Wie soll die Berliner Aids-Politik zukünftig aussehen? Und welche Rolle haben Menschen mit HIV und Aids in diesem Prozeß? Der Aids-Aktionsplan Berlin und die zukünftige Finanzierung der Berliner Aids-Projekte standen am 9.6. bei einer Veranstaltung im Abgeordnetenhaus Berlin zur Diskussion.
„149 Abgeordnete – 5 Parteien – 1 Virus“, unter diesem Titel hatten die Positivensprecher der Berliner Aids-Hilfe am 9. Juni 2009 zum Positivenplenum geladen.
Auf dem Einladungs-Plakat hatten die Positivensprecher konstatiert:
„AIDS-Aktionsplan für Berlin!
Menschen mit HIV und Aids fordern von der Landespolitik:
1. Mehr öffentliche Mittel zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit und mehr Integrationsangebote bei Beschäftigung und Wohnen!
2. Ausbau und Weiterentwicklung von Gesundheitsförderung, Integration in den 1. Arbeitsmarkt, Antidiskriminierung und Selbsthilfeförderung!
3. Mehr Jugendprävention, Beschäftigungs-, Wohn-, Begegnungs- und Mehrbedarfsangebote durch vernetzte Aktivitäten auf Bezirksebene!
4. Pilotprojekt zur Ausgabe von Einwegspritzen in Haftanstalten!
5. Lösung der Probleme bei der medizinischen Versorgung von Menschen mit HIV und AIDS ohne Aufenthaltsgenehmigung!“
An der von Holger Wicht moderierten Diskussion nahmen teil Katrin Lompscher (Linke; Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz), Monika Thamm (CDU; MdA), Petra Merkel (SPD, MdB), Thomas Birk (Grüne; MdA) und Kai Gersch (FDP; MdA).
Hintergrund der Diskussionsveranstaltung war insbesondere die anstehende Neu-Verhandlung über den IGV Integrierten Gesundheitsvertrag, sowie aktuell ein Brief des LABAS (Landesverband der Berliner Aids-Selbsthilfe-Einrichtungen), in dem dieser einen Mindest-Mehrbedarf von jährlich 350.000€ (zusätzlich 10 Personalstellen) für die Gewährleistung einer angemessenen Versorgung fordert.
Über den Aids-Aktionsplan Berlin sowie die anstehende Verlängerung des Integrierten Gesundheits-Vertrags per 1.1.2011 war bereits auf einer Veranstaltung während ‚HIV im Dialog 2009‘ im September 2008 diskutiert worden. Bereits damals hatte Senatorin Lompscher betont, der Integrierte Gesundheitsvertrag habe sich als Modell bewährt und solle prinzipiell beibehalten werden. Allerdings müsse man sich veränderten Rahmenbedingungen anpassen, zumal angesichts der angespannten Haushaltssituation.
Auch bei dieser Veranstaltung betonte Senatorin Lompscher eingangs, es sei ihrer Ansicht nach schon ein Erfolg, wenn die derzeitige finanzielle Situation im neuen Vertrag ab 2011 erhalten werden könne. Es sei wichtig, neue Erkenntnisse auf den Gebieten HIV wie auch sexuell übertragbare Erkrankungen und deren Auswirkungen auf das Versorgungssystem zu prüfen; dies müsse aber nicht zwingend auch zu mehr Geldern führen.
Moderator Holger Wicht wies darauf hin, in Berlin lebten zunehmend mehr Menschen mit HIV, die Zahl der HIV-Neudiagnosen steige, und die Zahl der Syphilis-Diagnosen ebenfalls. Doch auch dies, so Lompscher, ändere nichts daran, dass zunächst das bestehende Angebot analysiert und verbessert werden müsse.
Thomas Birk hingegen forderte, auch den Gesamtkomplex „sexuelle Gesundheit“ zu betrachten. Hier sei der Bedarf gestiegen, die vorhandenen Mittel reichten nicht aus. Der vom LABAS angemeldete Mehrbedarf sei schon sehr bescheiden, eigentlich seien eine Million Euro mehr jährlich erforderlich.
So sei es schon jetzt angesichts fehlender Ressourcen kaum möglich, die verfügbaren Materialen der bundesweiten Kampagne „ich weiss, was ich tu!“ in Berlin so einzusetzen, wie es wünschenswert sei. Eine Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin, so ergänzte Holger Wicht, habe gezeigt, dass das für vor-Ort-Arbeit zuständige Berliner Projekt ManCheck im Vergleich deutscher Großstädte hinsichtlich seiner Ausstattung nicht gut dastehe.
Kai Gersch betonte zur Frage verfügbarer Mittel, auch ihm sei eine Evaluation der bestehenden Projekte wichtig, wobei es gelte etwaige heute nicht mehr erforderliche oder nicht mehr zeitgerechte Maßnahmen auch zu streichen und diese Mittel bedarfsgerecht neu zur Verfügung zu stellen.
Monika Thamm wies darauf hin, dass der Hauptausschuß „klare Ansagen“ benötige. Schon für die Beibehaltung der derzeitigen Mittelausstattung seinen gute Argumente nötig, umso mehr für etwaige zusätzliche Gelder.
Petra Merkel wies auf die Frage nach etwaigen Bundesmitteln darauf hin, dass dann z.B., die Deutsche Aids-Hilfe mit einbezogen werden sollte; selbst dann sehe sie keinen hohen Chancen.
In der ganzen Debatte fehle bisher eine Erhebung zur Lebenssituation von Menschen mit HIV und Aids in Berlin, wird aus dem Publikum hingewiesen, ebenso eine Analyse, was bisher schief gelaufen sei, wenn die Neudiagnose-Zahlen anstiegen. Zudem vermisse er auch selbstkritische interne Debatten im LABAS, z.B. nach etwaigen vorhandenen Doppel-Strukturen.
Vertreter verschieneder Berliner Aids-Projekte im Publikum machten in ihren Statements deutlich, dass die vorhandene finanzielle Situation und Personal-Ausstattung nach Jahren der Kürzungen an der Grenze der Belastbarkeit sei. Es mangele nicht an innovativen Ideen, auch zu schwierigeren Fragen wie der Prävention bei schwer erreichbarer Gruppen, es mangele schlicht an Mitteln, an Mitarbeitern. „So wie wir aufgestellt sind, sind wir auf verlorenem Posten“, brachte ein Projekt-Vertreter seine Wahrnehmung der Situation auf den Punkt.
Teilnehmer merkten auch an, für ein Positiven-Plenum gehe es bei der Veranstaltung sehr viel um Primär-Prävention. Hätten Positive keine anderen Themen, die sie mit der Politik diskutieren sollten? Verwiesen wurde auf das Prinzip GIPA (Greater Involvement of People with HIV and AIDS) – wo wurden HIV-Positive bisher an diesen politischen Schwerpunktsetzungen beteiligt? Wie solle dies zukünftig geschehen?
Daraus resultiere auch ein Schwachpunkt der bisherigen Debatte, so ein Teilnehmer, der nach der Formulierung des Bedarfs fragte. Wenn der Bedarf in der politischen Diskussion von den Leistungserbringern formuliert werde, stimme dies skeptisch. Auch die Frage der Bedarfs-Ermittlung müsse unter Einbeziehung von Menschen mit HIV geschehen – und diesen Prozeß zu koordinieren sei originäre Aufgabe der Senatsverwaltung.
Im Laufe der Veranstaltung wurde auch Kritik an den auf der Einladung gestellten, aber in der Veranstaltung kaum diskutierten Forderungen laut. Zur Frage der Spritzen-Versorgung in Haftanstalten z.B. habe es bereits Pilotprojekte gegeben, die Versorgung scheitere derzeit in vielen Fällen eher an den Personalvertretungen als an Politik oder Justizverwaltung. Auch eine Intensivierung von Jugendprävention wurde nicht von allen Teilnehmern dieses ‚Positivenplenums‘ als eine ihnen primär wichtige Forderung betrachtet.
In der Abschlussrunde griff Senatorin Lompscher den Vorschlag „GIPA“, die Einbeziehung von Positiven in politische Entscheidungsprozesse, auf und forderte zu Stellungnahmen auf – Positive sollten ihre eigenen Ansprüche und Anforderungen an das Rahmenkonzept formulieren.
Alle Teilnehmer auf dem Podium zeigten sich erfreut über eine offene, ehrliche und konstruktive Diskussion. „Es gibt wenig Parteipolitik bei dem Thema – das ist ein Glücksfall“, resümierte Kai Gersch.
Ein Positiven-Plenum zu Forderungen HIV-Positiver an die Landespolitik, das sich fast ausschließlich mit Fragen der Primär-Prävention beschäftigt – ein bemerkenswerter Akzent, der überrascht.
Kritik wurde im Verlauf der Veranstaltung geübt am Zustandekommen der Forderungen. Es habe kein Plenum gegeben, das diesen Forderungskatalog so vorher diskutiert und beschlossen habe. Zudem stelle sich generell die Frage, ob das Berliner Positiven-Plenum (eine Einrichtung der Berliner Aids-Hilfe, die ja nur ein Träger unter mehreren Organisationen der Aids-Arbeit in Berlin ist) überhaupt für „die Berliner Menschen mit HIV und Aids“ sprechen könne?
Eine Frage, der Bedeutung zukommt, gerade wenn andererseits die Politik eine direkte Einbeziehung von Menschen mit HIV ermöglichen will, ja geradezu vorschlägt.
Eine Realisierung des GIPA-Prinzips, der direkten Einbindung von Menschen mit HIV und Aids in sie betreffende Entscheidungsprozesse, setzt auch voraus, dass Menschen mit HIV und Aids sich für ihre Belange interessieren und einsetzen. Eine von gerade einmal 30 Teilnehmern (viele davon zudem ‚Funktionäre‘ der beteiligten Projekte) besuchte Veranstaltung mag da ein Auftakt sein, mehr aber noch nicht.
Wenn Menschen mit HIV eine Beteiligung an politischen Entscheidungen wollen – jetzt, gerade auch nach der Aufforderung von Senatorin Lompscher, sie bitte um größere Beteiligung, ist der richtige Zeitpunkt!
Eine Notiz am Rande: bestürzend ist es, immer wieder Versuche der Ent-Solidarisierung, des kleinen Vorteils zu Lasten anderer, schwächerer Gruppen zu erleben. Dass gerade ein Vertreter der Grünen immer wieder den Gedanken einbringt, doch eventuell bei Drogenprojekten zu kürzen, das Geld könnten doch auch schwule Projekte brauchen, empfinden zahlreiche Teilnehmer als beschämend und zudem nicht zielführend.
weitere Informationen:
DAH-Blog 10.06.2009: Berlin: HIV-Projekte fordern mehr Geld
Top-TV im OKB: Gesundheitssenatorin Lompscher auf dem Positivenplenum in Berlin
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