Nach ihrem Zwangs-Outing als HIV-positiv durch die Staatsanwaltschaft haben ihre Tochter und sie extreme Erfahrungen gemacht, berichtete Nadja Benaissa in einer Talkshow. Inzwischen kehre langsam wieder Normalität in ihr Leben ein. Benaissa war Gast in der ARD-Sendung „Beckmann“.
Kurz nach Erscheinen ihrer Biographie (Tinka Dippel: Nadja Benaissa – Alles wird gut) trat Nadja Benaissa am 4. Oktober 2010 in der Talkshow „Beckmann“ auf. „Langsam kommt wieder ein wenig Normalität in mein Leben“, beschreibt Benaissa die ersten Wochen nach dem Urteil. Ihre 300 Stunden gemeinnützige Arbeit, zu denen sie zusätzlich zu zwei Jahren auf Bewährung sowie Therapie verurteilt wurde, möchte sie im Hospiz-Bereich oder in der Arbeit mit von HIV betroffenen Kindern leisten.
Benaissa berichtete, sie habe von ihrem Zwangsouting durch einen Justizvollzugsbeamten am gleichen Tag unter vier Augen erfahren. Ihre Tochter habe sie informieren wollen, wenn sie ein wenig älter und reifer sei – dies sei durch das Zwangs-Outing unmöglich geworden. Ihre Tochter habe danach extreme Reaktionen auf dem Schulhof erleben müssen.
Sie habe schon den Haftbefehl als komplette Vorverurteilung erlebt, erst recht die Reaktionen von Medien udn teilen der Öffentlichkeit danach. Dass die Unschuldsvermutung bis zum Urteil gelte – dies habe sie für sich nicht erlebt. Die im Haftbefehl angegebenen Gründe habe sie als nicht gut ermittelt empfunden.
Die Redaktion von ‚Beckmann‘ hatte vor der Sendung die Staatsanwaltschaft Darmstadt erneut angefragt zu ihrem Verhalten. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt betonte, sie sei weiterhin der Ansicht, sich damals richtig verhalten zu haben. Der profilierte Journalist Hans Leyendecker (‚Spiegel‘, ‚Süddeutsche‘; Beirat Transparency International) betonte in einem Einspieler erneut, die Staatsanwaltschaft Darmstadt hätte die HIV-Infektion Benaissas seiner Ansicht nach nicht bekannt geben dürfen.
Zum Thema Verantwortung und Schuld betonte Silke Klumb (Geschäftsführerin der Deutschen Aids-Hilfe) in einem Einspieler, Frau Benaissa habe Verantwortung für Ihr Verhalten. Sie treffe jedoch nicht die alleinige Verantwortung, es gehe immer um zwei (oder mehr) Partner/innen, jeden Sexualpartner treffe auch eine Verantwortung.
Benaissa betonte abschließend auf die Frage Beckmanns, was „die Menschen aus ihrem Fall lernen können“, HIV sei eben nicht nur Thema der Homosexuellen oder der krank aussehenden Menschen, sondern auch der Heterosexuellen.
Ebenfalls zu Gast in der Sendung: Medienanwalt Christian Schertz, der auch Nadja Benaissa (ab nach der Verhaftung) vertrat. Schertz kritisierte deutlich die Stigmatisierung Benaissas durch Medien und Justiz. Er betonte, er habe Staatsanwalt Neuber (Staatsanwaltschaft Darmstadt) angerufen und eindrücklich gebeten, von der Veröffentlichung weiterer Informationen Abstand zu nehmen – leider letztlich erfolglos. Die Medien ‚Bunte‘ und ‚Bild‘ hätten Entschädigungen gezahlt nach ihrer Berichterstattungen über die Umstände der Verhaftung.
Können Medien nach dem Verhalten, den Aussagen der Staatsanwaltschaft gar nicht anders als veröffentlichen? Udo Röbel, ehemaliger Chefredakteur der ‚Bild-Zeitung‘, betont -bei heftigem Widerspruch durch Schertz sowie Benaissa- es seien (in der ‚Bild‘) immer nur „die Fakten“ geschrieben worden. Berichterstattung sei auch -dies habe auch das Kammergericht Berlin bestätigt- im Vorwege zulässig gewesen, schon wegen des „gravierenden Interesses des Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit“ angesichts der Bekanntheit von Frau Benaissa.
Das Presserecht unterscheide, betonte Röbel, zwei Kategorien, den Schutz der Privatsphäre und den Schutz der absoluten Intimsphäre. Die Veröffentlichung sei nach Urteil des Berliner Kammergerichts rechtens gewesen, trotz gewisser intimer Details.
Angesichts von Begriffen wie ‚Todesengel‘ oder ‚Biowaffe‘ gestand Röbel ein, Geschmacksgrenzen seien des öfteren in diesem Fall überschritten worden – aber man habe berichten dürfen, das sei presserechtlich geklärt. Die Frage sei für ihn, woher dieser Sprachgebrauch komme. Die Gesellschaft habe sich verändert, Röbel sprach von ‚Zügen der Verwahrlosung‘. Angesichts von Sendungs-Formaten, die mehr auf öffentliche Vorführen von Kandidaten als auf deren Casting ausgerichtet seien, schließe sich da für ihn nur ein Kreis.
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siehe auch:
alivenkickin 05.10.2010: Montag abend „Bei Beckmann“ . . . und ein Ex Chefredakteur über die Verwahrlosung der Gesellschaft
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Angesichts von Begriffen wie ‘Todesengel’ oder ‘Biowaffe’ gestand Röbel ein, Geschmacksgrenzen seien des öfteren in diesem Fall überschritten worden – aber man habe berichten dürfen, das sei presserechtlich geklärt. Die Frage sei für ihn, woher dieser Sprachgebrauch komme. Die Gesellschaft habe sich verändert, Röbel sprach von ‘Zügen der Verwahrlosung’.
Denkfehler Herr Röbel. Der Boulevard – Print wie TV Medien – hat eine gehörige Portion an dieser Verwahrlosung der Gesellschaft mit dazu beigetragen. Ich kann da immer nur wieder Kai Diekmann zitieren: Wenn es keine Schlagzeilen gibt – dann machen wir welche. Davon lebt der Boulevard.
Mehr objektive, neutrale Berichterstattung, mehr Zurückhaltung, mehr dem Schutz der Privatsphäre und den Schutz der absoluten Intimsphäre Rechnung tragen und schon wäre das mediale Klima in der Gesellschaft ein anderes. Nicht umsonst gibt es den Pressokodex des Presserates http://www.presserat.info/inhalt/der-pressekodex/einfuehrung.html
»Denkfehler Herr Röbel. Der Boulevard – Print wie TV Medien – hat eine gehörige Portion an dieser Verwahrlosung der Gesellschaft mit dazu beigetragen.«
Danke! Kürzer hätte ich es auch nicht sagen können. Herr Röbel stellt sich als moderner Zauberlehrling dar und wundert sich, dass er die Geister, die der Boulevard heutzutage nicht mehr ruft, sondern beschwört, nicht mehr los wird …
Ich habe nicht das ganze Interview gesehen, aber Herr Röbel hat es sich sehr leicht gemacht. Ich finde es teilweise unerträglich, was in den Medien so alles breit getreten wird, nur damit die Menschen Geld dafür ausgeben und es Quoten bringt. Erschreckend allerdings, dass es scheinbar genug Leute gibt, die das platte Bildzeitungsniveau gut finden. Niemand hat das Recht einen Menschen öffentlich so zu behandeln und zu betiteln wie im Fall Benaissa. Die Medien haben eine große Verantwortung und werden ihr allzu oft nicht gerecht.
„Die Medien haben eine große Verantwortung und werden ihr allzu oft nicht gerecht.“
das ist wohl wahr. ich wage allerdings zu behaupten, dass sich die meisten journalist_innen dieser verantwortung nicht bewusst sind. sie machen einen job. letztlich geht es in einer branche, die verdammt hart ist, nur ums überleben. da lässt mensch dann schon mal den einen oder anderen skrupel fallen. und die, die das mitkriegen, versinken im alk.