Jahreswechsel 2011 (Teil 2): gewagter Blick nach vorn

Nach dem Blick darauf, welche wichtigen Ereignisse und Gedenk-Anlässe sich 2011 jähren werden („2011 – Blick zurück nach vorn„), heute ein Blick darauf, welche Themen im Jahr 2011 im Mittelpunkt stehen könnten:

Quo vadis, HIV-Therapie? Und was ist mit Heilung von HIV?

Seit Zeiten der Aids-Konferenz von Vancouver hat sich die therapeutische Situation für HIV-Positive in Industriestaaten sehr entspannt. Zahlreiche neue Medikamente sind in den letzten 15 Jahren zugelassen worden, zudem weitere Wirkstoff-Klassen hinzu gekommen.
Doch in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Pharmaunternehmen, die an Medikamenten gehen HIV forschen, zurück gegangen. Einige Unternehmen sind – teils aus Rendite-Gründen – aus dem HIV-Bereich ‚ausgestiegen‘, andere von Wettbewerbern übernommen worden. Zudem, die Entwicklungs-Pipeline derjenigen Unternehmen, die weiter an HIV forschen, scheint derzeit nicht eben gut gefüllt zu sein. Wie geht es weiter mit der HIV-Therapie? Werden auch zukünftig ausreichend neue (und bezahlbare) Medikamente erforscht und auf den Markt gebracht?

Die Grundlagenforschung hat einige bemerkenswerte Fortschritte dabei gemacht zu verstehen, warum einige Menschen trotz HIV-Infektion nicht erkranken (‚elite controller‘), und wie HIV in viralen Reservoirs erreicht werden könnte. Oftmals handelt es sich um kleine Forschungseinrichtungen oder Projekte mit sehr begrenztem Budget.
Wann kommt die Erforschung von Möglichkeiten zur Heilung von HIV wieder auf die politische und die Forschungs-Agenda? Und was unternehmen wir, um mehr Druck zu machen? Oder reicht uns etwa die Perspektive, lebenslang Pillen nehmen zu müssen?

Fortschritt – nur für reiche Staaten?

Die Situation hat sich für Positive verbessert – weltweit, auch in weniger entwickelten Staaten. Die Zahl der Menschen mit HIV, die Zugang zu antiretroviraler Therapie haben, konnte in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert werden.
Doch immer noch haben schätzungsweise zehn Millionen (!) HIV-Positive weltweit keinen Zugang zu wirksamen Medikamenten gegen HIV. Und selbst für Positive, die Zugang zu ersten HIV-Therapien haben, stellt sich die Frage, was wenn die erste Kombi versagt? Oft steht nur eine begrenzte Anzahl Medikamente in bezahlbaren Versionen zur Verfügung – und danach?
Werden Industriestaaten, werden auch Positive in Industriestaaten ihrer Verantwortung gerecht?

Quo vadis, HIV Prävention?

Wie geht es weiter mit der HIV-Prävention? Kondome und das Propagieren von ’safer Sex‘ waren einst das einzige wirksame Mittel der HIV-Prävention (bis auf diejenigen Menschen, die immer noch an die Wirksamkeit und Praktikabilität von Abstinenz als Methode der HIV-Prävention glauben).
Doch immer mehr wirksame Werkzeuge der Prävention stehen absehbar zur Verfügung oder kündigen sich an: Viruslast-Methode, Mikrobizide, Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP), experimentelle Impfstoffe.
Wie entwickelt sich HIV-Prävention zukünftig weiter, in Industriestaaten und in weniger industriell entwickelten Staaten? Und: in Zeiten zunehmender Medikalisierung der Prävention – welchen Platz haben nicht-medizinische Konzepte der Prävention, welche Rolle haben strukturelle Prävention und Sozialwissenschaften zukünftig, für Aidshilfe, für Szenen, für die Politik?
‚Testen und direkt behandeln‘ (test and treat), Sexpartner bei positiven Testergebnis direkt benachrichtigen – erleben wir eine Akzent-Verschiebung? Droht ein Roll-Back zu ‚old public health‘, zu längst überwunden geglaubten Mitteln der Gesundheitspolitik? Wie gehen wir damit um, wie stärken wir den freiheitlichen Ansatz der Aufklärung , Information und Entscheidungsfreiheit?

Kriminalisierung – wie agieren?

Die Zahl der Fälle, in denen Staatsanwälte gegen HIV-Positive ermitteln, in denen HIV-Positive vor Gericht stehen, scheint zu steigen. Eine erstaunliche Entwicklung – die medizinische Situation entspannt sich, die juristische scheint sich zu verschärfen.
Wie reagieren wir auf die zunehmende Zahl an Ermittlungen und Verfahren gegen HIV-Positive? Und wie wollen wir zukünftig agieren, um den Trend zunehmender Kriminalisierung zu brechen, deutlicher sichtbar zu machen, dass Kriminalisierung kontraproduktiv ist?

Alles normal? Der problematische Begriff ‚Normalisierung‘

Der Begriff ‚Normalisierung‘ wird zunehmend auch von Aidshilfe und HIV-Positiven benutzt. Doch – wie ’normal‘ ist es tatsächlich, heute mit HIV zu leben?
Für viele HIV-Positive ist ihr persönliches Leben mit HIV alles andere als ’normal‘ – ob es sich nun um eine an Aids erkrankte Frau, einen HIV-positiven Migranten mit illegalem Aufenthaltsstatus oder einen HIV-positiven Schwulen in höherem Lebensalter handelt, um nur drei Beispiele zu nennen.
Die Verwendung des Begriffes ‚Normalisierung‘ setzt – bewusst und unbewusst – neue Bilder vom Leben mit HIV. Wie viel Potential zu neuer Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung liegt auch in diesen neuen Bildern?

Drei Dimensionen hat diese Debatte um ‚Normalisierung‘ (mindestens):
– Wie gehen wir mit dem, was derzeit ‚Normalisierung‘ genannt wird, um, und welche Konsequenzen ziehen wir?
– Wie gelingt die Gratwanderung zwischen einer Beschreibung einer tatsächlichen Verbesserung der Situation, und dem Vermeiden neuer Stigmatisierung oder Verharmlosung?
– Und: wird die Formulierung ‚Normalisierung‘ überhaupt je zutreffen? Selbst bei optimaler medizinischer Situation, selbst bei weitgehend abgebauten gesellschaftlichen Nachteilen und Problemen (was derzeit bei weitem nicht erreicht ist) – die HIV-Infektion  wird nie „normal“ sein, es wird immer implizit Stigma an ihr (und damit am HIV-Infizierten) haften. Der Makel der Normabweichung, von Sex Drogen Lust. Kann dieser Makel einfach ‚weg-normalisiert‘ werden? Und falls nicht – was bedeutet dies für uns? Brauchen wir andere Begriffe? Andere Strategien?

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3 Gedanken zu „Jahreswechsel 2011 (Teil 2): gewagter Blick nach vorn“

  1. Wir sollten uns von dem Wort „Normal – Normalisierung von Leben mit HIV“ verabschieden und stattdessen von vornherein entsprechend differenzierend.

    Dank der uns, in den Industriestaaten zur Verfügung stehenden und durch den „noch vorhandenen Sozialstaat“ finanzierten HIV Medis leben wir heute länger. Viele von uns sind Dank der Medis wieder – bzw in der Lage arbeiten zu gehen.
    Anders sieht es in den Ländern Afrikas, Indien, Südostasien, Karibik und Südamerika aus. Die Medikamente der 2 Generation stehen dort nicht zur Verfügung.

    Ganz anders sieht es in China und den ehemaligen Staaten des Ostblocks aus. Da ist von einer Normalisierung – Normalität wohl kaum zu sprechen. Geschweige denn das die Menschen die HIV + sind den Zuagng zu HIV Medikamente haben wie wir.

    Auch was Stignmatisierung und Diskriminierungvon menschen mit HIV betrifft hat sich nicht wirklich viel getan. Insofern kann man auch hier nicht gerade von „einer Nomalität im Alltag“ sprechen.

    Die neue Herausforderung mit der wir konfrontiert werden bzw. zum Teil schon sind ist „HIV Positiv und Alter“.
    Dies betrifft den medizinischen Aspekt „HIV und Alter und Langzeitwirkungen der Medikamente“. In diesem Zusammenhang würde ich es auch begrüßen wenn man sich von dem begriff „Nebenwirkung“ verabschieden würde. Es gibt im Grunde genommen nur „Auswirkungen – Wirkung“ der Medikamente. Die Konnotation des Wortes Nebenwirkung ist negativ und vor allen Dingen mit Angst besetzt. Und Angst ist immer ein schlimmer Begleiter, Ratgeber.

    Und was unternehmen wir, um mehr Druck zu machen?

    Das Wort „Uns – Wir“ ist mehrdeutig besetzt. Zum einen versteht man Uns-Wir = menschen mit HIV. Und das ist auch schon alles. Es beinhaltet zur Zeit jedenfalls nicht das Verständnis das „Wir die wir HIV + sind auch gleichzeitig Kämpfer sind bzw wir uns einsetzen, stark machen . . . für was auch immer“. Da ist eher der Wunsch Vater des Gedanken das es (wieder) so sein könnte . . .

    Alles andere wird immer ein falsches Bild auf HIV, auf Menschen die HIV + sind werfen.

  2. Wir sollten doch die Werbung der Pharmaindustrie nutzen und uns zum Ziel machen: „Besser leben mit Aids!“ Treffender kann der Widerspruch nicht auf die Reihe bekommen werden. Viele werden’s nicht glauben, aber es gibt nicht wenige Leute, die sowas beim Wort nehmen.
    Kürzlich hatte ich einen 19jährigen im Chat, der mich fragte, „hmm… ist es wirklich so schlimm wenn ich mein erstes mal ohne gummi will?“ Auf die meine gesundheitlichen Bedenken antworteter er:
    „Ich weiss doch… aber ich würde mich gerne ficken lassen ohne gummi… wenigstens das erste Mal .“ Ich wollte wissen, warum ihm das so wichtig sei: „Meine klassenkollegen spritzen auch immer in ihren Freundinnen ab… ich will das auch spühren.“

    Ich hatte auch einen aktiven Barebacker im Chat. Auf meine Bedenken hin meinte er: „Nee, bin mit Therapie* du Schalk.“
    Und wer kontrolliert das? „Unispital Zürich, noch mehr diskreminierenden Fragen ??? “

    Mir bleibt die Frage: Warum konzentrieren wir uns so krampfhaft auf mechanische Behandlungen und chemische Reaktionen und machen einen grossen Bogen um die Probleme in den Köpfen herum?

    * Therapie zur Reduzierung der Virenlast

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