„Sehnsucht nach alltäglicher Normalität“ – Interviews zum Leben mit HIV

Wie geht das Leben nach der Diagnose HIV-positiv weiter? Wie gehen HIV-Positive mit ihrer Infektion um? Welche Herausfordeurngen stehen ihnee gegenüber, welche Strategien für einen veränderten Lebensalltag wählen sie? Fragen, denen sich das jüngst erschienene Buch  ‚Positiv – Leben mit HIV und Aids‘ widmet.

Die Autoren kündigen ihr Buch an mit den Worten

„In diesem Buch erzählen positiv getestete Männer und Frauen vom Alltag mit der Erkrankung, ihren Gefühlen und ihren Bewältigungsstrategien. Offen, ehrlich, mutig.“

15 Interviews sollen ein realistisches Bild (nein, eigentlich: viele verschiedene Bilder) vom Leben mit HIV zeichnen, oder, wie die Autoren formulieren, „realistische Einblicke in die vielfältigen Lebenswelten von Positiven“.

Eingerahmt sind die 15 Interviews in ein vorgeschaltetes Kapitel über Epidemiologie und Behandlungssituation von HIV in Deutschland, sowie an die Interviews anschließend gesundheitspsychologische Betrachtungen wesentlicher Aspekte, die sich durch die Interviews ziehen.

Cover_Positiv

„Der Respekt voreinander gebietet es, diese subjektiven Bilder stehen zu lassen und nicht als falsch zu diskreditieren oder abzuwerten, wie es in Debatten und Diskursen manchmal der Fall ist“, schreibt Dr. Stefan Timmermanns (HIV-Referent der DAH) in seinem Vorwort.

Das Bemühen, das „unauflösbare Spannungsfeld einer verzweifelten Sehnsucht nach alltäglicher Normalität und der wiederkehrenden Erfahrung eines Ausnahmezustands“ darzustellen, führt zu einer Folge authentischer Berichte aus verschiedenen Leben mit HIV, in vielfacher Hinsicht mit breitem Spektrum.

Einige der Interviews gehen unter die Haut, bewegen – andere mögen vielleicht eher unbewegt vorbeiziehen, vielleicht gar ablehnende Gedanken hervorrufen. Während des Lesens der einzelnen Interviews mag beim Leser zunächst das Gefühl einer Aneinanderreihung unterschiedlicher Erfahrungen und Einstellungen aufkommen, und ein Gefühl einer gewissen Beliebigkeit.  ‚Erkenntnisse‘, die manchmal banal anmuten – oder ist das Leben mit HIV eben auch so ?

„Wie geht’s dir heute mit der Krankheit? – Blendend. Aber nur dadurch, dass ich sie angenommen hab.“
oder
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Das Gefühl einer gewissen Banalisierung legt sich oft schon bald, erfährt der Leser, welche Entwicklung dahinter steht, wie es zu der persönlichen Erkenntnis kam.
Andere Gedankenstränge entfalten ihre Wirkung erst in der Folge der Interviews:

„Ich halte mich fern von Leuten, die mich runterziehen. … Meine Freunde sind mir wichtig, meine Familie. Ich bin froh, dass ich eine Familie habe … Meine Familie weiß nicht, dass ich positiv bin.“

„Ja und dann habe ich meine Eltern angerufen, auch ziemlich schwieriges Problem: Die Mutter anrufen und ihr DAS sagen. Ziemlich heftig. Alles an einem Tag erledigt, ja. Ich hab die schlimmsten Dinge gleich hintereinander weggemacht.“

Wie umgehen mit der Infektion, insbesondere wem was sagen, wie umgehen mit Partner/in, Verwandten, Freunden – diese Frage zieht sich wie einer der roten Fäden durch die Interviews.

„Wenn du da keinen Partner hast, der dich auffängt und du nicht so viel Rücklagen hast, dass du das durchstehst, dann stehst du mit dem Rücken an der Wand.“

Ein Reiz des Buches liegt darin, sich auf die Vielzahl der Interviews, der unterschiedlichen Biographien und Lebensweisen einzulassen – und im ‚Revue passieren lassen‘ Themen und Gedanken zu entdecken, die viele der interviewten Menschen mit HIV beschäftigen. Aus verschiedenen Blickwinkeln, mit verschiedenen Grundhaltungen oder Lösungsansätzen. Anlass vielleicht, auch die eigenen Wege oder Sichtweisen in Frage zu stellen.

Sichtbar wird dabei auch, welche Bilder HIV-Positive sich von „den anderen Positiven“ machen, und von dem was ’normal‘ sei … Bilder, die (auch) die Frage aufkommen lassen, wie wir es denn mit Toleranz und Vielfalt unter einander halten.

„Leben ist gelungenes Scheitern“, dieser wie ein Bonmot klingende und doch tief reichende Gedanke blinkt in den Interviews gelegentlich in bemerkenswerter Weise auf. Erfahrbar wird, dass Schock und Krise auch Aufbruch sein können.

Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten in dem Buch auch die ‚gesundheitspsychologischen Überlegungen‘, die im dritten Kapitel den Interviews folgen. So ermuntert Angela Kühner mit ihren Reflektionen und Anregungen zu Kritik und Selbstkritik – ihren Gedanken hätte man mehr Platz, mehr Raum zum Entfalten gewünscht. Zeit und Platz für eine Verteifung, wie z.B. bei dem Gedanken, den Umgang mit der HIV-Infektion unter dem Aspekt einer psychtraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu betrachten.

Jochen Drewes fragt in seinem Beitrag „gibt es einen richtigen Weg?“ HIV-Positive stehen in ihrem Leben mit HIV vielen Herausforderungen gegenüber, und die Interviews zeigen, wie verschieden die Wege sein können, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Welche Coping-Strategie ist angemessen? Was braucht es, dass individuell eine (positive) Neubewertung der eigenen infektion möglich wird?

Implizit, teils auch explizit beschäftigt sich das Buch mit der „Sehnsucht nach alltäglicher Normalität“. Phil Langer problematisiert in seinem Beitrag Strategien hierfür und das „Dilemma des Begehrens nach Normalität“. Anregende Gedanken, auch ihnen hätte man mehr Raum gewünscht – könnten sie in Weiterführung doch auch wertvolle Beiträge liefern dafür, wie es denn eigentlich steht um die oftmals postulierte ‚Normalisierung‘ von HIV/Aids. Eine Vertiefung könnte zudem Hinweise geben, welche persönlichen und gesellschaftlichen Strategien des Umgangs mit dieser vermeintlichen ‚Normalisierung‘ entwickelt werden können. Auch Normalität und Normalisierung bewegen sich in gesellschaftlichen Dimensionen und Rahmenbedingungen – die veränderbar sind.

Ein Gedanke zum Schluss. Zahlreiche der interviewten Positiven machen sich Gedanken über ihr Sex-Leben und den Umgang mit möglichen Infektionsrisiken. Nahezu einhellig ist dabei eine Haltung festzustellen, die folgendes Beispiel zum Ausdruck bringt:

„Ich kann zwar damit umgehen, dass mich jemand angesteckt hat, ich könnte psychisch, glaube ich, nicht damit umgehen, wenn ich jemanden angesteckt hätte …“

Eine Haltung, die immer wieder reproduzierte Mythen wie jenen vom ‚verantwortungslosen Schwulen‚ oder der ‚neuen Sorglosigkeit‚, besonders aber den Mythos vom ‚verantwortungslosen HIV-Positiven‚ als eben solche entlarvt, als substanzlose Mythen

Schon aus diesem Grund sei das Buch insbesondere auch all jenen, die weiter an Mythen und falschen Vorstellungen über HIV-Positive stricken, zur Lektüre empfohlen …

Phil C. Langer, Jochen Drewes, Angela Kühner
Positiv – Leben mit HIV und Aids
BALANCE buch+medien verlag