Die ‚Totenbank‘

Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.

Heute: Nikolaus Michael (Teil 1): Die ‚Totenbank‘

Diese Zeilen schrieb ich auf, weil ich befürchte, sonst zu vergessen – für meine Geschwister, für meine Freunde und ebenfalls für alle weiteren ungenannten, die in den letzten Jahren uneingeschränkt zu mir standen und zu mir hielten – denen ich allen danken möchte für Ihre Freundschaft und Solidarität

Jürgen wohnte in Schöneberg in der Feurigstrasse in einem dunklen Hinterhaus. Das Treppenhaus war so niedrig, dass ich nur mit eingezogenem Kopf die Treppen hinaufgehen konnte. Nach meinem Klingeln öffnete Jürgen, ein schlaksiger junger Mann. Ich hatte von der Deutschen Aidshilfe, bei der ich mich im September 1986 informiert hatte, die Telefonnummer von ihm erhalten. Er führte mich durch einen langen Korridor ins Wohnzimmer, wo sich an der hinteren Stirnseite eine mit schwarzem Leder bezogene Holzbank befand, auf der bereits 3 Männer Platz genommen hatten. Noch vor der eigentlichen Begrüßung rief einer der Männer, der letztendlich nur aus Haut und Knochen bestand: „Setz Dich man zu uns hier auf die Totenbank“. Sein Gesichtsausdruck war gutmütig – freundlich und ich spürte sofort Sympathie und Entsetzen gleichermaßen, denn zwei der beiden Männer bestanden nur noch aus Haut und Knochen, wobei sie lebhafte Augen hatten und im Laufe des Abends konnte ich feststellen, dass sie sich auch eifrig am Gespräch beteiligten.

Der dritte, ein gut aussehender Mann um die 30, mit schwarz gewellten Haaren, zog mich neben sich und murmelte so etwas wie: „musst Du nicht so ernst nehmen“. Ich war erleichtert und gerührt, ob der freundlichen Aufnahme und hörte erst mal den Gesprächen der anderen zu, die sich nun wieder ihrem vorherigen Thema zuwandten. Es waren ungefähr 15 Männer im Raum – einer dünner als der andere – alle so im Alter zwischen Anfang 20 und Ende 40.

Ich erfuhr, dass sie sich ein bis zweimal die Woche in wechselnden Privatwohnungen trafen und das alles beherrschende Thema war eigentlich „die Angst vor Tod und Sterben“ und die allgegenwärtige Hilflosigkeit. Mir wurde schlagartig klar, dass ich von nun an Mitverantwortung trug – und mich nicht mehr einfach so davon stehlen konnte und diese Männer allein ihrem Schicksal überlassen. In diesem Moment wurde ich zum Freund dieser Jungs und mir war bewusst, dass ich weiter an ihrer Seite bleiben würde. Was ich an diesem Abend noch nicht wusste, war, dass das zehn Jahre dauern würde, so lange, wie es dauerte, bis halbwegs zum Weiterleben helfende Medikamente gefunden waren – aber es waren noch lange nicht die Medikamente, die das HIV-Virus total abtöten konnten. Die gibt es leider bis zum heutigen Tage nicht. Noch nicht. Zehn Jahre später beendete ich meine selbst gewählte Aufgabe als Begleiter von Freunden beim Sterben, da ich 1996 nach Spanien zog.

Im Laufe der nächsten Stunden lernte ich in einem Chrashkurs die Grundbegriffe der opportunistischen Infektionen, d.h. komplementäre Krankheiten zu HIV/AIDS wie beispielsweise „Toxoplasmose“, “Pneumocystis carinii Pneumonie“(PCP) – eine HIV-typische Form der Lungenentzündung, „Cytomegalievirus“, „Kaposi Sarkom“ – eine speziell bei AIDS-Kranken vorkommende Hautkrebsart, aber auch anrührende Gespräche mit Menschen, die sich gerade mit Krankenkassen, Rentenanstalten und Versorgungsämtern herumschlagen mussten. Fast alle waren offensichtlich völlig allein gelassen von ebenfalls hilflosen Freunden und Verwandten, die anscheinend nach Bekanntwerden der HIV-Infektion – bzw. Ausbruch von AIDS den Kontakt zu ihren Leuten abgebrochen hatten.

An diesem Abend lernte ich auch den bereits erwähnten schwarzhaarigen Mann mit den gewellten Haaren etwas näher kennen – Johannes war sein Name – und wir verabredeten uns für den nächsten Tag, denn es schien, dass auch Johannes, obwohl optisch gesund aussehend, große gesundheitliche und seelische Probleme hatte und anscheinend froh war, mit jemandem reden zu können.. Er wirkte depressiv und traurig – hatte selbst bereits einige opportunistische Infektionen durchgemacht und litt derzeit akut an Pilzen in Rachen, Speiseröhre und Darm.

Seine Situation war die, dass sein Freund Klaus gerade schwerst an AIDS erkrankt im Klinikum lag – todgeweiht und er mit seinen eigenen Ängsten alleine war. Er besuchte Klaus täglich im Krankenhaus, wohin er mich mitnahm und ich dort einen sehr liebenswerten Menschen kennenlernen durfte, zu dem ich mich auch sofort hingezogen fühlte. Im Laufe der nächsten Wochen begleitete ich Johannes fast täglich zum Klinikum Westend – zwischendurch auch zur Wohnung von Klaus in Spandau – dann in die Malplaquetstrasse im Wedding, wohin Klaus noch kurz vor seinem Tode hingezogen war. Klaus starb im Januar 1987 im Krankenhaus – Johannes lebte noch 2 Jahre und ich werde später noch mal von ihm berichten.

Zurück zur „Totenbank“ – auf der ich meine ersten positiven Freunde kennenlernen durfte – die tatsächlich alle innerhalb von wenigen Monaten ihr Leben durch Aids verlieren mussten. Günter, ein blonder großer Mann, der immer noch trotz Gewichtsverlust eine unglaublich lebensbejahende Ausstrahlung hatte, war mein erster neuer Freund, den ich beim Sterben bis zum letzten Augenblick begleiten durfte. Ich wähle hier bewusst den Freundesbegriff, obwohl ich die betroffenen Männer aus den Positivengruppen ja noch nicht allzu lange kannte.

Vielleicht kann ich es so erklären: durch die Nähe, die entstand, wenn man sich um Menschen kümmert, die ohne Hilfe nicht mehr klar kamen, fühlte ich auch schnell mehr als nur Bekanntschaft. Ansonsten bin ich mit dem inzwischen allgemein so inflationär verwendeten Begriff der „Freundschaft“ schon etwas zurückhaltender. Die meisten innerhalb unserer neuen Schicksalsgemeinschaft waren alleine – ohne Freunde und Familie, in diesen ersten Jahren der Aids-Epidemie. Günters Leiden verschlimmerte sich – kurz nach unserem Kennenlernen. Ich hatte mich mit ihm angefreundet und besuchte ihn täglich, da er zu schwach war, um zuhause alleine zurechtzukommen. Selbst einkaufen ging gar nicht mehr und ich organisierte über die Krankenkasse einen Rollstuhl, damit er so oft wie es nur ging, auch mal an die frische Luft kam. Damals arbeitete ich noch den ganzen Tag als Personalleiter am Theater und schaute so gut es ging vor und nach der Arbeit, sowie in der Mittagspause nach Günter, der in der Steinmetzstrasse in Schöneberg wohnte. Ein Pflegedienst übernahm das pflegerisch Notwendige – damals noch ein Novum für viele durch HIV-Betroffene. Die Situation war politisch aufgeheizt, da viele Menschen durch panikmachende Berichte im Spiegel und anderen Medien verunsichert waren. Es war die Zeit, in der Peter Gauweiler und Co sich in Bayern für die Einrichtung von Internierungslagern für HIV-Infizierte aussprachen und sich die mutige Rita Süssmuth als Gesundheitsministerin glücklicherweise dagegen durchsetzen konnte. Aber es soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch einige Fürsprecher für Gelassenheit im Umgang mit HIV-Infizierten wie Lea Rosh gab, die damals in der NDR-Talkshow öffentlich aus dem Wasserglas eines Infizierten trank und somit ein Beispiel für Unerschrockenheit und Zivilcourage gab. Eine Zeit, in der Georgette Dee, Inge Meysel und viele weitere Prominente für die hilflosen Aids-Kranken und Infizierten ihre Stimme erhoben und einen menschlichen, angstfreien Umgang für sie einforderten.

Nochmal zu Günter – eines Tages fand ich ihn in seiner Wohnung neben der Dusche liegend vor – völlig apathisch – Hände und Füsse zuckten unkoordiniert – er konnte sich nur noch schwer verständlich machen – der herbeigerufene Arzt ließ ihn sofort ins Auguste – Viktoria – Krankenhaus abtransportieren. Es stellte sich heraus, dass er an Toxoplasmose erkrankt war – einer Infektion, die auch völlig gesunde Menschen als Keim in sich tragen können, aber nicht zwingend daran erkranken, sofern ihr Immunsystem in Ordnung ist. Übertragbar beispielsweise durch Katzen und auch Blumenerde. Günters einzige Ansprache war seine geliebte Katze – sein Trost die Blumen in seiner Wohnung. Es folgte ein Kampf mit dem Pflegedienst und dem behandelnden Arzt, die ihm seine Lieblinge wegnehmen wollten – seinem Leben zuliebe. Ein Leben, das in der Realität kaum noch Leben zu nennen war – Günter war nach diesem letzten Krankenhausaufenthalt nur noch ein Schatten seiner selbst – ein Windhauch bereits konnte ihn umstoßen. Ich durfte mich nur noch kurze Zeit um ihn sorgen – dann schlief er mit seiner Hand in der meinen im AVK ein.

Damals lernte ich, dass anscheinend fast alle Sterbenden ausschließlich morgens zwischen 3 und 5 Uhr ihr physisches Dasein verlassen – und es dennoch nicht so einfach vorhersehbar war. Ich erfuhr, dass es oft noch Tage dauerte, auch wenn es oft abends den Anschein hatte, dass der letzte Lebenshauch gerade in dieser Nacht den Körper des Leidenden verlassen wollte. Und ich machte die Erfahrung, dass ich geradezu für den Sterbenden herbeiwünschte, es möge doch ein baldiges Ende haben – gerade wenn er sich besonders mit dem Atmen quälen musste. Es war ein Hin – und Hergerissensein zwischen dem selbstsüchtigen „Bleib noch etwas hier bitte“ – und dem „Ich kann Dich in Frieden gehen lassen“.

Von Dr. Elisabeth Kübler – Ross aus bzw. aus ihren Büchern habe ich sehr viel Rat und Hilfe erfahren, mich in solchen Augenblicken total zurückzunehmen – trotzdem absolut präsent zu sein. Ich habe gelernt, meine traurigen Gefühle über den kommenden Verlust des dahinscheidenden Menschen in ein Gefühl des „Freiseins“ und des „Loslassenkönnens“ umzuwandeln, so dass ich glaubte, nach dem letzten Atemzug des Freundes so etwas wie eine tiefe innere Zufriedenheit zu spüren, die mir mehr an Kraft zurückgab, als ich in den letzten Wochen während der Begleitung selbst habe weitergeben dürfen. Es ist sicher schwer verständlich – aber es ist so.

Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!

Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel