Unsere Geschichte – Geschichten vom alten und vom neuen Aids, Geschichten vom Leben mit HIV.
Heute: Nikolaus Michael (Teil 4): Drei Engel
Carola – war etwas ganz besonderes. Eines Tages fragte mich ein Gruppenfreund, ob wir nicht ein Caféprojekt für die Aidshilfe realisieren könnten – ich war sofort bereit, mitzumachen. Es gab bereits eine Projektgruppe in den Anfängen, die dabei war, Räume zu suchen und ich war von Anfang an mit Eifer dabei, alles zu planen und zu organisieren.
Jedenfalls fanden wir bald geeignete Räume in der Großgörschenstraße in Schöneberg – im Hochparterre gelegen – leider völlig heruntergekommen, so dass wir erst einmal kräftig renovieren mussten, bevor wir uns an die Einrichtung machen konnten. Viel Geld hatten wir auch nicht zur Verfügung, so dass wir mit sehr bescheidenen Mitteln uns Farbe besorgten und ans Werk gingen.
Eines Tages kam eine junge Frau herein – Typ „Uschi Glas“ – zierlich und mit munteren braunen Augen – ein Wuschelkopf voller Dauerwellen – auf den ersten Blick hielt ich sie für eine Hausfrau aus der Nachbarschaft. Sie stellte sich als Carola vor und machte sich tatkräftig ans Werk, uns zu unterstützen. Ihre Energie schien unerschöpflich. Carola war genau die Richtige, Menschen zu begeistern und auch anzuziehen – ihre Donnerstagabende mit Rainer-Bülowstraße unter dem Motto „Zur goldenen Rosette“ waren legendär. Im großen Raum des Cafés hatten wir die mittlere Deckenrosette plüschig mit Blattgold angestrichen – die Möbel waren gespendete ausrangierte Polstermöbel. Carola und Rainer untermalten die biedere Atmosphäre noch mit Pop und Rock aus den 70er Jahren – Marianne Rosenberg, Hanne Haller, um nur einige zu nennen und wir waren irgendwie in einer Stimmung, wie ich sie mir ähnlich auch auf der Titanic vorgestellt hatte. Wenn ich damals gewusst hätte, wie schnell unsere Hochstimmung wieder verfliegen würde.
Rainer aus der Bülowstrasse war damals nur noch kurz mit von der Partie – sein Traum war, noch einige Zeit in Amsterdam zu verbringen und er war damals gerade fleißig dabei, holländisch zu lernen. Er hat es dann ein Jahr später auch tatsächlich realisiert und ich habe ihn dann anlässlich von Wohnmobilreisen auch zwei oder dreimal in Amsterdam besucht. Er hatte auch seinen Hundetraum verwirklicht und sich damals bei einem Züchter einen wunderschönen kräftigen Berner Sennenhund ausgesucht. Rainer wohnte damals am Stadtrand in einer Sozialwohnung in „Kraiennest“ – wunderschön im Grünen gelegen und er war begeistert, dass er in einer Stunde mit der Bahn am Strand von Zandvoort sein konnte. Ich erinnere mich, dass wir uns dann während dieser Zeit auch einmal in Spanien zum gemeinsamen Urlaub mit den Hunden verabredet hatten. Damals hatte ich Freunde in der Nähe von Alicante, die sich dort eine kleine Bungalowanlage in Strandnähe aufgebaut hatten und sich rührend um ihre deutschen Gäste kümmerten. Barbara – eine Berlinerin und Rafael – ein feuriger Andalusier – beide um die 60 Jahre alt und gerade frisch berentet. Jedenfalls hatten wir dort zwei nebeneinander stehende Bungalows direkt mit Blick auf den Swimmingpool gemietet und Rainers Mutter, die damals in Süddeutschland lebte, hatte Stellung in einem noblen Strandhotel bezogen, wo wir sie dann auch öfters zu gemeinsamen Ausflügen abholten. Für unsere damaligen Verhältnisse war das eine schöne und entspannte Zeit – für mich auch jedes Mal ein Aufatmen nach den anstrengenden Monaten zuvor in Berlin. In Spanien hatten wir Meer und Berge satt, so dass wir mit den Hunden jeden Abend ausgepowert von unseren Ausflügen in die Anlage zurück kamen, wo uns Barbara und Rafael dann meistens am Grill mit selbst gemachter Riesenpaella und Sangria verwöhnten. Ich erinnere mich auch an die Panik, als eines Nachts eine verirrte El-Al-Frachtmaschine aus Israel in den Nachbarwohnblock stürzte und ich Rainer stundenlang versuchte telefonisch zu erreichen bis dann endlich die erlösende Nachricht kam, dass es ihm gut ginge. Unvergessener Rainer – eine Kerze die an zwei Enden lichterloh brannte, wie er öfters selbstironisch erwähnte.
Carola jedenfalls blieb mit uns zurück in Berlin, wo sie auch, so gut es ging, den Donnerstagabend ohne Rainer aufrecht hielt. In diesen Jahren habe ich mehrmals mit Carola einen Umzug mitgemacht – von Kreuzberg nach Steglitz, nach Moabit und – dann noch mal nach Steglitz, wo sie ihre 3 letzten Monate im Hospiz des Auguste – Viktoria – Krankenhaus verbrachte.
Carola, die zähe lebenslustige Mitstreiterin verlor von einem Tag zum nächsten ihr Gedächtnis – das heißt, sie wusste zwar noch wer sie war, aber konnte sich nichts mehr merken und bekam keinen roten Faden mehr in ihre Gedanken. Leider habe ich inzwischen vergessen (verdrängt?) welche opportunistische Infektion nun genau diesen Zustand hervorgerufen hatte – jedenfalls hatte sie eine fast vollständige Amnesie und ich teilte mir mit Reinhard die Wache an ihrem Bett – zuerst im Haupthaus des AVK – danach im dazugehörigen Hospiz in der Leonorenstraße in Lankwitz. Allerdings waren in den letzten Wochen auch zum Teil ihre in Süddeutschland und Hamburg wohnenden Familienangehörigen angereist, so dass wir uns ständig an ihrem Krankenbett die Klinke in die Hand gaben. Sie sah rein optisch aus wie das blühende Leben und es kam mir so vor, als wenn eine wunderschöne Orchidee ihren Lebenshauch verlor. Sie, die uns immer mit ihrer Lebensfreude und ihrer Kraft angesteckt hatte, lag nun mit ausdruckslosem Blick und kämpfte mit dem Leben. Und wie sie kämpfte. Sie musste ein unglaublich gutes und gesundes Herz gehabt haben, da ich mich erinnere, dass sie wochenlang trotz abgeschalteter Geräte noch wach und am Leben blieb.
Heute erinnere ich mich meist an sie, wenn ich im Café Positiv – nunmehr in der Bülowstrasse angesiedelt, ihr dort angebrachtes Foto – wo sie mit einem bunten Pagagei zusammen abgelichtet ist, anschauen kann. Unvergessene geliebte Carola.
Sabine Lange – liebe, liebe Sabine. Unser Engel. Engel der Aidskranken wurde sie mit Fug und Recht genannt. Unvergessene Sabine – die so vielen Kranken und Verzweifelten Trost und Mut zusprach – immerzu tatkräftig an ungezählten Krankenbetten selbstlos Hilfe leistete – bis es sie selbst traf und sie Mitte 1990 ein schnellwachsender bösartiger Tumor aus dem bis zuletzt aktiven Leben riss.
Ich lernte Sabine 1985 im Tropeninstitut Berlin kennen, wo sie als Krankenschwester bereits seit Jahren durch ihre sehr einfühlsame und mitmenschliche Art so etwas wie eine Institution war. Sie wurde von der damals einsetzenden Welle von zum HIV-Test eilenden Menschen ebenso überrollt wie die beratenden Ärzte und Ärztinnen im Tropeninstitut. Da der Test dort kostenlos – und anonym – durchgeführt wurde, zogen es viele aus den Betroffenengruppen vor, statt beim Arzt, die ersten Tests im Tropeninstitut durchführen zu lassen.
Sabine hatte eine so unnachahmlich feinfühlige Art, die zum Test gehörigen Fragen zu stellen, so dass sich jeder sofort zu ihr hingezogen fühlen musste und sich erst gar kein peinliches Gefühl einstellen konnte. Es wurde damals auch danach gefragt, wie eine mögliche Ansteckung erfolgt sein könnte und ihr vertraute man gerne das nötige an.
Sabine lernte ich aber erst persönlich kennen, als wir uns immer wieder in den diversen Krankenhäusern über den Weg liefen wo sie, neben ihrer unermüdlichen hauptamtlichen Arbeit als Streetworkerin für HIV-Aufklärung, Krankenbesuche machte. Sie kannte so viele Betroffene persönlich, die damals zu Tausenden in den Berliner Krankenhäusern lagen und fühlte sich für jeden einzelnen verantwortlich. Wenn wir uns begegneten, zog sie mich auf eine Bank, nahm meine Hand und ich war immer wieder aufs neue fasziniert wie lebhaft sie an allen Details meiner Interessen teilnahm – sei es nun das Projekt Café Positiv oder auch die Krankenbetreuung – wir zogen beide an einem Strang. Sie hatte so was liebevolles in ihrer Art, dass ich immer total beglückt war, wenn ich sie traf und wenn wir auch oft nicht länger als eine Viertelstunde miteinander hatten – es war etwas besonderes an ihr und das vermittelte sie jedem der mit ihr zu tun hatte. Bei Sitzungen und Tagungen, z.B. bei der Berliner Aids-Hilfe, wo sie auch, wenn immer möglich anwesend war, wurde ihre fachliche und sachliche Kompetenz immer gefragt und anerkannt.
Später dann zu sehen, wie sie immer weniger wurde durch ihre eigene Krankheit – und immer noch zu den Kranken eilte – das tat weh und dennoch gehörte es zu ihrem Leben, denn das war ihr Leben.
So habe ich oft erlebt, dass sie die Kranken noch mit ihrem fachlichen Wissen betreute – so nebenbei noch etwas zu essen kochte – oder selbstgekochtes von zu Hause mitbrachte, deren Wohnung schnell aufräumte und so gut es ging saubermachte. Heute noch ist es mir fast unvorstellbar, wo sie die Energie für alles aufbrachte. Und – bitte nicht falsch verstehen – sie hat um ihre Arbeit nie großes Gewese gemacht – es war selbstverständlich für sie zu helfen und sie wollte dafür keinen Dank und keine Ehrung. Den Verdienstorden des Landes Berlin, den sie 1988 für ihre Arbeit erhielt, nahm sie eher widerwillig denn freudig an – dafür war sie viel zu bescheiden. Aber diesen Orden hat sie wahrlich verdient – alle die sie kannten, werden das bestätigen. Sabine – liebe Sabine – ich denke an Dich – wir werden uns ganz sicher wieder begegnen.
Dr. Gerd Bauer war ebenfalls ein Engel der Aidskranken. Er hat so vielen Menschen in einer Zeit der Panik und Mutlosigkeit Trost und Zuspruch gegeben. Aber er war auch unerschrocken in seinem Kampf mit den Kranken – gegen die starre und teilweise unmenschliche Bürokratie. Eine Bürokratie der Krankenkassen, Versorgungsämter und Rentenanstalten, denen die er mit Zivilcourage und Unerschrockenheit widersprach und zuwiderhandelte. Man muss sich das heute mal vorstellen: in den chaotischen ersten Jahren von Aids starben die betroffenen Menschen wie die Fliegen – die das Leben etwas erleichternden Maßnahmen wie „Erteilung der Schwerbehinderung“, Rentengewährung usw. traten oft erst in Kraft oder wurden erst dann gewährt, wenn viele der Betroffenen bereits im Sarg lagen und nichts mehr von diesen Leistungen in Anspruch nehmen konnten.
Unerträglich für einen humanistisch denkenden Menschen wie Dr. Bauer. Er hat sehr vielen Kranken in ihrem Kampf gegen Behördenwillkür selbstlos beigestanden – leider ist auch er inzwischen einem Krebsleiden erlegen. Einer seiner damaligen Mitstreiter – ein junger Arzt in seiner damaligen Praxis am Kaiserdamm hat die Nachfolge seiner späteren Praxis an den Osramhöfen in der Seestraße bereits seit einigen Jahren in seinem Sinne übernommen. Ein wahres Glück für die Betroffenen, da es leider auch heute nicht alle der HIV-niedergelassenen Schwerpunktärzte wagen, im Zweifelsfalle den zaudernden Behörden Paroli zu bieten. Ausnahmen bestätigen die Regel. Zum Glück hat sich aber das Klima doch inzwischen zu Gunsten der Betroffenen gewandelt, so dass die Zahl der Einsprüche gegen Behördenwillkür sichtbar gesunken ist.
Copyright dieses Textes: Nikolaus Michael
Vielen Dank an Niko für sein Einverständnis, diesen Text hier wiederzugeben!
Nikos Geschichte(n):
1. Die ‚Totenbank‘
2. Stress im Krankenhaus
3. Schmunzeln, Quengeln, Hilferufe
4. Drei Engel