaltung, aufzeigen. Sie müsste auch die zahllosen geistvollen Bezüge zu anderen Blogs und sonstigen Fremdquellen aufzeigen, würde allerdings an ondamaris‘ Ungebundenheit scheitern. Das Wesentliche bliebe in einer solchen Analyse eher verdunkelt: Die ungeheure Freiheit, mit der der Blogger, über ein gewaltiges Repertoire an Quellen und Informationen verfügend, Post für Post seinen eigenen Weg geht und immer wieder erstaunliches und doch unmittelbar überzeugendes bringt. Ein Blog lebt, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht von einer Handvoll triumphaler Posts, sondern vielmehr von dem Blogger, der dahinter steht. Eines ist nicht zu übersehen: Ondamaris lebt vom Fühlen und Denken des Ulrich Würdemann und seiner Sicht der Welt, seiner weiten Sicht der Welt.

Ich gratuliere herzlich zu diesem Preis! Und ein kleines Geschenk habe ich auch: ein ‚u‘. Lieber Ulli, Du weißt, wozu es gut ist! 😉

Die Preisverleihung fand in St. Gallen statt – im Rahmen des Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen AIDS-Kongresses 2009 (SÖDAK 2009). Stöbert man ein wenig in ondamaris, sind ein paar kritische Beiträge zum SÖDAK 2009 zu finden. Wie verträgt sich die generelle Kritik an der Rezeption des diesjährigen AIDS-Kongresses mit der Entgegennahme einer Auszeichnung am Schauplatz der SÖDAK 2009? Ich mag über die Beweggründe nicht spekulieren; vielmehr werde ich Ulli danach fragen. Dazu später mehr bei mir zu Hause.

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siehe auch: Steven Milverton 25.06.2009: Medienpreis 2007/2008 der Deutschen AIDS-Stiftung – Ein Gespräch mit ondamaris
DAH-Blog 26.06.2009: Wir gratulieren: DAS-Medienpreis für Ondamaris
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