Egoismus als Mittel der HIV-Prävention ?

Die ‚egoistische‘ Haltung „ich will nicht HIV-positiv werden“ – kann sie Mittel der Prävention sein? Martin Dannecker schlägt genau dies vor, und begründet.

Unter dem Titel ‚Lustprinzipien‘ behandelt die aktuelle Ausgabe des Berliner Homo-Magazins ‚Siegessäule‘ verschiedene Aspekte des Lebens mit HIV heute. Highlight des HIV-Schwerpunkts: das Interview mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker.

Der seit einigen Jahren in Berlin lebende Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schlägt in diesem Interview vor

„Es gibt eine radikale Position, die man im Zusammenhang mit Prävention vertreten kann: die egoistische Position. Unter Schwulen ist es doch klar: Jeder, der eine HIV-Infektion nicht wenigstens stillschweigend in Kauf nimmt, kann nachhaltig darauf bestehen, dass entweder ein Kondom eingesetzt wird oder bestimmte Sachen nicht gemacht werden.“

und begründet dies

„ich glaube, es ist das Fruchtbarere, die erfolgreichere Position, wenn ich sage, ich will unter keinen Umständen positiv werden und setze daher meinen Egoismus durch. Von Egoismus zu sprechen hat etwas Erleichternderes, weil es die geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgeht.“

Martin Dannecker
Martin Dannecker

Foto: Martin Dannecker im Juli 2008 bei einer Talk-Runde zum Thema ’25 Jahre Deutsche Aids-Hilfe‘ auf dem 126. Bundes­weiten Positiventreffen im Waldschlößchen

Dannecker äußert sich auch zur Frage von Schuld-Zuschreibungen (Negative / Ungetestete erwarten von HIV-Positiven, ihre Infektion vorher mitzuteilen, machen Positive (allein) verantwortlich für Schutz):

„Dass viele real oder vermeintlich Negative die Positiven für ihre eigene sexuelle Sicherheit verantwortlich machen, ist eine reine Delegation. Und wie löst man das als Positiver auf? Indem man sich bewusst macht, dass man diese zugeschriebene Schuld nicht anzunehmen braucht.“

Zur Frage, welche Bedeutung das EKAF-Statement (siehe „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„) heute für sexuelle Begegnungen und strafrechtliche Relevanz hat, äußert Dannecker

„Wenn man unter der Nachweisgrenze ist, wird das in Zukunft auch strafrechtsrelevant werden. Zum Teil ist es schon so, wie ich von Ärzten gehört habe, die Gutachten erstellt haben. Kommt man dadurch aus dem Geständniszwang raus? Wenn ich mit guten Gründen annehmen kann, dass ich nicht mehr infektiös bin, muss ich es dann in bestimmten Kontexten bei kurz- oder längerfristigen Begegnungen überhaupt noch sagen? Die Antwort lautet, bei allen Restrisiken, eher nicht.“

In der aktuellen Ausgabe der Siegessäule schildern zudem fünf junge Positive „ihre ganz persönliche Sicht auf das Leben mit HIV“ (unter ihnen auch ondamaris-Autor ‚Knut‘ („sei wütend!„)), wird Nikolaj Tange Lange („The Bareback Issue“) interviewt, und Carsten Schatz, erster offen HIV-positiver Landtags-Kandidat, lädt Menschen mit HIV ein „Zeigt euch!“.

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Ein unbedingter Lese-Tipp!

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„Egoismus zum Selbstschutz“
Martin Dannecker interviewt von Peter Rehberg und Sirko Salka
Siegessäule, Ausgabe August 2011
Seiten 16 bis 18
online als pdf hier

8 Gedanken zu „Egoismus als Mittel der HIV-Prävention ?“

  1. “ich glaube, es ist das Fruchtbarere, die erfolgreichere Position, wenn ich sage, ich will unter keinen Umständen positiv werden und setze daher meinen Egoismus durch. “

    Egoismus (griechisch/lateinisch ego ‚ich‘) bedeutet „Eigennützigkeit“. Das Duden-Fremdwörterbuch beschreibt Egoismus als „Ich-Bezogenheit“, „Ich-Sucht“, „Selbstsucht“, „Eigenliebe“.

    Egoismen (Plural) sind demnach Handlungsweisen, bei denen einzig der Handelnde selbst die Handlungsmaxime bestimmt. Dabei haben diese Handlungen zumeist uneingeschränkt den eigenen Vorteil des Handelnden zum Zweck. Wenn dieser Vorteil in einer symbiotischen Lebenshaltung zugleich auch der Vorteil anderer ist, dann sind diese Handlungen ethisch voll legitimiert.

    aus wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Egoismus . . . . interessant ist auch der weiterführende Link http://de.wikipedia.org/wiki/Ethischer_Egoismus

    So einfach wie genial. Unser Leben, unser Alltag, unser Handeln ist zum größten Teil von unserem Egoismus geprägt.
    Alle Achtung Herr Dannecker. Oft sind es die einfachsten Dinge die zu erkennen, sich gewahr zu werden am schwierigsten sind.

  2. [Verkürzt von Facebook https://www.facebook.com/ondamaris/posts/257605360918070%5D

    ‎“Dass Du auf Kondomen bestehst, ist verantwortungsvoll“ oder „Dass Du auf Kondomen bestehst, ist egoistisch“. Eine der beiden Aussagen taugt nicht als Präventionskampagne.

    „Ich bin meiner Verantwortung mir selbst gegenüber nicht gerecht geworden und habe mich bei X. angesteckt“ kann keine Schuld zuweisen. Anders bei „Ich war einmal nicht egoistisch, und X. hat mich angesteckt“.

    Die Eigenverantwortung aus den Botschaften Sero-Negativen gegenüber zu entfernen und durch den allgemein negativ besetzten Begriff „Egoismus“ zu ersetzen, halte ich für unsagbar dämlich.

  3. Vielleicht soll ja der Begriff „Egoismus“ als ein Verstärker dienen : Für das Stärken von Selbstbewußtsein HIV Positiver. Was als „Delegation „bezeichnet wird ist mit dem Wort „Egoismus“ genau diametral in die gleiche extreme Richtung gesetzt worden: „Delegiere nicht, ich brauche keine Schuldzuweisung, da ich selbstbewußt genug bin und keine Stigmata brauche“.

  4. clamix: das problem mit der verantwortung bei der klassischen prävension ist es, dass ihr inhalt/vorsatz/interesse schon im voraus von außen festgelegt wird. diese art von prävension diktiert den bürgern, wie sie ihren vorsatz beim sex haben sollen. „egoismus als mittel der prävension“ sehe ich als einen schritt zur eigenbemüdigung der bürger, den ich nur begrüßen kann. so kann es durchaus sein, dass man seiner verantwortung gerecht wird, obwohl man angesteckt wird. je nach vorsatz, den die prävension nicht vorschreiben sollte. der neue fokus auf egoismus/eigenen vorsatz könnte eine öffnung im hegemonischen sprachgebracuh der prävension in der verstarrung bei dem festgefahrenen verständnis der verantwortung bewirken.

  5. Martin Dannecker mag es Egoismus nennen, ich nenne es Eigenschutz, den jeder negative für sich selber anwenden sollte. Wenn ich bedenke das immer noch sehr viele nicht wissen das sie HIV+ sind, sollte dieser Eigenschutz für jeden ganz normal sein. Aber es ist leichter die Verantwortung anderen zu übertragen, also dem Positiven. Hier sehe ich den eigentlichen Egoismus.
    An einer Infektion ist immer der andere Schuld, sei es weil er seinen Status verschwiegen hat,HIV+ ist aber nicht getestet wurde oder aber sich nicht selbst geschützt hat. Ein Negativer kann sich eben nicht darauf verlassen, das der Partner wirklich negativ ist weil er nichts sagt. Einen wirklichen Schutz – bei wechselnden Partnern – kann es daher nur bei konsequenter Umsetzung Safersexregeln geben.
    Dieser Selbstschutz ist ja nun nicht wirklich neu, gerade in der heißen Zeit von Aids hatte er absolute Gültigkeit.

  6. sind die positiven alle altruisten, während die egoisten negativ bleiben?! *grins*

    wer negativ bleiben will, der muss sich schützen! – ohne wenn und aber! das gilt auch für andere bereiche! was hat das denn bitteschön mit egoismus zu tun? ich halte es für fatal einen derart negativen begriff für die prävention zu benutzen!

  7. Es ist mir doch egal, ob es Egoismus, Eigennutz oder Verantwortung genannt wird … solange Menschen endlich begreifen, dass man sich selbst schützen kann … oder welcher Teil von »geteilter Verantwortung« wird da nicht verstanden? Oder greife ich etwa in selbstbestimmtes sexuelles Leben ein, wenn ich sage: »Du kannst Dich schützen?«

  8. Es ist ganz klar, dass die meisten Schwulen und Männer nicht mit der eigenen und schon gar nicht mit derjenigen Verantwortung für andere umgehen können!
    Das sehe ich seit 10 Jahren auf den Foren und Kontaktplattformen im Netz. Und ich höre es von Saunagängern…
    Viele sind wie die Kinder, die glauben, es würde ihnen etwas vorenthalten, wenn sie mit Gummi ficken müssten. Das ganze ist wirklich ein Kopfproblem.
    Es steht aber heute bei EKAF die Frage im Raum: Welcher Egoismus ist der bessere – Andere zu infizieren (Selbstaufgabe), oder sich nicht infizieren zu lassen? (Selbsterhaltung)
    Dabei ist die mythische Sichtweise von Männlichkeit interessant: Viele wollen sich mit einem Schwanz den Mann reinstecken und mit dem Sperma die regelmässige „Portion Männlichkeit“.
    Und wieder Andere spielen das heterosexuelle Spiel: Du machst die Beine breit, ich ficke Dich und tschüss…
    Die männliche Psyche ist eben sehr unterschiedlich entwickelt und kann nicht einfach von der heterosexuellen Rolle direkt abgeleitet werden!

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