Annäherungen – ein Frankfurter Bilderbogen

Im Folgenden als Dokumentation die Rede, die Bernd Aretz am 1. Dezember 2003 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat:

Annäherungen – ein Frankfurter Bilderbogen

Die Regenbogenfahne flatterte im Sturm unter den dahinjagenden Wolken des kommenden Gewitters. 7 ½ Minuten läutete die Stadtglocke der Paulskirche, während auf dem Römerberg Namen verlesen wurden. Das war im Februar 1990. Es war eine öffentliche Trauerfeier für unsere schwulen Freunde, vereinzelte heterosexuelle Frauen und Männer, darunter vor allem Menschen, die in der herrschenden Drogenpolitik keine Chance hatten, zu überleben.

Wir erinnerten an Flüchtlinge vor Hunger und Gewalt in ihren Heimatländern, die hier gestrandet waren. Die feine Glocke läutet nur zu wesentlichen Ereignissen im Leben unseres Gemeinwesens. Darüber muss der Rat der Stadt stellvertretend für die Bürgerschaft entscheiden. Trauer und Angst der im Bann von Aids stehenden Menschen wertete er über alle politischen Grenzen hinaus als so bedeutend, dass dem laut vernehmlich die Anteilnahme bekundet wurde.

Gar zu große Angst lähmt. Sie auszusprechen und darin im Kreise der Freunde und all der unterstützenden Menschen aufgefangen zu werden, konnte sie beherrschbar machen, die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Sprechen half dabei. Wenn es auch nicht zum Nulltarif zu kriegen war. Die Angst vor Tratscherei, Verlust der sexuellen Attraktivität, beruflichen Schwierigkeiten wog schwer. Mein Einsatz war der einer gutgehenden Anwaltskanzlei. Ich habe ihn eingebüßt, aber ich kann leben, manchmal sogar identisch mit mir.

Und wenn ich mich frage, welche Einsätze die Generation meiner Eltern oder Großeltern hätte leisten müssen, wenn sie gegen Tätowierungen und Internierungen protestiert hätte, dann kann ich nur sagen, ich bin gut davon gekommen. Mein Einsatz war nicht zu hoch. Schließlich ging es um meine Unversehrtheit.

Diejenigen, die in den Anfangstagen ihr Gesicht zeigten, waren getrieben, weil sie die Sprachlosigkeit und das Überschüttetwerden mit düsteren Bildern nicht mehr ertrugen.
Wandelnde Mörderbomben sollten wir sein, schlimm wie Pest, Cholera und die Präventionsbotschaften der katholischen Kirche zusammen. Endlich hatten die allseits kursierenden diffusen Lebensängste einen Namen. Was kümmerte Tschernobyl, das verhungernde und verdurstende Afrika, näher lag doch die Frage, ob der bundesdeutsche Durchschnittsbürger sich an grünen Meerkatzen infizieren konnte. Dies war eine beliebte Frage an den Beratungstelefonen.

Und unsere Freunde starben. Und wie klein wurde das alles auf einmal, wenn der Kollege aus Afrika trocken anmerkte: Wir wären froh, wenn wir sauberes Wasser hätten, wenn eine infizierte schwangere Frau von der öffentlichen Meinung und weiten Teilen des Gesundheitssystems zum Abbruch gedrängt wurde, eine alleinerziehende Mutter vor der Frage stand, wann sage ich es meiner fünfjährigen Tochter?

Und dann gibt es unendlich viel Bilder, die dagegen stehen,
– das erste Gespräch mit Traudel Böker auf dem Balkon der 68, sie war das erste Mal ungeschminkt mit der Farbigkeit der Lebenswelt Ihres schwerkranken schwulen Sohnes konfrontiert. Und sie nahm sie ganz selbstverständlich an. Das war einfach so.
– Rüdiger Anhalt auf den Barrikaden.
– Elfriede, die Rentnerin, kochte auf der 68 und stellte immer wieder ihren mütterlichen Busen zum Ausheulen bereit.
– Gerlinde, Wolfgang, Madleine, Astrid Kober, Bernhard Knupp und Schwester Helga, sie sind nicht alle aufzuzählen, die in schweren Momenten unspektakulär und warm Hilfe geleistet haben.
– Hans Peter Hauschild versuchte nicht nur die Lust und ihre Orte konzeptionell und politisch zu verteidigen, sondern stritt fröhlich lachend auch mit selbstverfassten Liedern Seite an Seite mit Huren, Strichern, Junkies, und Bürgertum bei kreativen Aktionen um würdige Bedingungen für das Leben in dieser Gesellschaft.
– Beim Lauf für mehr Zeit laufen das Altenheim traulich vereint mit dem Kindergarten während das latelounge Team des HR gezielt die Faulen anlockt.

Und dann kommen immer mal wieder angstvolle Bilder hoch, wenn ich Freunde auf der Station 68 treffe, und die Galle, wenn ich den Kitsch und die Verlogenheit in der Werbung der Pharmaindustrie sehe.

Es sind immer wieder die Bilder die im Wege stehen. Die tragische Aura, die den Blickwinkel auf Aids in seinen düsteren Anteilen verengt und Respekt vermissen lässt vor anderen Gewichtungen, die das Leben bieten kann oder auch vor anderen Schicksalen, diese tragische Aura ist ebenso falsch wie die angebliche Leichtigkeit, die nach den Erfolgen der Medizin Einzug gehalten haben soll. Glaubt man der Werbung, ist sie gepaart mit einer besonderen Empfänglichkeit für die kleinen Vergnügungen wie das Betrachten der Marienkäfer, die der Normale achtlos zertrampeln würde. Diese Suggestion in einer Anzeige, der Infizierte habe außergewöhnliche spirituelle Erfahrungen, verschleiert die richtige Tatsache, dass niemand unverändert aus einem schmerzhaften Prozess hervorgeht, der bisher fast zwanzig Jahre Teile des schwulen Lebens, denen auch ich angehöre, beherrscht hat.

Meine Haut wurde dabei dünn. Und ich lernte, wie verletzt die Haut des anderen sein kann, beileibe nicht nur wegen Aids, sondern einfach, weil das Leben seine Spuren hinterlässt.

Sie wird dabei aber auch empfänglicher für behutsame Berührungen. Nein, nein, ich propagiere jetzt nicht den Kuschelsex. Aber vielleicht lernt man, ehrlicher mit sich und seinen Wünschen und dem Partner umzugehen. Da liegen auch Chancen drin. Ich bin entschlossen sie in meiner jetzigen Beziehung mit meinem Mann Kalle zu nutzen. Mir ist nämlich in Hannover ein zweibeiniger Hund zugelaufen, der jetzt damit leben muss, dass sein Meister eine Tunte ist. Und so hat mich die Leichtigkeit des Lebens im Kleid der Liebe wieder erreicht, wenigstens als eine der Möglichkeiten des Standhaltens.

Die Kehrseite der Medaille, auch die Fragen tauchen wieder auf, wie man denn die Sexualität so lebt. Hier erlebe ich einen öffentlichen Diskurs, der an meinen Gefühlen und Erfahrungen vorbeigeht. Da wird von Verantwortung geredet aber etwas ganz anderes gemeint. Da wird so getan, als könne und müsse jede Infektion vermieden werden, als fänden die Infektionen in der Regel durch unverantwortliches Verhalten statt. Die Sexualität müsse dem Gesundheitsschutz ja wohl untergeordnet werden. Ich weise die Versuche zurück, uns infizierte Menschen als Kern des Übels zu betrachten. Das Übel liegt in einer viralen Erkrankung. Manch ein Lebensentwurf erhöht das Risiko, in ihren Bann zu geraten, und zwar unabhängig vom konkret vorhandenen Sexualkontakt.

Der Gesellschaft gegenüber nicht zu verantworten? Gesundheit spielt gemeinhin weder bei Arbeitsbedingungen noch den seelischen Kosten der Arbeitslosigkeit, oder Wahl der Sportarten eine zentrale Rolle. Wie ist es mit der Weigerung, die Null Promille Grenze auf Deutschlands Strassen einzuführen, mit herzinfarktfördernden Häufungen von Aufsichtsratsposten, falschen Reisezielen? Wer schon einmal versucht hat in einfach überschaubaren Bereichen wie des Rauchens, Trinkens und Essens sein Leben radikal zu verändern, weiß, dass es keine einfachen Wege gibt. Und er wird allemal verstehen, wie viel schwieriger ein so vielschichtiges Feld wie die Sexualität ist.

„Als wenn das beliebig wäre, was wir sexuell geworden sind! Das, worauf wir abfahren, ist die Handschrift unserer Seele. Bei jedem ist das eine ausgesprochen persönliche Sache. Nichts davon ist zufällig oder marottenhaft“, schrieb Hans Peter Hauschild. Mit dazu gehört die Erkenntnis, dass es unendlich viele Sichtweisen und Lebensentwürfe gibt. Dafür forderte er Respekt ein, auch als eine wechselseitige Verpflichtung.

Man soll doch da nichts hineinphantasieren. Natürlich ist jeder für sein Handeln verantwortlich. Verantwortung ist zwar gemeinsam zu tragen aber nicht teilbar. Da entschuldet auch nicht der mutwillige Gebrauch berauschender oder enthemmender Drogen, um diesem Gefühl zu entkommen. Der Beginn der Pirsch nach Wärme, Ekstase, Frustabfuhr, kurz nach der als Heilmittel phantasierten Sexualität ist doch wohl nicht erst im bedröhnten Zustand anzunehmen. Niemand darf unausgesprochen darauf vertrauen, der andere nehme sie fürsorglich für beide wahr, der infizierte Partner werde es schon richten. Dafür sind die Vorstellungen von den Risiken, die Bereitschaft sie einzugehen und die Bedürfnisse des Bauches zu unterschiedlich. Deshalb sollten wir nicht über Verantwortung reden, sondern über die Klarheit in den Abstimmungsprozessen.

Hans-Peter Hauschild würde uns heute zu Recht vorwerfen, wir machten in unserem Alltag einen Bogen um die großen Probleme in der Welt, die nur mit einem entschiedenen „Teilen jetzt“ gemildert werden können, wir machten einen Bogen um die Probleme hier im Land, zum Beispiel die fehlende Krankenversorgung illegal Lebender in einem von Ausbeutung und Angst vor Abschiebung geprägten Lebensgefühl. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir unser Leben leben. Auch wenn jeder seinen je eigenen Weg mit all seinen Notwendigkeiten hat.
Danke