Der Ruf nach mehr Geld – und die Frage der Argumente

350.000 € zusätzlich pro Jahr, so viel fordern die Berliner Aids-Projekte in einem Schreiben vom Land Berlin. Das sei noch bescheiden, hieß es auf einer Diskussionsveranstaltung über die Berliner Aids-Politik am 9. Juni 2009, denn eigentlich seien eine Million Euro mehr jährlich erforderlich.

Eine Forderung, die zunächst verständlich scheint. Seit Jahren müssen Berliner Aids-Projekte mit gleichen oder gar schrumpfenden Budgets zurecht kommen. Und dies in Zeiten, in denen eine zunehmend große Zahl von Menschen mit HIV in Berlin lebt. Zeiten in denen die Zahl der HIV-Neudiagnosen steigt, in der sich mehr Menschen mit Hepatitis C oder Syphilis infizieren.

Andererseits, diese Zeiten sind auch gekennzeichnet von einem Bundesland Berlin in einer immer noch sehr prekären Finanzverfassung. Wo jede neue Verschuldung (nicht unberechtigt) kritisch hinterfragt, oftmals angeprangert wird, muss jede zusätzliche Bereitstellung von Mitteln gründlich geprüft, gut begründet werden.
Nahezu unrealisierbar scheinen Forderungen nach mehr Geld zudem, wenn sich Politiker durchsetzen, die eine „Schuldenbremse“, ein Verbot weiterer Neuverschuldung fordern.

Ein viel wichtigerer Grund des Nachdenkens aber: auch Aids-Projekte, auch HIV-Positive müssen sich der Frage stellen, warum für HIV und Aids im Vergleich zu Rheumatikern, Hepatitis-Infizierten oder anderen Krankheiten auch heute noch verhältnismäßig hohe Beträge aus öffentlichen Geldern bereitgestellt werden.
Warum wird für Aids viel Geld ausgegeben, wenn andererseits für viele andere, auch chronische Erkrankungen kaum Mittel bereit gestellt werden? Eine Frage, bei der wir in der Lage sein sollten, hier mit guten, starken Argumenten zu diskutieren – gerade auch angesichts zukünftiger Debatten.

Vor allem: eine Frage, bei der wir nicht mehr mit Angst, mit Tod, mit dem ‚alten Aids‘ argumentieren sollten. So sehr manche Politiker (und auch manche Aids-Funktionäre, Schwule, etc.) immer noch gerne mit ‚altem Aids‘ argumentieren – die Zeiten, in denen Aids z.B. einem (kurzfristig sich realisierenden) Todesurteil gleicht, sind (zumindest in den Industriestaaten) vorbei. Wer heute noch so argumentiert, wird in eine Sackgasse laufen.

Wenn wir eine Beibehaltung der heutigen Mittelausstattung, gar eine Erhöhung glaubwürdig begründen wollen, sie politisch mehrheitsfähig machen und letztlich durchsetzen wollen, dann sollten wir realistisch argumentieren, auf der Basis des heutigen Aids.

Auf der Basis des heutigen Aids – denn alle Bilder vom ‚alten Aids‘ führen nicht nur in fehlerhafte, widerlegbare, letztlich nicht erfolgreiche Argumentationen. Sondern sie zementieren auch alte, längst überholte Bilder – und begünstigen so die Stigmatisierung von Positiven, der wir eigentlich entgegen wirken sollten.

So sehr manche immer noch den Bildern von Tod und Siechtum, von großer Gesundheits-Katastrophe hinterherlaufen – die heutigen Realitäten sehen anders aus. Sie zu ignorieren, nur der gefälligeren, leichteren, gewohnteren Begründung zuliebe, wäre sträflich. Gute, den Realitäten des heutigen Lebens mit HIV entsprechende Argumente wären stärker. Und nur sie werden auf dauer eine Chance auf Durchsetzbatkeit haben.

6 Gedanken zu „Der Ruf nach mehr Geld – und die Frage der Argumente“

  1. Wobei man wissen muß das die Kürzungen der letzten 10 Jahre bei Weitem den geforderten Betrag überstiegen haben. Arbeitszeitverkürzungen, Lohnverzicht bei gleichem Arbeitsaufwand und das „runterfahren“ einiger Angebote waren die Folgen. In einem gebe ich Dir recht, das alte Bild von HIV und AIds von „Tod und Siechtum“ existiert heute nicht mehr, die heutigen Realitäten sehen anders aus. Betreuung von alt gewordenen Menschen mit HIV die auf grund ihres Alters gesundheitlich nicht mehr in der Lage sind sich selbst zu versorgen, u.v.m.

  2. @ M.:
    danke 🙂

    @ alivenkickin:
    zustimmung, die kosten sind in den letzten zehn jahren gestiegen.
    ist aber letztlich kein argument.

    worum es mir, um deutlicher zu werden, geht:
    es reicht nicht zu sagen „wir schaffen das mit dem vorhandenen geld nicht mehr.“ das ist letztlich kein valides argument!
    es gibt in dieser stadt berlin sicherlich hunderte projekte, vereine, initiativen, die mit dem wenigen geld, das sie eventuell vom senat bekommen, nicht mehr all die dinge schaffen, die sie (hoffentlich) für sinnvoll halten. da sind wir nicht allein in dieser situation!
    so sehr ich dieses „unser geld reicht nicht mehr“ verstehen kann … es reicht nicht, wird spätestens mittelfristig im meer des lamentierens untergehen.
    eine debatte „wir bekommen nicht genug“ reicht nicht als begründung! erst recht nicht für eine begündung für „mehr geld als bisher“
    wir brauchen argumentationen, argumente, gute gründe, warum diese und jene aids-arbeit (konkret) auch heute noch oder gerade jetzt angesichts veränderter situationen wichtig und im sinne der öffentlichkeit ist. starke argumente, die begründbar sind. die auch infragestellen, hinterleuchten, politische debatten aushalten, überstehen können.
    und daran mangelte es mir (nicht nur) in der veranstaltung von vorgestern …

  3. @ ondamaris

    Nein NICHT die Kosten sind gestiegen sondern die Anforderungen – der Bedarf ist teilweise gestiegen und soll mit weniger Geld und Manpower auf Grund der Kürzungen der vergangenen Jahre dennoch bewältigt werden. In Frankfurt wurde z.b. nicht lamentiert sondern schlicht und einfach eine Istanalyse vorgenommen. Kann der Bedarf mit dem vorhanden Geld gedeckt werden? Die Antwort ist schlicht und einfach NEIN.

    http://alivenkickn.wordpress.com/2008/08/13/freiwilliger-zwangsurlaub/

    Konkrete Gründe? Nun die Betreuung vorhandener älterer Schwuler und HIV Positiver ist mit dem vorhandenen Personal und Ehrenamtlichen nicht zu leisten. Ergo es bleiben Menschen auf der Strecke die betreut – versorgt werden könnten wenn es z.b. keine Kürzungen über die Jahre gegeben hätte. Insofern ist es keine Forderung nach „Mehr Geld“ sondern eine Feststellung – Denkanstoß das man den alten Status Quo wiederherstellen sollte. Nur – diese Logik wird sich den Politikern natürlich nicht erschließen.

  4. @ alivenkickin:
    nun – du wirst vermuten, dass ich dir da nicht groß widersprechen mag.
    aber: warum sind diese aufgaben – auch zukünftig- vom staat zu bezahlen, warum staatliche zuschüsse, warum wenn andere diese nicht beklommen? auf diese fragen brauchen wir gute antworten. darum geht es mir …
    ein „das war bisher auch so“, wie ich es hier gelegentlich höre, reicht da nicht – und ist kein argument …

  5. Nun dann sollte der Staat = Politiker soviel gluteus Maximus in der Hose haben und klar und unmißverständlich zum Ausdruck bringen – wie es z.b unter M.Thatcher geschah. Statt dessen wird viel versprochen und rumgedruckst. Was heute passiert – das der Staat einerseits Gelder zur Rettung maroder Firmen verpulvert und Kranke Menschen sehen müssen wo sie bleiben – sind solche Forderungen durchaus berechtigt.

    „Ein viel wichtigerer Grund des Nachdenkens aber: auch Aids-Projekte, auch HIV-Positive müssen sich der Frage stellen, warum für HIV und Aids im Vergleich zu Rheumatikern, Hepatitis-Infizierten oder anderen Krankheiten auch heute noch verhältnismäßig hohe Beträge aus öffentlichen Geldern bereitgestellt werden.“

    Bei all der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV, Schwulen, Lesben etc – möglicherweise spielt ein unbewußtes kollektives Schuldgefühl eine nicht unerhebliche Rolle.

    „Warum wird für Aids viel Geld ausgegeben, wenn andererseits für viele andere, auch chronische Erkrankungen kaum Mittel bereit gestellt werden?“

    Das ist natürlich eine gute Frage. Vielleicht liegt es daran das Jeder – „Jede Gruppe“ Einzelkämpfer ist. Als Einzelkämpfer hat man einfach keine Chance – das sollte eigentlich klar sein. In dem Moment wo sich alle chronisch Kranken zusammenschließen und Ihre Forderungen – Bedürfnisse als Notwendigkeit mit einer Stimme in einer konzertierten Aktion zum Ausdruck bringen und sich Gehör verschaffen . . . dabei darf man schon mal zu den gleichen Mitteln greifen und zart die nächsten Wahlen andeuten . . . . das würde bestimmt wahrgenommen werden.

    Was bleibt ist unter dem Strich – das es abzusehen ist das es „schlechter“ statt „besser“ wird. Insofern bleibt Eigeninitiative und ein Zusammenrücken – aufeinander zu gehen der einzigste Weg – die einzigste Lösung.

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