sexuelle Gesundheit Berlin 2 – HIV-Neuinfektionen in Berlin

In Berlin fanden im Jahr 2007 ca. 460 HIV-Neuinfektionen statt (ca. 400 bei Männern, ca. 60 bei Frauen). Zu 88% fanden die HIV-Neuinfektionen bei Männern statt, die Sex mit Männern haben, zu 11% durch heterosexuelle Kontakte und zu 1% durch iv-Drogengebrauch. ((Quelle: „HIV/AIDS in Berlin – Eckdaten“, Epidemiologische Kurzinformation des Robert-Koch-Instituts, Stand Ende 2007, als pdf online hier))

Was führt zu dieser Zahl an Neu-Infektionen, besonders in der Gruppe der Männer die Sex mit Männern haben?

„Der Hauptgrund für steigende Infektionszahlen bei Schwulen liegt nach Einschät­zung Michael Bochows … darin, dass ein Zehntel der Schwulen häufig Risiken eingeht und zu­gleich immer mehr Schwule mit HIV leben.“ ((„Die neue Bochow-Studie: safer Sex besser als gedacht“ in: Siegessäule extra Welt-Aids-Tag 2007, S.5))

Wie groß ist diese Gruppe, die ‚häufig Risiken eingeht‘?
„Insbesondere der Anteil der für die Dynamik von sexuell übertragenen Infek­tionen beson­ders relevanten Teilnehmer mit sehr hohen Partnerzahlen ist in den letzten 9 Jahren rückläufig und lag zuletzt bei 7% (bezogen auf MSM ab 25 Jahren in Großstädten; bei Jüngeren … ist dieser Anteil noch deutlich niedri­ger“. ((Bochow et al.: Wie leben schwule Männer heute (2007), S.10))
Dies gilt scheinbar auch für Berlin: „7% der Befragten aus Berlin … geben an, im Jahr vor der Befragung mit mehr als 50 un­terschiedlichen Partnern Sex gehabt zu haben. Die durchschnittlich höchsten Partnerzahlen haben MSM zwischen 30 und 44 Jahren“. ((Bochow et al.: Wie leben schwule Männer heute (2007), S.5))

Neben dem Merkmal ‚hohe Partnerzahl‘ bemerkt Bochow noch ein weiteres:
„Ungeschützter Analverkehr ist – insbesondere bei HIV-positiven MSM – in ho­hem Maße mit diesem Konsummuster [häufiger oder regelmäßiger Konsum von Party­drogen] verbun­den.“ ((Bochow et al.: Wie leben schwule Männer heute (2007), S.10)) Diesen hohen Anteil kann eine RKI-Studie (s.u.) allerdings nicht bestätigen.

Doch es scheint auch Informations-Defizite zu geben: Die Chancen z.B., die eine erfolgreiche Therapie auch zur Reduzierung des Infekti­onsrisikos bietet, sind bisher nur wenig bekannt: „95% aller Befragten – und auch 95% aller HIV-positiven Teilnehmer – [geben an, der Aus­sage; d.Verf.] … dass das Virus unter antiretroviraler Therapie nicht mehr übertragen wer­den kann, nicht zuzustim­men.“ ((Bochow et al.: Wie leben schwule Männer heute (2007), S.7))

Interessante Ergebnisse, wie und warum sich Menschen in Berlin heute mit HIV infizieren, hat eine Pilotstudie des Robert-Koch-Instituts (RKI) geliefert.
Im Rahmen einer vom Bundesgesundheitsministerium finanzierten Pilotstudie hat das RKI Daten zu Wissen, Einstellungen und Verhalten von Menschen untersucht, bei denen eine frische HIV-Infektion festgestellt wurde. Die Pilotstudie wurde in Berlin durchgeführt (und wird aufgrund der Ergebnisse der Pilotstudie jetzt als reguläre Studie über drei Jahre (ab November 2007) bundesweit fortgesetzt).

Untersucht werden konnten 123 Personen und ihre Daten (= 26% der HIV-Neu-Diagnosen im Untersuchungszeitraum in Berlin). 90% von ihnen waren Männer die Sex mit Männern haben (MSM). 67% der MSM in der Studie gehörten zur Gruppe der 21- bis 29Jährigen. Über 50% hatten sich vor dem jetzigen positiven Testergebnis bereits früher auf HIV testen lassen.
Das Wissen zum aktuellen Stand der HIV-Epidemie sowie zu HAART (hochwirksame antiretrovirale Therapie) war bei den in der Studie untersuchten MSM gut.

Als vermutetes Infektionsereignis wurde von den MSM in der Studie zu 46% anonyme sexuelle Kontakte angegeben, 17% sexueller Kontakt mit dem festen Partner oder Bekannten (15%) sowie 7% bei einer neuen Beziehung.

Über 90% der teilnehmenden MSM gaben an, in den letzten 9 Monaten vor dem Test ungeschützten Sex gehabt zu haben (80% oral, 60% anal). 19% gaben dabei an, ungeschützten Sex mit einem Partner gehabt zu haben, von dem sie wussten, dass er HIV-positiv ist.

Der häufigste Grund, im konkreten Fall kein Kondom zu verwenden (von dem 90% angaben, es immer dabei zu haben), lag in der subjektiven Risiko-Einschätzung. Die am häufigsten genannten Gründe dabei: „ich glaubte, dass für mich kein Ansteckungsrisiko bestand“, „ich hoffte, es würde schon nichts passieren“, „ich ging davon aus, dass mein Partner nicht HIV-infiziert sein kann“ sowie „ich dachte nicht, dass bei dem, was wir machten, ein Übertragungsrisiko bestand“. Hingegen gaben nur 6% Alkohol und/oder Drogen als beteiligt an, 17% Probleme bei der Kondombenutzung (Erektionsprobleme) sowie ebenfalls 17%, die Entscheidung ob ein Kondom verwendet wird an den Partner delegiert zu haben.

Die untersuchten MSM hatten ein recht gutes Wissen über mögliche Infektionsrisiken. Allerdings wurden auch einige Fehl-Wahrnehmungen von Risiken deutlich: lediglich 60% meinten z.B. , eindringender Analverkehr (‚aktive‘ Rolle) ohne Kondom sei ein Risiko, und nur 55% meinten dies bei aufnehmendem Analverkehr (‚passive‘ Rolle) ohne Ejakulation.

Ein zusammenfassender Bericht über die Ergebnisse der Pilotstudie findet sich im Epidemiologischen Bulletin des RKI (Ausgabe 01/2008).

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In der RKI-Studie waren zu einem besonders hohen Anteil junge MSM der Altersgruppe von 21 bis 29 Jahren betroffen (wesentlich höher als in den gesamten Falldaten, siehe HIV/Aids in Berlin).
Zur Frage, ob Drogenkonsum bei ungeschütztem Analverkehr eine wesentliche Rolle spielt, liegen scheinbar widersprüchliche Einschätzungen vor.
Offensichtlich scheint allerdings zu sein, dass Informations-Defizite vorliegen und subjektive Risiko-Einschätzungen z.T. unzutreffend getroffen werden. Selbst bei allgemein gut informierten MSM gibt es Fehl-Einschätzungen von Risiken in konkreten Situationen (Analverkehr aufnehmend / eindringend). Zudem ist die Bedeutung einer wirksamen Therapie für die Infektiosität scheinbar nur unzureichend bekannt.
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Dieser Artikel ist Teil der Serie „Sexuelle Gesundheit in Berlin“:
Intro
Teil 1: HIV / Aids in Berlin
Teil 2: HIV-Neuinfektionen in Berlin
Teil 3: Syphilis in Berlin
Teil 4: Hepatitis C in Berlin
Teil 5: Berlin im Vergleich mit Hamburg und Köln
Teil 6: Ausblick und mögliche Konsequenzen