Kurz notiert … Oktober 2011 / 1

12. Oktober 2011: Patienten, die unter normalen Kriterien als übergewichtig bezeichnet werden würden, erreichten 12 Monate nach Beginn einer antiretroviralen Therapie die größten Anstiege der CD4-Zell-Zahlen, berichten US-Forscher.

11. Oktober 2011: Die Pharmakonzerne Gilead und Boehringer Ingelheim haben am 5. Oktober eine Vereinbarung unterzeichnet, nach der Gilead die exklusiven Rechte an der Weiterentwicklung der Boehringer-Substanzen einer neuen Klasse, der ’non-catalytic site Integrase Inhibitoren‘ (NCINIs) erhält. Boehringer wolle sich auf andere Substanzen in seiner Entwicklungs-Pipeline, besonders gegen Hepatitis C, konzentrieren, teilte das unternehmen mit.

Das Unternehmen Theratechnologies hat eine weitere Substanz entdeckt, die es auf Wirksamkeit gegen Lipodystrophie untersuchen will. Die neue Substanz soll breiter und elichter einsetzbar sein als das ebenfalls vom Unternehmen entwickelte Tesamorelin.

08. Oktober 2011: Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) fordert die Aufnahme von chronischen Krankheiten ins AGG.

05. Oktober 2011: Der frühere Vizepräsident des russischen Ölkonzerns Yukos Wassili Aleksanian ist einem russischen Medienbericht zufolge am 3,. Oktober an den Folgen von Aids gestorben.

01. Oktober 2011: Der Arm mit oralem Tenofovir wurde in der VOICE-Studie (Vaginal and Oral Interventions to Control the Epidemic) vorzeitig gestoppt. Das Data and Safety Monitoring Board der PrEP– /HIV-Präventions-Studie kam zu dem Schluss, dass selbst bei Fortsetzung der Studie bis zum vorgesehenen End-Zeitpunkt Tenofovir oral keinen Unterschied zu Plazebo zeigen werde.

Die Zahl der Hepatitis-C-Infektionen in den USA könnte um über eine Million zu niedrig geschätzt sein, glauben Epidemiologen.

Viramune, Patentrechte und – etwas Neues?

Ein Pharmakonzern stellt eine neue Formulierung eines Aids-Medikaments vor. Einmal täglich könne man es  in dieser neuen Formulierung nehmen, heißt es. Ein Fortschritt für Patienten? Oder stehen vielleicht andere Beweggründe hinter diesem ‚Fortschritt‘?

XVIII. Welt-Aids-Konferenz in Wien 2010. Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim stellt neue Daten zu seiner altbekannten Substanz Nevirapin (Handelsname: Viramune®) vor. In einer neuen ‚extended release‘ (XR) – Formulierung sei die einmal tägliche Einnahme vergleichbar mit der bisher nur möglichen zweimal täglichen Einnahme.

Die Meldung lässt aufhorchen. Weniger wegen des etwaigen ‚medizinischen Fortschritts‘, als vielmehr wegen der Frage „warum jetzt“?

Der Zug Richtung „einmal tägliche Therapie“ fährt schon viele Jahre. So dass die Frage nahezu im Raum steht: warum kommt Boehringer jetzt, erst jetzt, gerade jetzt mit seiner einmal täglich einnehmbaren Nevirapin-Formulierung?

Nevirapin ist keine neue Substanz. Es wurde bereits 1996 in den USA und 1997 in Europa zugelassen. Viel Zeit, um an einer verbesserten Formulierung zu arbeiten. Ist Boehringer Ingelheim also einfach ein in Sachen Entwicklung neuer Substanzen äußerst langsames Unternehmen? Wie schon einmal, wir erinnern uns an die unglaublich langsame Entwicklung von Tipranavir?

Oder hat die sehr späte nun scheinbar nahe kommende Marktreife des „extended release Nevirapin“ vielleicht etwas damit zu tun, dass der Patentschutz für Nevirapin in der ‚klassischen‘ Formulierung absehbar ausläuft? Ab 22. Mai 2012, in weniger als zwei Jahren, dürfen in den USA generische Versionen von Nevirapin verkauft werden (andere Quellen benennen sogar schon den 22. November 2011 als Datum des Patent-Ablaufs). Und in Europa läuft das Nevirapin-Patent sogar bereits am 16. November 2010 ab, in weniger als vier Monaten.

Andere Hersteller stehen schon bereit mit generischen Versionen von Nevirapin. Was sicherlich dem Absatz und vor allem (angesichts zunehmenden Preisdrucks) dem Umsatz von Boehringers Viramune nicht zuträglich sein dürfte. Eine neue Formulierung, zu gutem Preis, mit ‚frischem‘ Patentschutz (heißt auch: ohne Konkurrenz) für noch viele Jahre, kommt da sicherlich ganz gelegen …
Denn: eine neue Formulierung wird als neues Produkt zugelassen werden, mit neuem Patentschutz – und Schutz vor Nachahmer-Medikamenten …

Was umgekehrt zudem die Frage aufwirft, hätte Boehringer theoretisch die neue „einmal täglich“ – Formulierung auch früher auf den Markt bringen können? War nur der einzige Vorteil „Nutzen für Patienten“ nicht so bedeutend, wie der nun bevorstehende Nutzen „neuer Patentschutz für ein eigentlich auslaufendes Medikament“? Steht der kommerzielle Nutzen wieder einmal weit vor dem Patienten-Nutzen?

Nebenbei, Boehringer steht hier nur als Metapher, als ein Pharmakonzern, der gerade ein aktuelles Beispiel liefert. Der Mechanismus, den durch Generika gefährdeten Umsatz durch eine (vermeintlich) neue Formulierung und neuen Patentschutz weiter zu sichern, dürfte sich vergleichbar bei vielen Substanzen und Herstellern finden …

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Nachsatz: zur einmal täglichen Anwendung von Nevirapin gibt es bisher widersprüchliche Daten, siehe Links unten. Viramune® ist bisher nur zur zweimal täglichen Anwendung zugelassen.

weitere Informationen:
POZ 22.07.2010: Extended-Release Viramune Has Comparable Safety and Efficacy to Standard Viramune
XVIII. International Aids Conference: Comparison of 48 week efficacy and safety of 400 mg QD nevirapine extended release formulation (Viramune XR) versus 200 mg BID nevirapine immediate release formulation (Viramune IR) in combination with Truvada® in antiretroviral (ARV) naïve HIV-1 infected patients (VERxVE) (abstract)
aidsmap 13.02.2008: Boehringer-Ingelheim begins trial of once-daily extended release nevirapine
Department of Health and Human Services: letter to Huahai US Inc. (betr. Nevirapin Tabletten) 10.07.2007 (pdf)
cptech.org: anti-infective drugs
cptech.org: Background Information on Fourteen FDA Approved HIV/AIDS Drugs
aids.emedtv.com: Generic Viramune
aidsmeds 15.01.2009: Poor Viral Control With Once-Daily Viramune, Viread and Epivir
EMEA: Viramune EPAR summary for the public (pdf)
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Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung 2009/2010

Die Deutsche AIDS-Stiftung nimmt wieder Bewerbungen für ihren Medienpreis 2009/2010 an. Bewerbungsschluss ist der 31. Januar 2011.

Zugelassen sind Beiträge zum Thema HIV und Aids aus Print, TV, Hörfunk, Internet, anderen AV-Medien sowie künstlerische Beiträge, die in den Jahren 2009 oder 2010 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wurden.

Das Preisgeld beträgt insgesamt 15.000 Euro für bis zu drei herausragende Bewerbungen, gestellt von Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG.

Bewerbungen an die Deutsche AIDS-Stiftung, Medienpreis, Markt 26, 53111 Bonn

(Presseinformation der Deutschen AIDS-Stiftung)

weitere Informationen auch im Folder „Medienpreis_Folder_2009_2010“ der Deutschen AIDS-Stiftung

Merck Top, Abbott Flop – US-Aktivisten bewerten Pharma-Konzerne

Gute Noten für den Pharmakonzern Merck, letzter Platz für den Multi Abbott – so lautet das Resüme eines Rankings von Pharmakonzernen, das US-Aids-Aktivisten vorgenommen haben.

Wie gut sind die Bemühungen führender Pharmakonzerne im Kampf gegen Aids in den USA?
US-amerikanische Aids-Aktivisten der Gruppe ATAC (Aids Treatment Advocacy Coalition) bewerteten neun auf dem Gebiet der Aids-Medikamente bedeutende Pharmakonzerne (Abbott Laboratories, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Gilead Sciences, GlaxoSmithKline, Merck, Pfizer, Roche und Tibotec Therapeutics).

Die Unternehmen wurden in 5 Kategorien bewertet: Entwicklungs-Portfolio neuer Substanzen und Vorhaben, Zugang zu Medikamenten, Preispolitik, Beziehungen zu HIV-Communities sowie Marketing-Praktiken.

Eindeutiges Resultat: der Pharmakonzern Merck (in Deutschland MSD auf dem Markt) gewann den ersten Platz, während der US-Multi Abbott das eindeutige Schlusslicht bildete.

ATAC Report Card (c) ATAC
ATAC Report Card (c) ATAC

Das ernüchternde Resüme von ATAC:

„the majority of pharmaceutical companies are not developing innovative, new long-term treatment options that offer improved efficacy, safety and tolerability when taken for decades“

Bob Huff, einer der Leiter von ATAC, wies darauf hin, dass selbst die besten der derzeit verfügbaren Aids-Medikamente nicht dafür entwickelt wurden, auf sichere Weise für einen derart langen Zeitraum eingenommen zu werden, wie Menschen mit HIV sie voraussichtlich benötigen werden.

Der Report zeige, so ATAC, dass einige Pharmakonzerne einen eindeutig besseren Job verrichten würden als andere Unternehmen. Ein Kriterium, das den erfolgreicheren Unternehmen gemeinsam sei, sei ein frühzeitiges Einbinden von Communities schon während früher Phasen der Medikamenten-Entwicklung.

ATAC gibt in dem Report auch klare Empfehlungen an Pharma-Unternehmen, wie sie den Bedürfnissen der Patienten besser gerecht werden könnten. Dies betreffe insbesondere Sicherheit und Wirksamkeit neuer Substanzen.

weitere Informationen:
ATAC 10.09.2009: Most Pharmaceutical Companies Receive Poor Grades on HIV/AIDS Drug Development Innovation, According to AIDS Treatment Activist Coalition Report Card (pdf)
New York Times 10.09.2009: AIDS Activists Issue Grades to Drug Companies
POZ 10.09.2009: ATAC Releases Pharmaceutical Company HIV/AIDS Report Card
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And the Winner is…

Das nervt! All die Preisverleihungen im Fernsehen – kaum ein Sender kommt heute noch ohne aus. Wen interessiert das? Niemand weiß es so genau. Laufend werden neue Preise und Preiskategorien erfunden. Das Publikum ist gelangweilt und verlangt immer abenteuerlicheres von den Hofnarren, die es sich hält (oder halten sich die Narren das Publikum?). Deshalb durften oder mussten wir in dieser Preisverleihungssaison ertragen, dass Preisträger ihren Preis nicht tragen wollten („ich nehme den Prrrrrrreisssss nicht an“) und ein B-Promi einem anderen B-Promi kamerawirksam seinen fast nackten Hintern ins Gesicht reckte. Das nervt!

Es gibt aber auch andere Auszeichnungen; fernab des medialen Almabtriebs. Preise und Preisverleihungen, die einen ganz anderen ‚Wert‘, eine ganz andere Bedeutung haben. Preise, mit denen Menschen und ihre nicht austauschbaren persönlichen Leistungen gewürdigt werden sollen. Der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung ist ein solcher Preis, mit dem abseits des Mainstreams der Massenmedien Menschen und ihr, ich glaube es so schreiben zu dürfen, Wirken in einer medialen Nische gewürdigt werden sollen. HIV und AIDS sind eine solche mediale Nische. Jedenfalls soweit es um objektive und lebensnahe Berichterstattungen geht (das eine schließt das andere nicht aus, ganz im Gegenteil!), soweit es um sorgfältige und nicht tendenziöse Informationsvermittlung geht. Schlagzeilenträchtig und titelseitenfüllend ist HIV/AIDS fast immer nur, wenn es in einen negativen und dramatischen Kontext gestellt werden kann.

Seit mehr als zwanzig Jahren verleiht die Deutschen AIDS-Stiftung ihren Medienpreis. Die Liste der bisherigen Preisträger ist ein Verzeichnis mir unbekannter Menschen. Und doch sind sie mir vertrauter als die auswechselbaren Allerweltspreisträger, die alle paar Wochen über die Bildschirme flimmern.

In diesem Jahr gehört Ulrich Würdemann zu den Preisträgern. Ulli Würdemann ist ondamaris.

Geht man der Frage nach, warum der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung so unbekannt ist, dann liefert die AIDS-Stiftung selbst die traurige Antwort. Gerne hätte ich an dieser Stelle ein wenig mehr über den Preis und die Beweggründe der Stiftung, Ulli Würdemann mit diesem Preis auszuzeichnen, geschrieben. Doch die AIDS-Stiftung schweigt. Google liefert in diesen Minuten Informationen über alle möglichen viert- und fünftrangigen Preisverleihungen, aber so gut wie nichts über den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Auf der Homepage der Stiftung ist nur eine falsche Terminangabe zur Preisverleihung zu finden. Allein in einer Pressemitteilung heißt es lapidar: „Als Initiator und Redakteur des Internetauftrittes „Positiv schwul – Ondamaris“ erhielt Ulrich Würdemann den Medienpreis.“

Soweit ich sehe, erhält zum ersten Mal ein Blogger den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Ein schöner Beleg dafür, dass auch ‚die Profis der AIDS-Arbeit‘ anerkennen, dass Informationsvermittlung und Meinungsbildung nicht nur über den Zeitungskiosk und die Mattscheibe funktionieren, sondern zu Beginn des 21. Jahrhunderts andere, möglicherweise sogar zielführendere Wege gehen müssen und gehen können.

Soll ich eine eigene Würdigung versuchen? Eine ins einzelne gehende Analyse des Blogs ondamaris könnte die Bezüge der Posts untereinander und die Abfolge bestimmter Entwicklungen, auch in der formalen Gestaltung, aufzeigen. Sie müsste auch die zahllosen geistvollen Bezüge zu anderen Blogs und sonstigen Fremdquellen aufzeigen, würde allerdings an ondamaris‘ Ungebundenheit scheitern. Das Wesentliche bliebe in einer solchen Analyse eher verdunkelt: Die ungeheure Freiheit, mit der der Blogger, über ein gewaltiges Repertoire an Quellen und Informationen verfügend, Post für Post seinen eigenen Weg geht und immer wieder erstaunliches und doch unmittelbar überzeugendes bringt. Ein Blog lebt, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht von einer Handvoll triumphaler Posts, sondern vielmehr von dem Blogger, der dahinter steht. Eines ist nicht zu übersehen: Ondamaris lebt vom Fühlen und Denken des Ulrich Würdemann und seiner Sicht der Welt, seiner weiten Sicht der Welt.

Ich gratuliere herzlich zu diesem Preis! Und ein kleines Geschenk habe ich auch: ein ‚u‘. Lieber Ulli, Du weißt, wozu es gut ist! 😉

Die Preisverleihung fand in St. Gallen statt – im Rahmen des Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen AIDS-Kongresses 2009 (SÖDAK 2009). Stöbert man ein wenig in ondamaris, sind ein paar kritische Beiträge zum SÖDAK 2009 zu finden. Wie verträgt sich die generelle Kritik an der Rezeption des diesjährigen AIDS-Kongresses mit der Entgegennahme einer Auszeichnung am Schauplatz der SÖDAK 2009? Ich mag über die Beweggründe nicht spekulieren; vielmehr werde ich Ulli danach fragen. Dazu später mehr bei mir zu Hause.

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siehe auch: Steven Milverton 25.06.2009: Medienpreis 2007/2008 der Deutschen AIDS-Stiftung – Ein Gespräch mit ondamaris
DAH-Blog 26.06.2009: Wir gratulieren: DAS-Medienpreis für Ondamaris
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