Mit einem völlig neuen Konzept versuchen Forscher gegen HIV vorzugehen: eine experimentelle Substanz soll HIV durch beschleunigte Mutationen vermehrungsunfähig machen.
Bisherige Aids-Medikamente versuchen, den Vermehrungs-Zyklus von HIV in menschlichen Zellen an verschiedenen Stellen zu blockieren. Eine neue Art einer experimentellen Substanz geht andere Wege: die Vermehrung von HIV zu beschleunigen – so, dass HIV schließlich vermehrungsunfähig wird (sog. „Fehler-Katastrophe“, ‚error catastrophe‘).
Die erste Substanz dieser Klasse wurde inzwischen in klinischen Studien am Menschen untersucht: KP-1461 vom kanadischen Unternehmen Koronis Pharma. KP-1461 (auch: SN1212) ist eine orale Prodrug von KP-1212. Die Substanz fügt sozusagen ‚Fehler‘ in die Erbinformation von HIV ein. Die virale Mutationsrate soll erhöht werden. Ziel ist letztlich, die Vermehrungsfähigkeit von HIV zu beenden und somit die Population von HIV in einem Körper zum Zusammenbruch zu bringen.
KP-1461 ist ein Derivat (Abkömmling) von Ribavirin, das auch in der Therapie der Hepatitis C eingesetzt wird. KP-1461 wurde bisher in Phase-I- und Phase-IIa-Studien auf Sicherheit und Verträglichkeit untersucht. Zudem konnte gezeigt werden, dass KP-1461 die (aufgrund theoretischer Modelle sowie von Tierversuchen) erwartete Mutationsrate bei HIV produzierte.
Prof. Mullins, Leiter der Studie, zeigte sich überzeugt, dass es gelingen könne, durch eine Anhäufung zusätzlicher Mutationen einen für HIV kritischen Verlust der ‚viralen Fitness‘ herbeizuführen. Gelänge dies, so hätte man einen völlig neuen Weg nicht-hemmender Medikamente in der HIV-Therapie gefunden.
Nun soll in einer Phase-II- Studie untersucht werden, ob und in welchem Zeitraum mit der Substanz ein klinisch relevanter Rückgang der Viruslast erreicht werden kann, sowie ob und falls ja wie sie in Kombinationstherapien eingesetzt werden könnte. In bisherigen Studien zeigte sich kein Rückgang der Viruslast nach 124 Tagen. Die neue Studie soll nun einen längeren Zeitraum umfassen.
Sollte sich das Wirkkonzept von KP-1461 als praxistauglich erweisen, könnte die Substanz z.B. gemeinsam mit einer hochwirksamen Kombinationstherapie eingesetzt werden. Die Kombi würde die Virusvermehrung unterdrücken, während KP-1461 verbleibendes HIV „aus der Existenz heraus mutieren“ würde – der Patient könnte theoretisch geheilt werden. Wirtschaftsanalysten sind trotz der „hohen Risiken“ begeistert und sprechen von einer potentiellen „kompletten und drastischen Veränderung“ des Marktes für HIV-Therapie.
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weitere Informationen:
Aids Treatment News 2007: New Kind of Antiretroviral, KP-1461; Clinical Trial Recruiting. Interview with Stephen Becker, M.D.
US Department of Health and Human Services / Aidsinfo: KP-1461 drug description
J.I.Mullins et a. 03.09.2010: H-1170a – First-In-Man Study of the Mutagenic Potential of Nucleoside KP1461 in HIV-1 Infection (abstract)
clinicaltrials.gov: Study of KP-1461 for the Treatment of HIV Positive Patients Who Have Failed Multiple HAART Regimens
Koronis Pharma / HIV
Mark G. Fromhold, Ph.D., Vice President, Manufacturing & Business Development, Koronis Pharmaceuticals (22.02.2011): Nonsuppressive Drug Therapy for HIV (Podcast)
„A cure for HIV?“, in: Wedbush PAC Grow Life Science 26.01.2011: Gilead Science (pdf)
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Lieber Ulli,
nein, das Konzept ist keineswegs neu. Es wird als „letale Mutation diskutiert, seit dem Resistenzen bei HIV erforscht werden.
Das Konzept hat einige Pferdefüsse:
1. Es basiert auf rein theoretischen Überlegungen, die auf der Spieltheorie aufbauen. Kein Mensch weiß allerdings, ob sich die Natur – bzw. das Virus – so verhält, wie die Spieltheorie voraussetzt.
2. Es ist derzeit – weder praktisch noch theoretisch – bekannt welche Mutation bzw. welche Serie von Muationen zum gewünschten Ergebnis führt.
3. Das Virus verhält sich bezogen auf seine Muationsschritte nur in einem ausgesprochen begrenztem Maß vorhersehbar. (Etwa 14 Tage Mono mit Epivir bringt zu nahezu 100% eine 184M. Erfolgen aber unter dauerhafter versagender Therapei weitere Mutationsschritte, wird mit jedem weiteren Schritt die Vorhersagemöglichkeit, was der nächste sein wird, dünner.) Dazu kommt, das bislang eigentich nur Mutationen untersucht sind, die im Zusammenhang mit Medikamentenresistenzen auftauchen.
Dazu kommt – bei Versuchen an Menschen – folgendes Problem:
Da so viele Unbekannten im Spiel sind und der Erfolg nicht garantiert werden kann, ist das Risiko extrem. Was passiert etwa, wenn das Virus zwar wie blöd mutiert, aber es eben genau nicht zu einer letalen Mutation kommt, sondern das genaue Gegenteil eintritt und dazu das Virus dabei noch gegen alle Medikamente resistent wird?
Dieses Konzept wird auf wissenschaftlichen Konferenzen immer mal wieder als interessante Idee in irgendwelche Vorträge zu Virologie und/oder Resistenzen eingebaut. Aber selbst die Wissenschaftler, die es diskutieren, diskutieren es eher als „das würden wir gerne können“. (Oder anders und mit meinen Worten: So beherrschbar sollte die Natur sein. 🙂 )
Herzliche Grüße
Bernd
lieber bernd,
neu ist das konzept nicht für medizin-kundige, da hast du vermutlich recht – aber doch für viele positive.
danke für deine anmerkungen – ja, es sind noch viele fragen bei dem ansatz …
lg ulli
Noch eine Anmerkung: Der letzte Absatz („könnte die Substanz z.B. gemeinsam mit einer hochwirksamen Kombinationstherapie eingesetzt werden“…) ist natürlich ein Widerspruch. Die Wirkung von KP-1461 beruht ja gerade darauf, dass sich das Virus vermehren kann und dabei mutiert. Die Vermehrung gleichzeitig mir (HA)ART zu unterdrücken macht keinen Sinn. Das ist aber gleichzeitig auch ein weiteres Problem: mit der Vermehrung des Virus geht eine massive Entzündungsreaktion = Immunaktivierung einher, die viele negativen Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Selbst wenn das Konzept funktioniert, weiß kein Mensch, wie lange es dauert, d.h. wie lange das Virus sich unkontrolliert vermehren muss, bis es sich „totmutiert“ hat.
Außerdem erhöht die Substanz nur die Fehleranfälligkeit der Reversen Transkriptase – es bleiben also immer noch die ganzen integrierten Proviren in den Zellen zurück. Und die bekommt man mit diesem Ansatz auch nicht los.
Meine Einschätzung: Akademisch interessant, praktisch irrelevant. Patienten würde ich von einer Studienteilnahme abraten.