Indignez-vous ! Empört Euch !

Indignez-vous !

Gast – Kommentar aus Paris von Manfred

Empört Euch ! ruft uns, in seinem kleinen Büchlein, der weise, bewundernswerte, alte Mann namens Stéphane Hessel* in den gerade 30 Seiten zu, die inzwischen in Frankreich in wenigen Wochen von Hunderttausenden gekaufte wurden. Viele warten auf die vorgesehene Neuauflage .

Empört Euch – Indignez-vous!, sagt er.
Ja, ich will es auch im kommen Jahr nicht lassen. Will nicht schweigen, will nicht mehr schweigen und wenn es sein muss, schreien, aufschreien. Denn Gründe dazu gibt es – leider – immer wieder.

Übersetzen wir erst einmal die ersten Linien seines Aufrufs zum „friedlichen Aufstand“:

„Das Basismotiv der Widerstandsbewegung war die Empörung. Natürlich, die Gründe, sich in unserer heutigen modernen Welt zu empören sind komplexer, können weniger klar sein als zur Zeit des Nazismus. Aber: „Sucht und Ihr werdet finden“: Der ständig steigende Unterschied zwischen sehr Reichen und sehr Armen, der Zustand unseres Planeten, die Art und Weise, wie Menschen ohne gültige Papiere behandelt werden, Einwanderer, Roms, das Rennen nach „immer mehr“, der Wettkampf und die Diktatur der Finanzmärkte bis hin zu der vermarkteten Errungenschaften der Widerstandsbewegung – Renten, Krankenversicherung …“

Dass Stéphane Hessel französische Gegebenheiten auflistet ist nicht verwunderlich. Aber: wie sieht es in andern Ländern anders aus? Hat nur Frankreich Probleme aller Art? Mitnichten, keineswegs.

Und das Unerträgliche ist, dass wir alle, wo immer auch, gleiche und auch andere Gründe haben, uns zu empören.

Darf ich nur einige davon nennen:

– Ich will mich nicht damit zufrieden geben, dass man erst in Monaten hier in Frankreich einem Kriminellen den Prozess macht, weil er vor mehr als einem Jahr schon und aus welchen Gründen auch immer – ein Berg davon würde nicht reichen ihm auch nur annähernd mildernde Umstände zuerkennen – ein homosexuelles Paar lebend – JA, LEBEND – in einem Quadratmeter großen Loch verscharrt hat, in dem beide, Gesicht zu Gesicht, Polizeiberichten zufolge, sich haben sterben sehen (Informationen hier: Le Figaro und Le Telegramme).
Wir haben es hier, in der Tat, mit einem besonders makabrem Beispiel der Homophobie zu tun. Und dennoch: in unseren Landen können wir noch mit etwas „Zivilisation“ rechnen. Anderswo, und die Zahl der Länder hat sich in den letzten Jahren um nicht eines verringert, werden Homosexuelle hingerichtet, gesteinigt, vergewaltigt.

– Ich will nicht mehr stillschweigend hinnehmen, dass in der Pharmaindustrie Unsummen verdient werden – und gleichzeitig durch gezielte Lobbyarbeit Kranken der Zugang zu lebensrettenden Medikamenten gesperrt wird: es gibt immer noch Länder, in denen HIV-Kranken keine Medikamente zur Verfügung stehen, weil die Pharmakonzerne sich immer noch weigern, dass dort Generika zur Verfügung stehen oder hergestellt werden dürfen.
Und hier, im Frankreich des XXI. Jahrhunderts haben, letzten Berichten zufolge, bisher mehr als 2.000 Menschen an einem unnützen und falsch angewandten Medikament (Mediator) sterben müssen, während Pharmakologen und Spezialisten schon Ende der neunziger Jahre dessen Gefährlichkeit anklagten.

– Und ich will mich nicht damit zufrieden geben, dass Zweifel, dass das eigene „sich-in-Frage-stellen“ oder auch nur Fragen stellen in der „Blogwelt“ immer noch, und vielleicht mehr denn je durch Arroganz und Rechthaberei ersetzt wird. Zumal von Menschen die ihr Berufsschwulentum zur Allgemeingültigkeit erklären – und sich irren. Während Andere, Wenige, unerlässlich kämpfen, erklären, helfen. Hélas, es sind leider nur Wenige.
Ihr lieben ‚Auch-Homosexuellen‘, ihr lieben Mitleidenden an dieser uns immer noch verfluchenden Krankheit: Je vous aime – ich kann es nicht besser sagen. Aber bitte: versuchen wir erwachsen zu werden. Die Zeit ist da.

– Und ich bin müde, mich durch die Hochglanz-Presse durchwühlen zu müssen, in der ich erst einmal Lady Gaga und andere schrille Glitterfiguren, wie auch den „mec de la semaine“, den ‚Kerl der Woche“ beiseite schieben muss, um eine lesenswerte Information zu finden. Selbst wenn ich die deutsche Presse auf diesem Gebiet kaum kenne, darf man wohl sicher sein, dass es dort ungefähr genauso aussieht. Natürlich müssen solche Veröffentlichungen leben: aber muss es denn ständig so sein wie Marguerite Yourcenar es einmal ausdrückte: „Tragik und Operette“? Nein: ich habe nichts gegen Letzteres. Aber, wie ich den „Gay-pied“ vermisse (und der, ich befürchte, wohl kaum wieder ins Leben gerufen werden wird) und die Menschen dieser Jahre, die mit Intelligenz und Abstand überlegten und sich aufregten, anklagten und Verbesserungen vorschlugen, kurz und gut mit Geschick und Nachdruck – beide schließen sich nicht aus – für unsere Sache eintraten!

Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Doch die wenigen hier angeschnitten Punkte führen bei kurzen Überlegungen zu anderen, nicht weniger wichtigen. Wie dieser letzte:

– Und keine Empörung über meinen eigenen HIV-Status? JJein. Es hat lange gedauert bis ich mich daran gewöhnt hatte, mit ihm zu leben und ich werde bis zum letzten Atemzug mit einem ganz gehörigem Paket voll Wehmut den glücklichen, sorglosen Jahren nachtrauern – aber auch denen, die mich zweimal vor dem Absturz gerettet haben. Merci! Danke! Es war schwierig, ja. Aber sie waren da, jeder der zählte.
Ich wage es kaum zu sagen: nie, nicht einmal habe ich das Gefühl gehabt, dass diese oder jener, die sich um mich sorgten, nicht das Bestmögliche getan haben. Und dazu zähle ich auch öffentliche Einrichtungen wie Krankenkasse und dergl. Ich weiß, es gibt immer noch Probleme bei anderen, auch in unseren Landen. Nicht alle haben das gleiche Glück gehabt.

Das ist der Daseinsgrund dieses Blogs – wie der Anderer. Das ist eben der Grund Stéphane Hessel’s Aufruf ernst zu nehmen wenn er sagt: Indignez-vous! EMPÖRT EUCH ! wenn es sein muss.

Das neue Jahr beginnt gerade. Was ich uns, Euch, was ich mir wünsche ist unter anderem Kraft zur Empörung. Was mich betrifft: non! „Manfred wir die Klappe nicht halten!“ Basta.

Für Alle une Bonne et Heureuse Année !
Ein Glückliches Neues Jahr !

.

*)
Ein paar Worte zur außergewöhnlichen Persönlichkeit von Stefan Hessel, denn als solcher wurde er 1925 in Berlin als Sohn eines jüdischen Schriftstellers und einer protestantischen Mutter geboren. Dies Elternpaar ging übrigens in die Filmgeschichte ein Dank eines Buches des Vaters, in dem er die vor Glück geradezu strahlende Dreiecksgeschichte aus seiner Jugend erzählt und aus der François Truffaut später den Film „Jules et Jim“ mit einer ebenso strahlenden Jeanne Moreau in der Rolle seiner Mutter drehte.
Im Jahr 1925 zieht die Familie nach Paris, wo Hessel sein sehr weit reichendes Studium macht. 1937 wird er französischer Staatsbürger. Widerstandskämpfer der ersten Stunde, er wird im Jahr 1944 von de Gaulle zur einer besonderes „Mission“ nach Paris geschickt, dort von der Gestapo verhaftet, nach Buchenwald deportiert. Durch die Hilfe eines Arztes, der ihm und zwei seiner Kameraden falsche Papiere besorgt, kann er entkommen. Jedoch Monate später erst ist er wirklich frei.

Stéphane Hessel ist Botschafter und war an der Ausarbeitung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ beteiligt.
Ein ausführlicher Artikel bei „Wikipedia“ und auch hier, was einen Teil seiner Stellungnahmen in seinem Buch betrifft: L’Express

(Gast – Kommentar von Manfred)