„Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!“

Am 1. Dezember 2011 fand in der Frankfurter Paulskirche die Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2011 der Frankfurter Aidshilfe statt unter dem Motto ‚Gesundheit, lebenslänglich‘.
Als Dokumentation im Folgenden die Rede, die Carsten Schatz bei dieser Veranstaltung gehalten hat:

Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich möchte noch einige Momente zu meiner Vorstellung hinzufügen. Ich bin seit fast 20 Jahren HIV-positiv, also chronisch krank, wie eben dargestellt wurde, aber ich fühle mich gesund. Außerdem bin ich ich ein chronischer Weltverbesserer.

Als ich zu Beginn des Jahres eingeladen wurde, an der traditionsreichen Veranstaltungen der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche teilzunehmen, habe ich mich sehr gefreut und nach (auch für mich) bewegten Monaten in diesem Jahr freue ich mich hier zu Ihnen sprechen zu können.

Gesundheit, lebenslänglich! ist der heutige Abend überschrieben und spielt auf Diskurse an, die seit einigen Jahren in unserer Gesellschaft geführt werden.

Dabei wird Gesundheit im Wesentlichen als ein Zustand der Abwesenheit von Krankheit betrachtet und dem Individuum die Verantwortung zugeschrieben, für diesen Zustand so lange als möglich zu sorgen. Das geschieht ganz unterschiedlich. Appellativ: Rauchen gefährdet ihre Gesundheit! auch durch Drohungen – zumindest für mich ist es eine: Rauchen lässt ihre Haut altern! oder auch durch Verweigerung gesellschaftlicher Solidarität. So wurden bereits vor einigen Jahren Folgeerkrankungen von Tätowierungen oder Piercings aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen.

Meine These dagegen ist: Gesundheit braucht Solidarität. Lebenslänglich!

Carsten Schatz / Rede in der Paulskirche 01.12.2011
Carsten Schatz / Rede in der Paulskirche 01.12.2011 (Foto: Aids-Hilfe Frankfurt)

Die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1986 formulierte andererseits:

„Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden hin.“

Die Rede ist von

  • umfassenden körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden
  • von der Befriedigung individueller wie kollektiver Bedürfnisse
  • der Wahrnehmung und Verwirklichung von individuellen und kollektiven Wünschen und Hoffnungen,
  • vom Meistern der Umwelt – auch im Sinne von Veränderbarkeit
  • von Gesundheit als einem positiven Konzept in der Einheit von individuellen und sozialen Ressourcen
  • und von Gesundheit als einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe mit dem Ziel des umfassenden Wohlbefindens.

In der deutschen Gesundheitspolitik und ihren Debatten fühle ich mich oft, als gäbe es diese Erkenntnisse nicht.

Genau der Zusammenhang zwischen Individuellem und Kollektivem beschreibt Solidarität, erfordert sie und beschreibt ihre Grundlagen. Gemeinhin wird Solidarität als ein Zusammengehörigkeitsgefühl beschrieben oder als Miteinander auf der Basis von Gegenseitigkeit. Ich möchte einen Schritt weiter gehen. Solidarität ist für mich zunächst bedingungslos und uneigennützig. Sie erweist sich – wie alles – in der Praxis und nicht in Worten. Solidarität ist mehr als Mitgefühl. Solidarität bedingt Freiheit und kann nicht erzwungen werden. Solidarisch ist man oder frau nicht, solidarisch handelt man oder frau.

Nun wird nicht nur mir entgegengehalten, dass Solidarität ihre Grenzen habe. Ein junger Mann, der sich heute, mit dem Wissen der letzten 30 Jahre, mit HIV infiziere, der sei doch selbst Schuld, der verdiene keine Solidarität, noch weniger, wenn er sich vor dem Gang in die Sauna, den Darkroom – wohin auch immer – mit Drogen beneble. Er müsse das Risiko doch kennen.
Die Raucherin, die trotz der erschreckenden Mitteilung „Rauchen lässt ihre Haut altern“ zur Zigarette greift.
Der Autofahrer, die Bergsteigerin, Extremsportler, die Alkoholikerin, die Aufzählung ließe sich, je nach Perspektive unendlich fortsetzen…. nicht enthalten sind allerdings die workaholics, meist gut bezahlt, die sich zum frühen Herzinfarkt arbeiten.

Was steckt da eigentlich dahinter?

Neben – wie auch immer motivierten – Schulddiskursen ist es auch der Drang zur Normierung, auch ein Hauch Diktatur, aber vor allem die Idee, individuelles Wissen führe zu Verhaltensänderung und diese Verhaltensänderung zu mehr Gesundheit.

Am Rande: Dass dem leider nicht so ist, erleben HIV-Positive jeden Tag. Zahnärztinnen und Zahnärzte, die HIV-positiven die Behandlung verweigern, Radiologinnen und Radiologen, die für eine Röntgenaufnahme eines Positiven Gummihandschuhe anziehen. Beispiele dafür, dass Wissen, das ich bei Ärztinnen und Ärzten voraussetze, eben nicht zu einer Verhaltensänderung führt.

Der Grundfehler aus meiner Sicht liegt hier in der Betonung der individuellen Verhaltensänderung als Grundlage von Gesundheit.

Erinnern wir uns noch mal an die Ottawa-Charta, der Zusammenhang von Individuellem und Kollektiven.

Die Aids-Hilfen in Deutschland haben schon Anfang der 90er Jahre ein Arbeitskonzept entwickelt, das die strukturelle Prävention postuliert, den Zusammenhang von Verhaltens- und Verhältnisprävention, das Miteinander von Primärprävention, also der Verhinderung von HIV-Infektionen, die Sekundärprävention, Maßnahmen zur Verhinderung des Ausbruchs von Aids und der Tertiärprävention, Maßnahmen, um den Menschen so lange als möglich ein gutes Leben mit dem Vollbild Aids zu ermöglichen, ein Konzept das Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität verbindet und fördert.
Bernd Aretz hat dazu rückblickend formuliert:

„Gesundheit war nicht von Virenfreiheit abhängig, sondern davon, dass in der konkreten Lebenssituation ein Höchstmaß an Autonomie und Würde erhalten blieb. Dies setzte einen geänderten gesellschaftlichen Umgang und eine Förderung der individuellen Möglichkeiten voraus. Die Strukturen mussten geändert werden. Das ging von der Abschaffung des §175 zur Legalisierung der Substitution und möglichst auch des Drogengebrauchs zur rechtlichen Absicherung der Sexarbeiter/innen bis zu einem grundlegend anderen Umgang mit Migranten.“

Und in dieser Beschreibung steckt die nächste Dimension von Solidarität, einer Solidarität die in Aids-Hilfen und in der Selbsthilfe der Menschen mit HIV/Aids gewachsen ist und die wir die Solidarität der Uneinsichtigen nannten. Eine Solidarität, die uns gegenseitig stärkte und die uns half unsere Umwelt zu meistern und zu verändern.
Die Abschaffung des §175 war hier schon erwähnt, die Legalisierung von Substitution, das Prostitutionsgesetz all diese Veränderungen konnten gemeinsam erreicht werden.
Aber auch diese Solidarität muss immer neu errungen werden, fällt nicht vom Himmel. Wenn ich heute bei facebook lese, dass ein Freund von mir aus München ebendort im schwulen Distrikt von einem jungen Schwulen ob seines sichtbaren Alters angepöbelt wird, dann zeigt das, da liegt noch ne Menge Arbeit auf der Straße.

Es zeigt mir – nebenbei bemerkt – auch, dass die schwulen Communities endlich realisieren sollten, dass neben der rechtlichen Gleichstellung, die wir bis auf die Öffnung der Ehe weitgehend erreicht haben, weitere Debatten geführt werden müssen, in denen es um eine Vielfalt von Vor-Bildern auch in den schwulen Communities geht, eine Vielfalt, die den Normierungen in schwuler Szene, etwas entgegensetzt und der neuen Generation ein unbeschwerteres Leben ermöglicht.
Natürlich brauchen wir auch eine Debatte – und die haben wir – über Homophobie in der Gesellschaft, ihre Ursachen und wirksame Strategien zur Förderung sexueller Vielfalt. Beispielgebend sind hier die Bundesländer Berlin und Nordrhein-Westfalen, die Landesprogramme aufgelegt haben bzw. auflegen, übrigens unter breiter Beteiligung der Communities.

Dass es der Aids-Bewegung bis heute nicht gelungen ist, im Gegenteil zu Spanien, die Spritzenvergabe in deutschen Knästen (mit einer Ausnahme, dem Frauenknast in Berlin-Lichtenberg) durchzusetzen, schmerzt mich. Martin Dannecker nannte das auf der Präventionskonferenz der Deutschen Aids-Hilfe einen Grund sich zu empören. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Denn auch hier gilt die Achtung von Autonomie und nicht der Drang, Ideologie – der Knast wäre drogenfrei – in den Himmel zu heben. Deshalb wird es für die DAH in den nächsten Jahren ein wichtiger Schwerpunkt sein, hier deutliche Fortschritte zu erreichen.

Und – bevor die berechtigten Einwände kommen – ja, HIV/Aids hat sich verändert. Es ist zu einer chronischen Erkrankung geworden. Viele Menschen haben die Panik vor dem schnellen Tod verloren. Ich finde das nicht schlimm.

Schlimm finde ich vielmehr, dass im öffentlichen Diskurs nach wie vor auf alleinige Wissensvermittlung gesetzt wird und das andere – für mich so wichtige – Moment der Konfrontation mit Menschen mit HIV vernachlässigt wird. Ich bin froh, dass es der DAH gelungen ist, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dem Bundesministerium für Gesundheit und der Deutschen Aids-Stiftung, seit dem vergangenen Jahr eine Kampagne zum Welt-Aids-Tag zu machen, die reale Menschen mit HIV in den Mittelpunkt stellt, Konfrontation und Solidarität ermöglicht. Leider läuft diese Kampagne eben nur zum Welt-Aids-Tag und nicht das ganze Jahr über.

Denn die Angst vor Diskrimierung und Ausgrenzung ist geblieben und ist real. Wenn vor wenigen Wochen in Berlin ein junger Mann gekündigt wurde, weil er HIV-positiv ist, wohlgemerkt, es geht nicht um einen Chirurgen, der unter Umständen, wie es ein befreundeter Chirurg ausdrückte, bis zum Ellenbogen in eines Patienten Körper steckte, nein, der junge Mann war für die Qualitätskontrolle in einem Pharma-Unternehmen zuständig. Die Begründung des Gerichts, dass die Kündigung für rechtmäßig hielt, hat übrigens nicht den konkreten Arbeitsablauf und daraus erwachsende Gefahren – die es nicht gibt – benannt, sondern darauf rekurriert, dass HIV als chronische Erkrankung nicht vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgedeckt sei. Nun denn, meine Damen und Herren aus den Parteien – ich nehme das auch selbst als Mitglied einer Partei mit – , dann müssen wohl chronische Erkrankungen in diesen Katalog aufgenommen werden.

Und gegen diese Diskrimierung und Ausgrenzung müssen wir Aufstehen, wann immer sie uns begegnet. Sei es in dieser Form oder in Form von Homophobie, der Kriminalisierung des Drogengebrauchs, Sexismus oder Rassismus. Und das geht eben nicht nur an den entsprechenden Tagen, wie dem 1. Dezember, dem 8.März (Welt-Frauentag – wer es nicht weiß), dem 17. Mai (dem internationalen Tag gegen Homophobie), im Juli zum Gedenktag für die Opfer des illegalisierten Drogengebrauchs, sondern das ganze Jahr über in der Straßenbahn, im Bus, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Kneipe und im Verein.

Denn genau diese Solidarität kann – wir erinnern uns an Ottawa – dazu beitragen, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu steigern.

Und gemeinsam müssen wir den gesellschaftlichen Diskursen entgegentreten, die uns gegeneinander ausspielen wollen, die Solidarität verhindern. Die finanzielle Zukunft der deutschen Sozialversicherungssysteme wird eben nicht durch Leistungskürzungen wiederhergestellt, sondern durch Umstellung der Mechanik der Beitragsrechnung. Die wurde im Zeitalter der industriellen Massenproduktion erfunden, auf dem damals der gesellschaftliche Reichtum basierte. Der Reichtum ist noch da, er wächst sogar stärker als je zuvor, allerdings erarbeiten ihn immer weniger Menschen. Also sollte die Finanzierungsgrundlage verbreitert werden, dann sind die solidarisch finanzierten Sozialversicherung für alle auch weiter zu finanzieren. Das klingt nach Umsturz?

Übrigens: Auch diese Erkenntnis ist nicht ganz neu. Rudolf Virchow, der berühmte Berliner Arzt, der auch ein 1848-er Revolutionär war, formulierte:

„Gegen Elend und Seuche kann nur der Umsturz helfen, der zu Freiheit und Wohlstand führt.“

Herzlichen Dank!

Annäherungen – ein Frankfurter Bilderbogen

Im Folgenden als Dokumentation die Rede, die Bernd Aretz am 1. Dezember 2003 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat:

Annäherungen – ein Frankfurter Bilderbogen

Die Regenbogenfahne flatterte im Sturm unter den dahinjagenden Wolken des kommenden Gewitters. 7 ½ Minuten läutete die Stadtglocke der Paulskirche, während auf dem Römerberg Namen verlesen wurden. Das war im Februar 1990. Es war eine öffentliche Trauerfeier für unsere schwulen Freunde, vereinzelte heterosexuelle Frauen und Männer, darunter vor allem Menschen, die in der herrschenden Drogenpolitik keine Chance hatten, zu überleben.

Wir erinnerten an Flüchtlinge vor Hunger und Gewalt in ihren Heimatländern, die hier gestrandet waren. Die feine Glocke läutet nur zu wesentlichen Ereignissen im Leben unseres Gemeinwesens. Darüber muss der Rat der Stadt stellvertretend für die Bürgerschaft entscheiden. Trauer und Angst der im Bann von Aids stehenden Menschen wertete er über alle politischen Grenzen hinaus als so bedeutend, dass dem laut vernehmlich die Anteilnahme bekundet wurde.

Gar zu große Angst lähmt. Sie auszusprechen und darin im Kreise der Freunde und all der unterstützenden Menschen aufgefangen zu werden, konnte sie beherrschbar machen, die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Sprechen half dabei. Wenn es auch nicht zum Nulltarif zu kriegen war. Die Angst vor Tratscherei, Verlust der sexuellen Attraktivität, beruflichen Schwierigkeiten wog schwer. Mein Einsatz war der einer gutgehenden Anwaltskanzlei. Ich habe ihn eingebüßt, aber ich kann leben, manchmal sogar identisch mit mir.

Und wenn ich mich frage, welche Einsätze die Generation meiner Eltern oder Großeltern hätte leisten müssen, wenn sie gegen Tätowierungen und Internierungen protestiert hätte, dann kann ich nur sagen, ich bin gut davon gekommen. Mein Einsatz war nicht zu hoch. Schließlich ging es um meine Unversehrtheit.

Diejenigen, die in den Anfangstagen ihr Gesicht zeigten, waren getrieben, weil sie die Sprachlosigkeit und das Überschüttetwerden mit düsteren Bildern nicht mehr ertrugen.
Wandelnde Mörderbomben sollten wir sein, schlimm wie Pest, Cholera und die Präventionsbotschaften der katholischen Kirche zusammen. Endlich hatten die allseits kursierenden diffusen Lebensängste einen Namen. Was kümmerte Tschernobyl, das verhungernde und verdurstende Afrika, näher lag doch die Frage, ob der bundesdeutsche Durchschnittsbürger sich an grünen Meerkatzen infizieren konnte. Dies war eine beliebte Frage an den Beratungstelefonen.

Und unsere Freunde starben. Und wie klein wurde das alles auf einmal, wenn der Kollege aus Afrika trocken anmerkte: Wir wären froh, wenn wir sauberes Wasser hätten, wenn eine infizierte schwangere Frau von der öffentlichen Meinung und weiten Teilen des Gesundheitssystems zum Abbruch gedrängt wurde, eine alleinerziehende Mutter vor der Frage stand, wann sage ich es meiner fünfjährigen Tochter?

Und dann gibt es unendlich viel Bilder, die dagegen stehen,
– das erste Gespräch mit Traudel Böker auf dem Balkon der 68, sie war das erste Mal ungeschminkt mit der Farbigkeit der Lebenswelt Ihres schwerkranken schwulen Sohnes konfrontiert. Und sie nahm sie ganz selbstverständlich an. Das war einfach so.
– Rüdiger Anhalt auf den Barrikaden.
– Elfriede, die Rentnerin, kochte auf der 68 und stellte immer wieder ihren mütterlichen Busen zum Ausheulen bereit.
– Gerlinde, Wolfgang, Madleine, Astrid Kober, Bernhard Knupp und Schwester Helga, sie sind nicht alle aufzuzählen, die in schweren Momenten unspektakulär und warm Hilfe geleistet haben.
– Hans Peter Hauschild versuchte nicht nur die Lust und ihre Orte konzeptionell und politisch zu verteidigen, sondern stritt fröhlich lachend auch mit selbstverfassten Liedern Seite an Seite mit Huren, Strichern, Junkies, und Bürgertum bei kreativen Aktionen um würdige Bedingungen für das Leben in dieser Gesellschaft.
– Beim Lauf für mehr Zeit laufen das Altenheim traulich vereint mit dem Kindergarten während das latelounge Team des HR gezielt die Faulen anlockt.

Und dann kommen immer mal wieder angstvolle Bilder hoch, wenn ich Freunde auf der Station 68 treffe, und die Galle, wenn ich den Kitsch und die Verlogenheit in der Werbung der Pharmaindustrie sehe.

Es sind immer wieder die Bilder die im Wege stehen. Die tragische Aura, die den Blickwinkel auf Aids in seinen düsteren Anteilen verengt und Respekt vermissen lässt vor anderen Gewichtungen, die das Leben bieten kann oder auch vor anderen Schicksalen, diese tragische Aura ist ebenso falsch wie die angebliche Leichtigkeit, die nach den Erfolgen der Medizin Einzug gehalten haben soll. Glaubt man der Werbung, ist sie gepaart mit einer besonderen Empfänglichkeit für die kleinen Vergnügungen wie das Betrachten der Marienkäfer, die der Normale achtlos zertrampeln würde. Diese Suggestion in einer Anzeige, der Infizierte habe außergewöhnliche spirituelle Erfahrungen, verschleiert die richtige Tatsache, dass niemand unverändert aus einem schmerzhaften Prozess hervorgeht, der bisher fast zwanzig Jahre Teile des schwulen Lebens, denen auch ich angehöre, beherrscht hat.

Meine Haut wurde dabei dünn. Und ich lernte, wie verletzt die Haut des anderen sein kann, beileibe nicht nur wegen Aids, sondern einfach, weil das Leben seine Spuren hinterlässt.

Sie wird dabei aber auch empfänglicher für behutsame Berührungen. Nein, nein, ich propagiere jetzt nicht den Kuschelsex. Aber vielleicht lernt man, ehrlicher mit sich und seinen Wünschen und dem Partner umzugehen. Da liegen auch Chancen drin. Ich bin entschlossen sie in meiner jetzigen Beziehung mit meinem Mann Kalle zu nutzen. Mir ist nämlich in Hannover ein zweibeiniger Hund zugelaufen, der jetzt damit leben muss, dass sein Meister eine Tunte ist. Und so hat mich die Leichtigkeit des Lebens im Kleid der Liebe wieder erreicht, wenigstens als eine der Möglichkeiten des Standhaltens.

Die Kehrseite der Medaille, auch die Fragen tauchen wieder auf, wie man denn die Sexualität so lebt. Hier erlebe ich einen öffentlichen Diskurs, der an meinen Gefühlen und Erfahrungen vorbeigeht. Da wird von Verantwortung geredet aber etwas ganz anderes gemeint. Da wird so getan, als könne und müsse jede Infektion vermieden werden, als fänden die Infektionen in der Regel durch unverantwortliches Verhalten statt. Die Sexualität müsse dem Gesundheitsschutz ja wohl untergeordnet werden. Ich weise die Versuche zurück, uns infizierte Menschen als Kern des Übels zu betrachten. Das Übel liegt in einer viralen Erkrankung. Manch ein Lebensentwurf erhöht das Risiko, in ihren Bann zu geraten, und zwar unabhängig vom konkret vorhandenen Sexualkontakt.

Der Gesellschaft gegenüber nicht zu verantworten? Gesundheit spielt gemeinhin weder bei Arbeitsbedingungen noch den seelischen Kosten der Arbeitslosigkeit, oder Wahl der Sportarten eine zentrale Rolle. Wie ist es mit der Weigerung, die Null Promille Grenze auf Deutschlands Strassen einzuführen, mit herzinfarktfördernden Häufungen von Aufsichtsratsposten, falschen Reisezielen? Wer schon einmal versucht hat in einfach überschaubaren Bereichen wie des Rauchens, Trinkens und Essens sein Leben radikal zu verändern, weiß, dass es keine einfachen Wege gibt. Und er wird allemal verstehen, wie viel schwieriger ein so vielschichtiges Feld wie die Sexualität ist.

„Als wenn das beliebig wäre, was wir sexuell geworden sind! Das, worauf wir abfahren, ist die Handschrift unserer Seele. Bei jedem ist das eine ausgesprochen persönliche Sache. Nichts davon ist zufällig oder marottenhaft“, schrieb Hans Peter Hauschild. Mit dazu gehört die Erkenntnis, dass es unendlich viele Sichtweisen und Lebensentwürfe gibt. Dafür forderte er Respekt ein, auch als eine wechselseitige Verpflichtung.

Man soll doch da nichts hineinphantasieren. Natürlich ist jeder für sein Handeln verantwortlich. Verantwortung ist zwar gemeinsam zu tragen aber nicht teilbar. Da entschuldet auch nicht der mutwillige Gebrauch berauschender oder enthemmender Drogen, um diesem Gefühl zu entkommen. Der Beginn der Pirsch nach Wärme, Ekstase, Frustabfuhr, kurz nach der als Heilmittel phantasierten Sexualität ist doch wohl nicht erst im bedröhnten Zustand anzunehmen. Niemand darf unausgesprochen darauf vertrauen, der andere nehme sie fürsorglich für beide wahr, der infizierte Partner werde es schon richten. Dafür sind die Vorstellungen von den Risiken, die Bereitschaft sie einzugehen und die Bedürfnisse des Bauches zu unterschiedlich. Deshalb sollten wir nicht über Verantwortung reden, sondern über die Klarheit in den Abstimmungsprozessen.

Hans-Peter Hauschild würde uns heute zu Recht vorwerfen, wir machten in unserem Alltag einen Bogen um die großen Probleme in der Welt, die nur mit einem entschiedenen „Teilen jetzt“ gemildert werden können, wir machten einen Bogen um die Probleme hier im Land, zum Beispiel die fehlende Krankenversorgung illegal Lebender in einem von Ausbeutung und Angst vor Abschiebung geprägten Lebensgefühl. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir unser Leben leben. Auch wenn jeder seinen je eigenen Weg mit all seinen Notwendigkeiten hat.
Danke

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich freue mich, hier an diesem besonderen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen erläutern,
– warum ich die Gefahr sehe, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist,
– und was wir dagegen unternehmen können.
– Und warum unser Problem zentral mit dem Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe zu tun hat.

Erinnern wir uns kurz. Erste Berichte aus den USA 1981, bereits im Juli 1982 der erste Aids-Patient in Deutschland, hier in Frankfurt. „Tödliche Seuche Aids“ beschrieb der ‚Spiegel‘ 1983 das damalige Gefühl. Eine kaum greifbare Bedrohung zunächst unbekannter Ursache.

Ausgrenzung und Diskriminierung waren damals in viel größerem Umfang als heute konkret erlebbar.

Schwule Männer nahmen „die Sache“ selbst in die Hand: ab September 1983 wurden in Deutschland Aidshilfen gegründet, auch – vor 25 Jahren – hier in Frankfurt.

Das Erleben des massenhaften Erkrankens, Sterbens von Freunden, Weggefährten hat auch mich Ende der 80er Jahre vom Schwulenbewegten zum Aids-Aktivisten gemacht.

Aidshilfe entwickelte sich in Dialog und Auseinandersetzung mit Selbsthilfe. Die Bundesweiten Positiventreffen entstanden 1986, gerade weil Positive sich nicht in Aidshilfe wiederfanden.

Festzuhalten bleibt:
– Selbsthilfe war eine Notwendigkeit.
– Sie begann als Gegenwehr – weil sich sonst niemand kümmerte.
– Selbsthilfe und die Auseinandersetzung mit ihr waren konstitutiv für Aidshilfe

Von Beginn an hatte Aidshilfe allerdings mehr Aufgaben als die Unterstützung von Selbsthilfe, wurde bezahlt vor allem für Primärprävention.
Selbsthilfe hingegen hat einen engeren Fokus: Menschen mit HIV und ihre Interessen. Sie umfasste von Beginn an gegenseitige Unterstützung und aktive Interessen-Selbstvertretung – und fand bald zu überregionaler Zusammenarbeit und politischer Selbstorganisation.

Im September 1990 trafen sich hier in Frankfurt 250 HIV-Positive unter dem Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ zur ersten „Bundes-Positiven-Versammlung“. Ihr Grundgedanke:

„So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden …“

Hier werden die Kern-Anliegen damaliger Positiven-Selbsthilfe sichtbar:
– wir wollen selbst bestimmen,
– wir wollen mit entscheiden,
– und wir sind solidarisch.

Einen deutlichen Ausdruck fanden dieses Anliegen in den ACT UP Gruppen. Sie entstanden Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland, auch hier in Frankfurt. Angst sowie Wut über Ignoranz waren Motoren dieser aktivistischen Selbsthilfe HIV-Positiver.

Lasse ich diese Erinnerungen an eine Vergangenheit, die gerade einmal zwanzig Jahre her ist, heute Revue passieren, staune ich – war die Zeit damals so anders?
Ja, sie war es.

Die Angst von damals ist nicht mehr – „der Druck ist raus“.
Von Zorn, von Wut weit und breit keine Spur.
Im Gegenteil, die Lage scheint „entspannt“ – Gegenwehr nicht mehr erforderlich.

Eine Frage kommt mir in den Sinn: Wollen HIV-Positive heute überhaupt – wie 1990 hier in Frankfurt formuliert – auch heute noch ihr Leben als Positive selbst bestimmen, über die Gestaltung sie betreffender politischer Rahmenbedingungen mit entscheiden? Und solidarisch?

Das Kern-Anliegen positiver Selbsthilfe – selbst bestimmen, mit entscheiden, Solidarität – trägt es auch heute noch?

Etwas hat sich, meine Damen und Herren, entscheidend verändert.
Etwas, dem wir längst den problematischen Namen ‚Normalisierung‘ gegeben haben.

‚Normalisierung‘ – dieser Begriff umschreibt, wie viele Positive ihre heutige Lebensrealität erleben, in der grundlegende Bedürfnisse meist befriedigend gedeckt sind. Für manche Positive am Rand der Gesellschaft gilt allerdings selbst dies nicht, z.B. Illegalisierte, Menschen in Haft oder psychisch Kranke.

HIV und Aids haben viele Jahre eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erhalten, hohen Einsatz von Ressourcen, großes mediales Interesse. Je „normaler“ HIV wird, desto deutlicher wird dieses außerordentliche Interesse zurück gehen – mit weitreichenden Folgen, auch für Selbsthilfe. Die Zeit des „Aids-Exzeptionalismus“ geht ihrem Ende entgegen. Die HIV-Infektion verliert zunehmend ihren Sonderstatus.

‚Normalisierung‘ bringt Banalisierung mit sich.

Bei aller vermeintlichen ‚Normalisierung‘, eines wird sich nicht ändern.
Noch immer scheut sich die Mehrzahl der Positiven, offen mit ihrem Serostatus umzugehen. Wie reagiert der Typ, der mir gefällt, wenn ich ihm sage, ich bin positiv? Was würde mein Arbeitgeber machen? Und behandelt mich mein Zahnarzt dann noch?
Tabuisierung, Diskriminierung haben sich grundlegend nicht verändert.

Die Stigmatisierung bleibt bestehen.

‚Normalisierung‘ und Banalisierung bei einer weiterhin bestehenden Stigmatisierung können eine zusätzliche Konsequenz für HIV-Positive haben:
Wenn HIV nichts ‚Besonderes‘ mehr ist, sind es vielleicht bald auch Positive nicht mehr. Wenn allerdings das Stigma Aids weiter besteht, und mit ihm Stigmatisierung und Diskriminierung – dann liegt der Gedanke nahe, dass aus dem Sonderstatus schnell die Rand-Position, die des Weggedrängten werden kann.

‚Normalisierung‘ kann zur Marginalisierung führen.

Banalisierung – Stigmatisierung – Marginalisierung, eine Lage, die nach Selbsthilfe förmlich zu schreien scheint. In welchem Zustand also sind Selbsthilfe und Selbstorganisation von Menschen mit HIV heute?

Vor einigen Wochen entdeckte ich beim Bummeln durch meinen Berliner Kiez diese Postkarte: ein staunend dreinblickendes Kind denkt:

Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber auch darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn schließlich: Die können sollen,
müssen auch wollen dürfen.

Diese Worte erinnerten mich an die Situation von Selbsthilfe.
Ich hatte zu Beginn meiner Rede die Befürchtung geäußert, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist. Darauf möchte ich nun zurück kommen und aufzeigen, warum ich diese Gefahr sehe.

Sicher, aus Aidshilfe-Kreisen sind gelegentlich Sätze zu hören wie „Selbsthilfe ist unsere tragende Säule“. Aber wie viel Wunsch-Denken und political correctness sind hier im Spiel? Die gelebte Realität scheint mir anders auszusehen.

Ja, auch heute gibt es funktionierende Selbsthilfe. Aber …

Selbsthilfe regt sich, oftmals fernab von Aidshilfe, zum Beispiel in Internet-Foren, in virtuellen Netzwerken, aber auch in privaten Gruppen. Diese ‚private‘ Selbsthilfe widmet sich meist gegenseitiger Unterstützung. Selten findet sie zur Artikulation eigener Interessen, noch seltener zu politischer Interessen-Vertretung.

Und es gibt überregionale Selbsthilfegruppen, teils sogar institutionell in Strukturen wie Aidshilfe eingebunden. Wie sieht es hier aus?

– Da gibt es Gruppierungen mit hochtrabenden Namen, die kaum ein einziges HIV-positives Mitglied zu haben scheinen – wohl aber Sozialarbeiter und andere nur von, aber nicht mit HIV Lebende.
– Es gibt Gruppen mit bundesweitem Anspruch, die kaum genügend aktive Mitglieder aufweisen, um ihre Treffen zu füllen.
– Oder Gruppen, die nur noch ihrem Namen nach existieren.
– Und es gibt Organisationen, die gute Arbeit leisten – jedoch nur in ihrer Region, zu ihrem Themengebiet, zu Lasten vieler anderer Themen, die liegen bleiben.

Zu sagen, es gebe heute keine funktionierende Selbsthilfe mehr (wie gelegentlich zu hören ist), geht an der Realität vorbei. Es gibt stellenweise eine aktive regionale oder themenspezifische Basis.

Auf überregionaler Ebene jedoch sieht es düsterer aus:

– Wir haben Selbsthilfe-Gruppen, die wir nicht brauchen.
– Wir haben Gruppen, die scheinbar keine Selbsthilfe sind – oder nur noch dem Namen nach.
– Und wir haben Gruppen, die auf ihrem begrenzten Gebiet einen halbwegs guten Job machen.

Aber wir haben nicht, was wir brauchen:
eine engagierte, mutige, bundesweite Positiven-Selbstorganisation und -Interessenvertretung.

An diesem Zustand sind wir Positive selbst mit schuld: wir verschwenden unsere Energien. Wir tun, was wir nicht brauchen – und wir tun nicht, was wir brauchen.

Bemerkenswert ist: trotz dieses beklagenswerten Zustands – das Märchen einer vitalen Positiven-Selbsthilfe wird weiter aufrecht erhalten. Eine Situation, die an die ‚potemkinschen Dörfer‘ erinnert. Die Behauptung, es gäbe vitale Selbsthilfe, steht im Raum – aber real ist da viel heiße Luft, nur vor sich her getragener Anspruch!

Diese Situation ist, wie ich zu Beginn bereits angedeutet habe, meiner Ansicht nach im Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe begründet.

Selbsthilfe verleiht Legitimation. Legitimation der ‚Basis‘, der ‚Betroffenen‘. Selbsthilfe hilft, den eigenen Mythos aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel den Mythos einer von unten, von den Lebenssituationen und Bedürfnissen der Betroffenen getragenen Organisation.
Das Aufrechterhalten der Illusion einer lebendigen Selbsthilfe dient wohl auch einer Organisation, die selbst einen großen Teil ihrer Legitimation daraus bezieht: der Aidshilfe. Für Aidshilfen ist es attraktiv, das Bild aufrecht zu erhalten, sie seien Organisationen mit umfangreicher Beteiligung HIV-Positiver, mit florierender Selbsthilfe.

Das Problem dabei: dieses ‚potemkinsche Dorf‘ vergeudet Ressourcen, zum Aufrechterhalten überholter Strukturen. Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, besser eingesetzt werden sollten, um realen Freiraum für Selbst-Interessenvertretung zu ermöglichen.

So dämmert Selbsthilfe vor sich hin, in manchmal liebevoller, manchmal berechnend-kühler Umarmung der Aidshilfen – die so das Siechtum der Selbsthilfe fördern und bestärken.

Hält Aidshilfe den Mythos Selbsthilfe aufrecht – um dessen positiven Effekte für sich zu nutzen?
Wir befinden uns mitten in der Partizipationsfalle!
Genau hier liegt ein Kern des Problems von Selbst-Interessenvertretung!

Dabei zeigt ein kurzer Blick über den deutschen Gartenzaun, dass Selbstorganisation heute attraktiv und wirksam sein kann – und das im Dialog mit Aidshilfe, kritisch und konstruktiv:
– Gruppen wie „The Warning“ in Frankreich vertreten positive Interessen wahrnehmbar, auch in Dissens zu Gruppen wie Aides.
– Die holländische Gruppe „poz & proud“ trägt HIV-positives Selbstbewusstsein nicht nur im Namen, sondern lässt es auch durch Aktionen, Publikationen und Veranstaltungen erlebbar werden.
– Die Schweizer Gruppe „LHIVE“ (deren Präsidentin Michèle Meyer hier letztes Jahr gesprochen hat) ist sehr erfolgreich auch politisch aktiv, war z.B. am Entstehen des EKAF-Statements beteiligt.

Und Deutschland?
Wir verlassen uns darauf, dass Aidshilfe stellvertretend die Interessen von Menschen mit HIV vertritt.

Dabei sollten wir aus eigener Erfahrung wissen, wie riskant dieses Verlassen auf Stellvertreter ist. Es spekuliert auf unveränderte Rahmenbedingungen. Es unterstellt, dass Stellvertreter willens und kompetent sind, unsere Interessen zu vertreten. Es wird spätestens bei konträren Interessenlagen problematisch .
Eine sichere Bank ist dieses Verlassen auf Stellvertreter nicht.

Aidshilfe ist immer maximal der zweitbeste Vertreter der Interessen von HIV-Positiven. Der beste sind – wir selbst!

Wir haben an diesem Punkt zwei Möglichkeiten:

Wir machen weiter wie bisher. Meine Prognose: in zwei bis drei Jahren gibt es dann überregionale Positiven-Interessenvertretung überhaupt nicht mehr, mangels Masse. Positive Interessen werden ausschließlich stellvertretend durch Aidshilfe wahrgenommen. Selbsthilfe ist dann am Ende.

Kann das unser Weg sein? Ich denke nein.
Ein „weiter so“ kann nicht in unserem Interesse sein.

Können wir Positive es uns überhaupt erlauben, weiterhin ohne starke Selbst-Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, dass Debatten um Normalisierung, Banalisierung und Marginalisierung geführt werden – über uns, vielleicht gegen uns, in jedem Fall aber ohne uns?

Wollen wir uns weiter auf das gemachte Nest aus Schwerbehindertenausweisen, bezahlten Positiventreffen etc. verlassen? Und falls es – ob durch Normalisierung oder Spar-Debatten – in Gefahr gerät, können wir es uns leisten, dann ohne eigene Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, wir Menschen mit HIV und Aids, uns bei der Formulierung, bei der politischen Vertretung unserer ureigensten Interessen weiterhin stellvertretend auf Aidshilfe verlassen? Reicht das?

Wollen wir weiter Bilder von ‚verantwortungslosen Positiven‘, von ‚Biowaffen‘ und ‚Todesengeln‘ unwidersprochen hinnehmen? Wollen wir die Herstellung der Bilder, die sich die Gesellschaft vom Leben HIV-Positiver, von uns macht, wirklich ausschließlich anderen überlassen – während Positive weiter brav den Mund halten?

Wollen wir anstehende Debatten um Mittelkürzungen, um Medikalisierung der Prävention, Debatten mit einem hohen Potential zusätzlicher Diskriminierung, ausschließlich anderen, Politikern, der Pharmaindustrie überlassen – über unsere Köpfe hinweg, ohne eine eigene starke Stimme?

Können wir das wirklich wollen? In unserem ureigensten persönlichen Interesse?

Ich denke nein.

Die Schlussfolgerung ist für mich klar:

Wir haben heute eine leistungsfähige Aidshilfe – und das ist gut!

Was wir jetzt brauchen, ist eine
organisierte Selbsthilfe und Selbst-Interessenvertretung
neben der Aidshilfe, kritisch und solidarisch –
aber unabhängig.

Ich danke Ihnen.

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Der Text entspricht bis auf geringe Änderungen der Rede, die ich unter dem Titel „Grenzen der Selbsthilfe – Begrenzte Selbsthilfe?“ am 1. Dezember 2010 anlässlich der Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2010 der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche gehalten habe.

Die ‚Paulskirchen-Veranstaltung‘ der Frankfurter Aids-Hilfe ist seit vielen Jahren eine der eher wenigen Gelegenheiten, zu denen Aidshilfe Diskurs (auch kritischen Diskurs) sucht und bietet – danke, wir bräuchten mehr davon!

Ich wünsche mir eine angeregte, gern auch kontroverse Debatte zu dem Thema ‚Zukunft der Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV‘. Schließlich, es geht darum, wie wir unsere eigenen Interessen zukünftig vertreten wissen wollen.
Also – ran an die Kommentare 🙂

Für Anregungen und Hinweise danke ich Andreas, Manfred, Matthias Michèle, Stefan, Wolfgang – und besonders Frank für Geduld und Unterstützung !

Der Original-Text der Rede steht auch als pdf im Bereich „Downloads“ zur Verfügung.

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siehe auch:
diego62 02.12.2010: Nachlese zum Welt-Aids-Tag
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1.12.2010: Grenzverläufe – Grenzen der Selbsthilfe

Termin-Ankündigung: Am Welt-AIDS-Tag findet um 18.00 Uhr in der Paulskirche Frankfurt die zentrale Veranstaltung der AIDS-Hilfe Frankfurt statt.

Die Welt-Aidstags-Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche hat im Jahr ihres 25-jährigen Bestehens das Motto „Grenzverläufe“.

„Die vier prominenten Redner wenden sich den möglichen zukünftigen Grenzverläufen in Sachen HIV und AIDS zu. Stefan Grüttner, der neue hessische Sozial- und Gesundheitsminister, spricht ebenso wie DFB-Präsident Theo Zwanziger („Tabu Homosexualität im Fußball“). Ulli Würdemann, AIDS-Aktivist der ersten Stunde, umreißt die Grenzen der Selbsthilfe, der Vorsitzende der Deutschen Aidsgesellschaft, Jürgen Rockstroh, die in der Medizin. Vorstandsmitglied Christian Setzepfandt wird die 25-jährige Entwicklung der AIDS-Hilfe Revue passieren lassen. Für die Musik sorgen FraGILe, kaemmie und Tobias Rüger“ (Frankfurter Aids-Hilfe)

Grenzverläufe - Welt-Aids-Tags-Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe am 1.12.2010 in der Frankfurter Paulskirche

siehe hier

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Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat

„Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat“ – unter diesem Titel hielt Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Organisation von Menschen mit HIV und Aids in der Schweiz, am 1. Dezember eine Rede auf der  zentralen Welt-Aids-Tags – Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulkskirche. Die Veranstaltung fand dieses Jahr statt unter dem Motto „Die Würde ist angetastet“.
Im Folgenden die Rede von Michèle Meyer als Dokumentation:

Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat.

Die Würde des Menschen ist angetastet.
Wochenlang bin mit dem Titel dieser Veranstaltung schwanger gegangen. Was ist Würde? Wie fühlt sie sich an? Wo ist sie? Wer hat das Wort  erfunden und warum tu ich mich so schwer damit?
Über die Aufklärung führte mein Weg ins alte Rom zu Cicero.
Ich kann nicht viel anfangen mit bedingungsloser Menschenwürde, die doch dauernd mit Füssen getreten wird. Auch wenn sie in den Menschenrechten und in der Verfassung hochgehalten wird, stolpere ich immer wieder über die Lässigkeit mit der sie mir und uns abgesprochen wird.
Ich bin überzeugt, dass wir heute viel näher an Ciceros Würdebegriffen leben, als wir uns eingestehen.
Würde bekommt man und Würde wird einem genommen. Das heisst: ich muss sie mir verdienen und ich muss etwas tun, um sie nicht zu verlieren. Nur: ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht, denn ich bin nicht im Besitz von Würde, sie wird mir nur verliehen und einfordern ist tabu.

Seit ein gewisser Sigmund Ehrmann, SPD Abgeordneter und unter anderem  Mitglied der Kreissynode des evangelischen Kirchenkreises Moers, mich  resp. uns Menschen mit HIV/ AIDS als Biowaffe bezeichnet hat, bin ich gar nicht mehr sicher, dass das alles in meiner Hand liegt.
Welche Würde hat eigentlich eine Biowaffe?

Ich bin also eine Biowaffe. Vielleicht stimmt es ja und ich tue auch bloss so als wäre ich Mensch. Immerhin kommt der Verdacht öfters auf nicht mehr ganz Mensch zu sein. Sondern bloss HIV-positiv. Reduziert darauf ein Virenträger zu sein. Oder wieder mit Cicero: der Gesellschaft  nicht dienlich genug zu sein, um überhaupt Würde zu verdienen.
Heute  stellt Gesundheit ein mechanisches Problem dar und Funktion  ist das Ziel, nicht Würde.

„Wie haben sie sich angesteckt“ fragt die Schulleiterin und in ihrem Tonfall lauert vulgäre Neugier und die Lust mich zu entwerten. Sag ich jetzt: „Ich hatte Sex, mehr als genug und ich hab’s genossen.“ wird sie vielleicht erröten, sich jedoch bestätigt fühlen: „Die Frau ist ein Flittchen, wusst’ ich’s doch!“. Sag ich: “Mein erster Mann ist an den Folgen von AIDS verstorben“, dann stockt ihr wohl kurz der Atem und sie müsste schon sehr dreist sein, um weiterzufragen. Das wäre dann unter ihrer Würde. Wahrscheinlich.

Welchen Platz in der Gesellschaft haben wir denn, in Zeiten in denen Recht auf Gesundheit in aller Munde ist, aber Recht auf Krankheit als Polemik abgetan wird?
Wenn Verantwortung, die Schuldfrage meint, glaube ich nicht an Würde.. New Public Health ist das Ziel. Und ich bin ein Corpus delicti. *
Und kriminell. Noch immer mache ich mich strafbar, für etwas was de facto nicht möglich ist.

Ein Exempel statuieren. Immer wieder. Nadja Benaissa kam da gerade recht, krank sein und dann auch noch erfolgreich sein wollen? Ein gefallener Engel fällt tiefer. Amt und Würden. Wo denn? Eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, nichts anderes, sei sie… schmutzig, schuldig, verrucht.
Andere mit Schmutz zu bewerfen und zu entwürdigen, damit sind wir manchmal verdammt schnell.

Wer Schuld und Scheitern verkörpert, hat in unserer Gesellschaft längst ausgespielt. Und alle spielen mit. Auch ich. Auch ich habe Moral und Werte verinnerlicht wie alle anderen. Und Selbstentwertung macht mich dann doch wieder interessant. Zumindest als Klientin von Sozialarbeitern, Psychologen und Fürsorgern. Eine ganz Maschinerie lebt gut davon!
Ich könnte mich fügen und eventuell doch noch so was wie Würde erlangen, zumindest Mitleid und Möglichkeiten der Rehabilitation. Eigentlich ist es ganz einfach:
„Gib dein Gesicht für Prävention, als abschreckendes Beispiel, opfere dich selbst und du hast wieder einen Platz mit etwas Würde unter uns Menschen. Hilf der Gesellschaft, schütze sie vor dir und Deinesgleichen“; „ Verstecke dich, aber zeige dein Stigma, das fördert die Spendengelder“… und als Zückerchen gibt’s das volle Programm: Sonderstellung und x- Möglichkeiten sie für mich zu nutzen, Sekundärer Krankheitsgewinn, zum Beispiel jede Menge Mitleid.
Ich kann verzichten auf diese Ersatzwürde. Sie ist an Konditionen gebunden, die mir nicht schmecken. Ich muss mich nämlich reduzieren lassen, verschämt, reuig, unauffällig und vorbildlich der Gesellschaft zu dienen, die mir die Würde trotzdem abspricht. Die an Bilder festhält, die längst überholt sind, falls sie je gegolten haben. Die Sündenböcke braucht um sich Selbst zu rechtfertigen in ihrem Zwang nach Normierung, ihrer Verkrüppelung zur funktionierenden Maschine, die Geld, Erfolg und Unsterblichkeit ausspuckt.

Und solange ich  – in der Schweiz- selbst in der Aids-Arbeit nicht gewürdigt werde, kann ich auch verzichten auf Kommissionssitzungen, Subventionen und meine Stellung als Quoten-Positive. Ich gehöre ja nicht mal einer Hochprävalenz-Gruppe an, wen will ich denn vertreten, heisst es immer wieder.

Zudem: „Wer nicht Kondome und Therapietreue predigt, hat nichts zu sagen.“ Was mir natürlich schwerfällt und wohl auch nicht im Sinne des Erfinders von Selbsthilfe wäre… aber wen interessiert Freiheit und Würde des Einzelnen, wenn Machbarkeit nach Gleichschritt verlangt?

Ganz anders schwer drückt manchmal die Würde, wenn nach wiederholter Medienpräsenz, das Telefon klingelt. Wenn Menschen mit HIV und AIDS sich darüber beklagen, dass ich zu gesund aussehe, dass ich zu wenig das Leiden betone und selbstbewusst Forderungen stelle; Wenn mir meine Integration vorgeworfen wird.
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Die Würde des Menschen ist angetastet.

Wie komme ich eigentlich dazu, trotzdem an Würde festzuhalten?
Habe ich  eine die mir gehört und wenn ja, wie viel Fremdbewertung erträgt  sie, meine eigene Würde? Wie viel Demütigung und Reduktion? Kann ich sie behüten, vor Diebstahl sichern und kann ich sie davon abhalten, sich Selbst zu vergessen?  Wie kann ich sie wahren, wenn ein gelber Punkt die Türe zu meinem Spitalzimmer ziert und vom Chefarzt bis zur Zugehfrau alle vorgewarnt sind. Wie, wenn ich kurz nach der Geburt meiner Tochter, die Sozialarbeiterin am Wochenbett stehen habe, die unauffällig meine Mutterqualitäten zu prüfen versucht? Wie, wenn ich von meinen Nächsten zielsicher und zutiefst verletzt werde, fremdgeoutet und ohne recht auf Abgrenzung. Wenn alle Konflikte dahin gelenkt werden, dass ich HIV-positiv bin. Da sind die Andern fein raus und ich stehe am Pranger. Würdelos.
Wie kann ich die Würde leben lassen, wenn ich selbst denke mein Mann sei deshalb etwas besonderes, weil er sich mit einer Positiven eingelassen hat?

Nur: was wissen die Andern denn von meiner Würde? Und was weiss ich selbst? Woher kommt diese Zielsicherheit, diese Überzeugung, ich hätte sie selber verspielt? Durch kondomlosen Sex?  Oder eher durch das Ver-fehlen.
Dieses ausserhalb-sein, diese Entwürdigung  ermöglicht Narrenfreiheit, manchmal. Was hat Abschaum noch zu verlieren?
Ich brauche mich auch nicht mehr zu tarnen oder so zu tun als gehöre ich wieder zu den Guten, den Reuigen.
Was mich rettet ist Widerstand. Widerstand gegen Fremdbewertung, übergestülpte Hilfe und Kontrolle bis ins Schlafzimmer.

Ich muss stinkfrech den Bildern trotzen, manchmal leise, manchmal laut.
Die passenden Schubladen gibt’s nicht: ich bin integriert, ich bin aussortiert, ich habe keine Würde, ich nehm sie mir.

Dieses Borstige, Widerspenstige rettet mich. Und frei nach dem Lehrbuch gibt’s Empowerment nie ohne Eigenwilligkeit. Wem sag ich das?
Und darum bin ich gefährlich, Ich verführe dazu Fehler zu machen.
Manche behaupten, ganz im Schutz der Meinungsfreiheit, ich sei ein Massenmörder. Irre, hinterhältig und brandgefährlich. Ganze Völker könnten mir folgen.

Dieses inszenierte Entwerten tut weh, macht wütend, aber viel treffender und schmerzlicher ist die Ohnmacht, das Gefühl eine Gesetzlose zu sein und der Schmerz nicht genug bewegen zu können, obwohl die Welt in meinem Kopf Würde verlangt **
( unter uns: mutig war diese Kampagne von Regenbogen e.v. nicht. Weltbank ( dieser Gedanke gehört dem Dirk) , Politiker, Profit&Geiz, Ignoranz sind Massenmörder…
Oder: welche Menschenwürde meinen wir, wenn wir nicht teilen was wir haben? Wieviel sind denn Menschen in Afrika, Asien und Osteuropa wert?
Wieviel Würde ist noch spürbar und wieviel Scham, wenn mir die Pillen im Hals stecken bleiben, angesichts meiner Brüder und Schwestern weltweit…da macht Compliance Spass.

Und allem Unsichtbar raten auf den Aids-Hilfen zum Trotz: ich steh dazu, ich bin ich und meinen HIV-Status gibt’s nicht gesondert davon.  Mir muss nicht geholfen werden zum Preis der Fremdbestimmung.
Auch wenn es anstrengend ist, sichtbar, fassbar zu sein; aber wer sagt denn das Anpassen nicht anstrengend wäre.
Dauernde Selbstentwertung macht krank, alt und an Lebensqualität bleibt da nicht mehr viel übrig. Von Würde ganz zu schweigen.

Manchmal überrascht mich das Leben. Zum Beispiel im Dorf wo ich lebe, dort hat Zivilcourage einen hohen Stellenwert und ich habe unverhofft wieder Würde.
Vor wenigen Tagen kam eine Nachbarin auf mich zu. Meine Töchter waren mit anderen Kindern bei ihr zum Essen und spielen eingeladen gewesen. Sie berichtete mir lachend, dass Sofia, die ältere der beiden, bei der Gelegenheit Aufklärungsarbeit geleistet hätte. Sie lachte herzlich zwischen den Sätzen und erzählte wortgetreu, was meine Tochter zu sagen wusste:“ „Mama ist oft im Fernsehen, weil sie ein Virus hat. Aber sie schämt sich nicht, nicht so wie andere, darum wird sie gefilmt. Und wisst Ihr wie man das Virus bekommen kann? Beim „Schätzele“, aber mein papa kann sich nicht anstecken, Mamas nimmt Medikamente.“
Die Selbstverständlichkeit dieser Rückmeldung hat mich sehr berührt.

Nein, ich schäme mich nicht und draussen in der Welt, kann ich notfalls den einen Trick immer anwenden: ich ziehe mir meine Clownnase an, immer dann wenn sich die innere Würde zu vergessen droht, wenn sie meint der anderen, längst verlorenen oder nie erreichten Würde nachrennen zu müssen.
Nicht zufällig habe ich nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, wieder auf den Arbeitsmarkt zu kommen, mich entschieden Clown zu werden.

Der Clown lebt vom Spiel mit den Tücken, er verkörpert die Kunst des Scheiterns und ist zutiefst menschlich: er macht Fehler. Und Fehler. Er  spielt und kümmert sich nicht um Normierungen. Er hält dem Mensch den Spiegel hin und wird dafür liebevoll mit Applaus und einem ehrlichen Lachen gewürdigt.
Dann schlage ich selbst dem alten Römer Cicero einen Haken… und lächle in mich hinein – in Würde.

Und gemeinsam können wir was bewegen, wenn JedeR einzelne für seine Würde aufsteht.
Michèle Meyer 1.12.2009

*das Buch gehört Julie Zeh
** der Satz gehört Barbara Starret
*** der Gedanke gehört Dirk

Die Würde ist angetastst (Plakat der Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2009)
Die Würde ist angetastet (Plakat der Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2009)

Dank an Michèle und Michael (AH Frankfurt) für den Genehmigung !

Dokumentation: Bareback-Diskurs und Strafrechts-Debatte

Etwas verspätet im Folgenden als Dokument eine Rede Ortwin Passons (whk) anlässlich des Welt-Aids-Tags 2007 zum Themenbereich Barebacking und Strafrecht:

In der Tradition Wilhelm Leuschners – Die HIV-Hauptbetroffenen- gruppe homo- und bisexueller Männer zwischen Bareback-Diskurs und Feindstrafrechts-Debatte in Deutschland

Paulskirchen-Rede zum Welt-Aids-Tag 2007, von Ortwin Passon aus Frankfurt am Main, Mitglied beim wissenschaftlich-humanitären komitee [whk], Regionalgruppe Hessen

Teure Elite, liebe Barebacker,

bitte bewahren Sie Ruhe! – Keine Angst, eine Bombendrohung liegt nicht vor. „Bitte bewahren Sie Ruhe“ lautet der Titel eines von Thomas Uwer herausgegeben Werkes, in dem sich verschiedene Autoren mit dem Dasein im Feindrechtsstaat befassen. Aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen wird darin den Folgen des „Krieges gegen Terror“, der deutschen Tradition des Feindbegriffes und seinen Wurzeln bei Carl Schmitt nachgegangen sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen unter einem repressiven Liberalismus, Kants „Ewigem Frieden“ oder dem Feindbegriff in islamisch geprägten Rechtsordnungen. Ebenso werden die Mechanismen der sozialen und juristischen Konstruktion von – fremden – Feinden und die Rolle des Bürgers beleuchtet, der bereits morgen von seinen Mitbürgern als Feind betrachtet werden kann. Das Buch entstand aus Anlaß des 29. Strafverteidigertages, auf dem Professor Günther Jakobs 2005 seine Thesen zum „Feindstrafrecht“ zur Diskussion stellte.

Jakobs definiert den Begriff „Feindstrafrecht“ durch vier Merkmale: erstens durch die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit und Verlagerung des Schwerpunkts von der begangenen auf eine noch zu begehende Tat; zweitens durch das Fehlen einer der Vorverlagerung entsprechenden Minderung des Strafmaßes; drittens durch den Übergang von der Straf- zur Bekämpfungsgesetzgebung; und viertens den Abbau prozessualer Garantien. Beispiele hierfür sind etwa Strafrechtsänderungen zur Bekämpfung von Drogenhandel, organisierter Kriminalität, Terrorismus und – Sexualdelikten.

Ich bin gern einer Anregung des emeritierten Professors Rüdiger Lautmann gefolgt, meine Reflexionen zu dem in Deutschland seit 1998 kontrovers geführten Bareback-Diskurs in den Kontext dieser parallel geführten Feindstrafrechts-Debatte zu stellen. Solcherart „Sattellos durch den Feindrechtsstaat“ reitend mußte ich 2006 resümieren: Der bevorstehende Welt-AIDS-Tag läßt befürchten, daß eine weitere Verschärfung und Verunsachlichung des Bareback-Diskurses herbeigeführt wird – mit weitreichenden Folgen nicht nur für Barebacker und HIV-Positive. Wenn die Profiteure des AIDS-Bizz in diesem Diskurs den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht endgültig verlassen wollen, indem sie sich zu Steigbügelhaltern der Verfechter eines „Feindstrafrechts“ gegen Barebacker machen, müssen sie das Grundgesetz und seine Freiheiten auch für jene Menschen einfordern und verteidigen, die sich aufgrund ihrer Lebensrealität für den bewußten, einvernehmlichen, risikoreichen Körperflüssigkeitsaustausch entschieden haben und deshalb keinesfalls weniger „wertvolle“ Teile dieses Gemeinwesens sind. Andernfalls laufen sie Gefahr, sich fragen lassen zu müssen, ob und inwieweit sie selbst denn überhaupt noch jene soziale Verantwortung beweisen, die sie Teilen ihrer Klientel einseitig aufzubürden trachten.

Ich möge doch, baten mich die heutigen Veranstalter, den „längst überfälligen Schritt“ wagen, und mich hier „mit den dubiosen Zielvorgaben des Feindstrafrechts, konkret … des unmenschlichen Ausschlusses von Menschen und ganzen Bevölkerungsgruppen aus der Gesellschaft mit Mitteln des Rechts kritisch auseinander(zu)setzen und schleunigst eindeutig schützende Positionen auch zugunsten von Barebackern … beziehen.“ – Allerdings, so ihre E-Mail vom 24. September, sei ihnen eben „besonders an der angesprochenen kritischen Auseinandersetzung und der abgeleiteten schützenden Position zugunsten von Menschen mit HIV gelegen.“

Der letzten Bitte kann ich so nicht folgen. Opportunismus und Spaltung sollen nicht meine Signale aus Frankfurt sein. Denn es geht längst nicht mehr darum, privilegierende Vergünstigungen auf Kosten einer noch randständigeren Gruppe einzufordern, sondern um die Verteidigung wohl begründeter Ansprüche. Ansprüche auf Achtung der Eigenverantwortlichkeit, auf Respekt vor der individuellen Lebenssituation und jenseits aller Verschiedenheit auf gleichwertige Teilhabe und Handlungsfreiheit. Diese stehen jedem Bürger uneingeschränkt zu, egal ob es sich um Heterosexuelle oder Homosexuelle, um HIV-Infiziere oder Barebacker handelt. Folgerichtig kann es nicht nur um die Ableitung einer schützenden Position ausschließlich zugunsten von Menschen mit HIV und AIDS gehen. Sondern es muß um den Schutz der Grundrechte von Männern gehen, die Sex mit Männern haben – und zwar unabhängig von ihrem Serostatus und gerade auch bei Hinzutreten „strafverschärfender“ Merkmale wie Barebacking. Anders ausgedrückt: Es kann niemand verantworten, das Liebevolle am Würgegriff der politikbestimmenden Kaste gegenüber Homosexuellen erhalten zu wollen, wenn HIV-Positive zum Abschuß freigegeben werden. Umgekehrt kann ich es nicht verantworten, zugunsten HIV-Infizierter nunmehr Barebacker abschießen zu lassen.

Insoweit sehe ich mich als Hesse in der Tradition des ehemaligen Innenministers dieses Landes, Wilhelm Leuschner, der am 29. September 1944 in Berlin-Plötzensee erhängt wurde. Er würde Ihnen heute hier in der Wiege der deutschen Demokratie vermutlich zurufen: Die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes, das nach der Befreiung vom Faschismus in seinen ersten 19 Artikeln die Staatsziele und die unerschütterlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens festschreibt, sind für die in seinem Geltungsbereich lebenden Menschen nicht teilbar!

Wer die „Gay-Community“ in gute und böse Homosexuelle, beziehungsweise in bemitleidenswerte und verantwortungslose HIV-Infizierte spaltet, wie dies einmal mehr auf dem Berliner Kongreß „HIV im Dialog“ am 1. September geschah, befördert im kurzsichtigen Eigeninteresse die Verwahrlosung des Rechtsstaates und erleichtert den Schilys und Schäubles und ihrem später gewendeten Inspirator Jacobs den Grundrechtsabbau. Das Zetern wird erfahrungsgemäß nach Schalterschluß einsetzen. Der war übrigens für Barebacker am 23. März 2007.

Auch Sie kennen Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Wieder einmal soll in dieses Grundrecht nach dem nicht mehr so ganz „gesunden Volksempfinden“ einiger Zeitgenossen eingegriffen werden. Durch wen? Durch den Gesetzgeber! Die an der Wahl beteiligten Wahlberechtigen haben sich in den Bundestag derzeit 613 Repräsentanten gewählt – wie ich hoffe und gleichzeitig befürchte: mit Überzeugung.
Keine dieser eventuell HIV-positiven Personen ist – anders als nicht ganz unwesentliche Teile meines heutigen eventuell auch HIV-positiven Barebacker-Publikums – darauf angewiesen, mit dem monatlichen ALG-II-Regelsatz von 347 Euro plus begrenztem Mietzuschuß auszukommen. – Bei chronisch Kranken zuzüglich eines unbedeutenden Ernährungszuschlags von 25 Euro. Nach der jüngsten Diätenerhöhung muß jeder dieser Mandatsträger mit knapp 7700 Euro zuzüglich einer steuerfreien Kostenpauschale von ca. 3.700 Euro darben, insgesamt also mit etwa 11.400 Euro die Inflationsrate ausgleichen.

Im Alter wird man wunderlich. Auch ich habe es mir zur Regel gemacht, vor größeren Anschaffungen zur Abschreckung in D-Mark umzurechnen. Für alle, die ähnlich wunderlich sind wie ich: 11.400 Euro entsprächen 22.296 Mark – und 46 Pfennigen. Monatlich. „Eine fürstliche Entlohnung ist das nicht, wenn man die herausgehobene Verantwortung und den zeitlichen Aufwand bedenkt“, meinte dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 7. November mitfühlend. Trotz dieser immensen Inanspruchnahme durch das Mandat müssen immer mehr Abgeordnete irgendwie die Zeit finden, ähnlich wie unzählige sozialschwache HIV-Positive, noch etwas Geld hinzuzuverdienen.

Um 142 von ihnen müssen wir uns nur noch mindere Sorgen machen. Sie hatten Glück und konnten heuer allein bis Ende September neben ihren Diäten Honorare im Gesamtwert von mindestens 5,8 Millionen Euro einnehmen, wie aus einer Untersuchung der Beratungsfirma „deducto“ hervorgeht. Da ab einer gewissen Anzahl von Nullen mein Interesse schlagartig abnimmt, was es mir auch zusehends schwerer macht, mich an Wahltagen zu motivieren, sehe ich an dieser Stelle von einer Umrechnung ab. Soviel zum Sein, das bekanntlich das Bewußtsein bestimmt. Und nun wieder zurück zum klassischen Feindstrafrecht.

Bekanntermaßen muß derjenige, der einen Kampf aufnimmt, sich davor hüten, seinem Feind und seinen Methoden ähnlich, allzu ähnlich zu werden. Diese spezielle Form der Verhütung scheint nicht ohne Anstrengung zu funktionieren. Wie sonst wäre erklärlich, daß der Bundestag neuerdings verschleiert daherkommt, auf Säcke einschlägt und die gemeinten Esel nicht heulen? Die Rede ist von der Entschließung des Bundestags vom schon erwähnten 23. März 2007. Darin wird in den Ziffern 6 und 7 der Gesetzgeber aufgefordert, „gemeinsam mit den Ländern und Verbänden“ – welche mögen das wohl sein? – „bundesweit im Rahmen einer Selbstverpflichtung der Anbieter von Orten der sexuellen Begegnung auf Präventionsmaßnahmen hinzuwirken, die u.a. (…) den vollständigen Verzicht auf Werbung und Unterstützung für ungeschützten Geschlechtsverkehr beinhaltensollte.“

Was aber, wenn die Betreiber entsprechender Internetportale und Veranstaltungsorte ihrer Aufgabe als Bereichs-„Sicherheitsdienst“ nicht nachkommen und insofern die etwas abgedunkelten Zerstreuungsbereiche homosexueller Erlebnisgastronomie sich als resistent gegen fremdbestimmten Kondomgebrauch erweisen, wovon lebensnah auszugehen ist? Dann wird die Bundesregierung im März 2009 nicht nur „über den Stand der Umsetzung“ zu berichten, sondern „gegebenenfalls Vorschläge für eine rechtliche Regelung“ zu unterbreiten haben. Die deutsche Regierung wird bis zu diesem Termin parallel zu prüfen gehabt haben, „ob die Erfahrungen in Österreich und der Schweiz mit der Verschärfung des Strafrechtes bezüglich der fahrlässigen Gefährdung der Verbreitung einer sexuell übertragbaren Krankheit eine handhabbare Regelung zur Eindämmung der kommerziellen Angebote von ungeschütztem Sex darstellen.“

Nichts anderes als die Ankündigung einer gegen Barebacker gerichteten Sondergesetzgebung verbirgt sich dahinter. Noch einmal zur Erinnerung: Das sogenannte Feindstrafrecht als rechtstheoretische Grundlage für solcherlei Strafverschärfungen geht von der Grundannahme aus, daß es „Feinde“ in der Gesellschaft gibt, denen mit dem bisherigen Strafrecht nicht angemessen und ausreichend begegnet werden kann, weshalb gegen diese „Feinde“ ein präventives Bekämpfungsstrafrecht benötigt wird. Ein solcher „Feind“ ist nach Jakobs „ein Individuum, das sich in einem nicht nur beiläufigen Maß in seiner Haltung … oder seinem Erwerbsleben … oder durch seine Einbindung in eine Organisation … also jedenfalls vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt hat … und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert.“ Vor diesem Hintergrund liest sich die Bundestagsentschließung beängstigend deutlich: Auch wenn inzwischen vereinzelt die Homos die Möglichkeit nutzen, sich von den Heten in der sogenannten Homo-Ehe freiwillig sexuell fremdbestimmen zu lassen, und so die ersehnte Integration der Verbands- und Berufshomos in die vermeintliche Spitze der Gesellschaft mit ermöglichen: In ihrer letzten unkontrollierten Nische, in ihrer Subkultur – die ja von dem abweichen soll und will, was zwischen Kittelschürze und Arschgeweih sonst so als richtig und moralisch empfunden wird – entziehen sie sich, wenn auch vereinzelt, dem verlogenen Schweigegelübde über das, was alle wissen und viele tun.

Barebacking meint meines Erachtens im Gegensatz zu lediglich ungeschützt stattfindendem Sex die wechselseitig bewußte und gewollte, vom tatsächlichen Serostatus der jeweiligen Partner unabhängige und einvernehmliche Ausübung risikoreicher Sexualpraktiken unter überwiegend homo- oder bisexuellen Männern. Das Bewußte und Einvernehmliche scheint mir dabei eine individuelle Strafbarkeit der Praktiken auszuschließen. Wenn aber eine Strafbarkeit von Barebacking unter diesen Begegnungsbedingungen nicht gegeben ist, was bleibt dann außer der Überzeugung, daß andere moralisch falsch handeln, als Motiv für die Bundestagsentschließung?

Sollte die „freiwillige“ Unterwerfung unter diese moralische Anschauung nicht gelingen, so sollen künftig die Staatsanwaltschaften und ihre Hilfsorgane – wozu schließlich gibt es bei den Länderpolizeien Ansprechpartner für Homosexuelle? – im Dienst an der sittlichen Volksgesundheit in Marsch gesetzt werden. Eine ganz große Koalition aus CDU und Die Linke, aus FDP und SPD hat somit der Kriminalisierung von Barebacking aktiv Vorschub geleistet oder durch Stimmenthaltung ihren gesetzgeberischen Willen zum politischen Abschuß von Barebackern erklärt. Bürgerliche von Links bis Rechts haben es vorsätzlich unterlassen, zwischen ihrem sittlichem Empfinden und ihren Moralvorstellungen und zwischen allgemeingültigem Grundrecht zu trennen. Der präventive Ansatz, die Ausübung selbstbestimmter und selbstverantworteter Sexualität gerade durch Aufklärung über die Risiken und Folgen bestimmter Handlungsweisen weiter zu ermöglichen, wird in sein repressives Gegenteil verkehrt. „Selbstbestimmung“ und „Eigenverantwortlichkeit“ sollen nur dann nicht kriminell sein, wenn sie in eine bestimmte vorgegebene Richtung ausgeübt werden. Nach der „Homo-Ehe“ und dem ALG-II-Regelsatz kommt nun also die Missionarsstellung eigener Art.

In Anlehnung an eine Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Oktober zu Christian Geulens Geschichte des Rassismus würde ich sagen: Homosexuellenfeindlichkeit ist gefürchtet als Erscheinung, wird aber gern als Erklärung von verschiedener Seite in Anspruch genommen. Sie ist geächtet und gesucht zugleich: Durch die Verstaatlichung der Trümmer der zweiten deutschen Schwulenbewegung überwunden geglaubt, erhebt sie wieder ihr gegeltes Haupt. Wir erleben – um mit Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann zu sprechen – durch mediale Praxen und die Vereinnahmung aktueller kultureller Themen den Aufstieg der Sexualdevianz zu einer gesellschaftlichen Hauptfrage. Sexuelle Normabweichung erfährt eine – von manchen unerwartete – Konjunktur, womit Klimke und Lautmann einmal mehr die Umkehrung des liberalen Trends der 1970er Jahre bei der Entkriminalisierung sexueller Handlungen diagnostizieren: Im Bereich der HIV-Prävention wird als Teil einer repressiven Gesundheits- und Rechtspolitik dem „Feindstrafrecht“ gegen Barebacker mehr oder weniger klar das Wort geredet. – Müssen also bald emanzipierte Barebacker in einer dann noch aufnahmebereiten Homobar Zuflucht vor dem aufgebrachten Mob suchen, wird sogleich der Kampf um die Frage beginnen, ob Diskriminierung oder gar Übergriffe gegenüber potentiellen oder tatsächlichen HIV-Infizierten zu Recht als homosexuellenfeindlich zu bezeichnen seien. Die lokalen amtlichen Vertreter werden Sexualneid und Homofeindlichkeit bei sich und denen, die sie in ihre Ämter wählen, weit von sich weisen. Derweil werden, mit einer kleinen Spitze des Literaturwissenschaftlers Dirck Linck, Lauter Sehr Verantwortungsbewußte Demokraten – vulgo: LSVD – eilig und nicht ganz uneigennützig diese Motive als Wurzel allen Übels ausmachen. Denn waren solche Taten homosexuellenfeindlich motiviert, sind sie natürlich erschütternd und verabscheuungswürdig, aber wenigstens erklärbar, fast vertraut. Schließlich sind es doch immer nur die Ewiggestrigen, die von Zeit zu Zeit in undemokratische grundgesetzwidrige Reflexe zurückfallen. Da kann man dann auch nichts machen, wie Mutti sagen würde. Und darum sperren sie die Barbacker am besten gleich von den Christopher-Street-Day-Paraden aus, wie dieses Jahr in Köln und in Berlin.

Das Problem bei der Bundestagsdrucksache 16/3615 und eines auf dieser Basis ab 2009 daherkommenden Sondergesetzes gegen Barebacker ist, daß ihnen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken anhaften werden. Wenn Sie also im Anschluß an diese Veranstaltung oder nach dem Trauermarsch zum Gedenken an die an den Folgen von AIDS Verstorbenen im Darkroom von „Scheune“ oder „Stall“ risikobewußt, einvernehmlich und ungeschützt „nageln“ oder „nageln lassen“ sollten: Sie verteidigen ganz nebenbei – nur eben anders als Ihr Verfassungsschutzminister – das Grundgesetz. Auch wenn Sie morgen wieder vom Klassenfeind gefickt werden.

Copyright und Autor des Textes: Ortwin Passon