Wir sind nicht nur Leidende und Opfer, wir gestalten unser Leben selbst !

offener Brief an Herrn Kohlbacher, Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz:

Sehr geehrter Herr Kohlbacher

Ihr Interview im Tagesanzeiger vom 2.März 2012 veranlasst mich Ihnen offen und öffentlich zu schreiben. Ich schreibe Ihnen persönlich, als HIV-positive Frau und als AIDS-Aktivistin.

Darf ich Sie fragen mit welchen Zahlen Sie Ihre Aussage betreffend den grossen psychischen Problemen von Menschen mit HIV und AIDS, und der hohen Selbstmordrate, in der Schweiz belegen? Meines Wissens sind immerhin rund 70% der Menschen mit HIV und AIDS berufstätig, was sich mit grossen psychischen Problemen eher schwierig gestalten würde.

Ich stosse mich enorm an dieser einseitigen Darstellung von Lebensrealitäten von Menschen mit HIV und AIDS im Jahre 2012. Wir sind nicht nur Leidende und Opfer, wir gestalten unser Leben durchaus selbst und auch erfolgreich. Selbstverständlich ist das gesellschaftliche Stigma, durch Unwissenheit und Vorurteile, nach wie vor hoch und es gibt vieles an Ungleichbehandlung und Diskriminierung. Nach wie vor werden Menschen mit HIV und AIDS kriminalisiert und in Versicherungsfragen unnötig benachteiligt. Auch im privaten Leben gibt es immer wieder Unschönes zu erleben – aber Sie scheinen mir hier doch sehr zu einseitig zu kommunizieren.

Ich gehe davon aus, dass diese Darstellung der Aids-Hilfe Schweiz (und den erhofften Spenden) und ihrer Legitimation als Patientenorganisation dienlich sein soll.

Davon habe ich nach 18 Jahren AIDS-Aktivismus nun endgültig genug. Menschen mit HIV und AIDS haben der Aids-Hilfe über Jahrzehnte Glaubwürdigkeit verschafft, die ihr längst nicht mehr gebührt. Nebenbei: Wissen die Spendenden denn, dass nur ein Teil der Spenden, seit Jahren (!), Menschen mit HIV und AIDS in Form von Direkthilfe oder Projekten zu Gute kommt? Vielmehr wird damit die Geschäftstelle (33%) und die Primärprävention (24%+15%) unverhältnismässig hoch berappt. Tatsächlich bezahlt das BAG Ihnen keine Gelder für Menschen mit HIV/AIDS, aber Sie scheinen zu vergessen, dass dies das BSV bis anhin immer tat! (Immerhin geht dies aus der Jahresrechnung 2010 der Aids-Hilfe Schweiz hervor (pdf).

Das dauernde Hochhalten der armen, ausgegrenzten leidenden Menschen mit HIV/AIDS, die sich verstecken müssen, ihre Stellen verlieren und eine ungleich hohe Selbstmordrate haben, fördert wohl eher die Ausgrenzung anstatt die Inklusion, eventuell noch Mitleid und Spendengelder und nicht zu unterschätzen das Selbststigma.

Kurz es beleidigt mich und andere Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz.
Unsere Realitäten sind um einiges vielfältiger lebendiger und selbstbewusster!

Wir sind Teil der Gesellschaft- wir müssen es nicht erst noch werden. Und wir lassen uns nicht dauernd zu Opfern stilisieren, damit die Aids-Hilfe weiterhin behaupten kann, wir bräuchten sie, während es doch genau umgekehrt zu sein scheint. Ich hoffe in Zukunft verzichten sie auf solche Augenwischereien und werden immerhin denen, die sie angeblich vertreten, etwas gerechter in ihrer öfftenlichen Kommunikation. Ansonsten wäre es endlich an der Zeit öffentlich klar zu bekennen, dass die Aids-Hilfe eine Service-Organisation ist welche allerhöchstens Stellvertretung praktiziert und vorallem Menschen mit HIV und AIDS zur eigenen Glaubwürdigkeit braucht bzw. für Stellenprozente, Subventionen und Spendenaquise instrumentalisiert.

Beste Grüsse

Michèle Meyer
AIDS-Aktivistin

15 Gedanken zu „Wir sind nicht nur Leidende und Opfer, wir gestalten unser Leben selbst !“

  1. Deshalb sind wir immer mehr auch eine Patientenhilfe-Organisation.

    Sie „WERDEN“ immer mehr zu einer Patientenhilfe Organisation?Wessen Interessen habet er denn vorher vertreten? Die eigenen (Karriere) Interessen? Die einer Regierung, der Industrie?

    Ein Geschäftsführer einer Bundes – Landes AIDS Hilfe egal in welchem Land würde ich nach einem solchen Satz fristlos feuern, hat er doch in keinster Weise verstanden WAS eine AIDS Hilfe – auch wenn es sich um den Dachverband aller AIDS Hilfen eines Landes handeln sollte – ist, bzw was die Aufgabe einer AIDS Hilfe ist.

  2. Sehr geehrte Frau Meyer

    Die AHS setzt sich vehement dafür ein, dass Menschen mit HIV und AIDS nicht stigmatisiert, diskriminiert oder zu Opfern gemacht werden, sowie in der Öffentlichkeit ein neues Bild von HIV/Aids und der Lebensrealität der Betroffenen entsteht.
    Gerade in unserer Kampagne zum Weltaidstag 2011 (siehe unsere Dossiers dazu unter http://www.aids.ch/d/medien/Dossier_WeltAidsTag.php) haben wir die Öffentlichkeit darüber informiert und dafür sensibilisiert.

    In der öffentlichen Meinung und in der von Medien veröffentlichten Meinung stossen wir aber leider immer wieder darauf, dass eine HIV-Infektion banalisiert wird, seit bzw. weil es die ART gibt. Wie Sie wissen, ist diese Banalisierung fehl am Platz ist, und es braucht zusätzlich zu unseren aktuellen Antidiskriminierungsstrategien und zur Hilfestellung für Not leidendende Betroffene mehr „Positive Prevention“, um das hohe relative Risiko für psychische Probleme von HIV-Positiven im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zu reduzieren. Entsprechende Analysen dazu, wie z.B.

    • Selbstmord: Studie von der HIV Kohorte: Olivia Keiser et al: Suicide in HIV-Infected Individuals and the General Population in Switzerland, 1988-2008, in: J Psychiatry 2010; 167:143ff (obwohl Selbstmordrate bei HIV-positiven Personen drastisch abgenommen hat, immer noch 3 x so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung)
    • Mental Health: http://www.infekt.ch/updown/documents/publ/2001/zinkernagel_2001_jaids.pdf (Studie von 2001 aus der HIV-Kohorte)
    • WHO Report on mental health and HIV positive persons: http://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/EB124/B124_6-en.pdf

    sind Ihnen ja bekannt.
    Die AHS muss sich daher in der Zukunft neben den Imagekampagnen für HIV-Positive und neben der Betroffenen-Hilfe mehr mit Positive Prevention beschäftigen und auch dafür Finanzmittel generieren und einsetzen . Die Öffentlichkeit müssen wir dafür sensibilisieren und informieren, warum das notwendig ist.

    Die AHS ist eine Präventions- (für besonders ansteckungsgefährdete Zielgruppen und von Gesundheitsproblemen betroffene Personen), eine Advocacy- (für die Verbesserung der gesundheitsrelevanten Lebensverhältnisse von betroffenen Menschen) und Dienstleistungsorganisation (für Fachpersonen und Organisationen im Feld). Dafür geben wir das uns zur Verfügung gestellte Geld im Rahmen unseres Leistungsauftrages aus und nicht für Selbstzwecke.

    Sehr gerne würde ich mit Ihnen darüber einen Dialog führen und Sie zu einem Gespräch einladen. Damit möchten wir die aus unserer Sicht bisherige konstruktive Zusammenarbeit mit Ihnen fortsetzen, in der wir Sie mit Know How und mit Finanzen unterstützt haben.

    Ich hoffe, dass Sie zu diesem Dialog bereit sind und bitte Sie um Terminvorschläge.

    Besten Dank und freundliche Grüsse
    Michael Kohlbacher

  3. ich möchte euch natürlich die antwort,, welche mich heute erreichte, nicht vorenthalten
    im folgenden, kommentarlos:

    Sehr geehrte Frau Meyer

    Ich bedanke mich für die Zusendung Ihres offenen Briefes.

    So wie Sie konnten auch viele andere Anspruchsgruppen und Personen sich zuerst nur auf Informationen aus einer vom Tagesanzeiger mit einem Artikel vom 1. März lancierten Medienkampagne gegen unsere Präsidentin Doris Fiala stützen. Die Geschäftsstelle der AHS hat darauf reagiert und am Tag danach ein Mediencommuniqué verfasst und die Verbandsmitglieder informiert. Unmittelbare Reaktionen auf zahlreiche Medienanfragen mussten gegeben werden. Diese reaktive Öffentlichkeitsarbeit wurde von der Geschäftsselle der AHS mit Freitag 2. März beendet: die AHS hat damit ihrer Auskunftspflicht Genüge getan und wird keine Medienanfragen mehr beantworten, um nicht das von den Medien gewünschte Weiterkochen des Themas zu unterstützen.

    Es tut mir leid, wenn mein Statement im „Tagesanzeiger – Online“ vom 2. März bei Ihnen negativ angekommen ist. Das Gegenteil war beabsichtigt.

    Die AHS setzt sich vehement dafür ein, dass Menschen mit HIV und AIDS nicht stigmatisiert, diskriminiert oder zu Opfern gemacht werden. In der öffentlichen Meinung und in der von Medien veröffentlichten Meinung stossen wir aber leider immer wieder darauf, dass eine HIV-Infektion banalisiert wird, seit bzw. weil es die ART gibt. Wie Sie wissen, ist diese Banalisierung fehl am Platz ist, und es braucht zusätzlich zu unseren aktuellen Antidiskriminierungsstrategien und zur Hilfestellung für Not leidendende Betroffene mehr „Positive Prevention“, um das hohe relative Risiko für psychische Probleme von HIV-Positiven im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zu reduzieren. Entsprechende Analysen dazu, wie z.B.

    · Selbstmord: Studie von der HIV Kohorte: Olivia Keiser et al: Suicide in HIV-Infected Individuals and the General Population in Switzerland, 1988-2008, in: J Psychiatry 2010; 167:143ff (obwohl Selbstmordrate bei HIV-positiven Personen drastisch abgenommen hat, immer noch 3 x so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung)

    · Mental Health: http://www.infekt.ch/updown/documents/publ/2001/zinkernagel_2001_jaids.pdf (Studie von 2001 aus der HIV-Kohorte)

    · WHO Report on mental health and HIV positive persons: http://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/EB124/B124_6-en.pdf

    sind Ihnen ja bekannt.

    Die AHS muss sich daher in der Zukunft neben der Betroffenen-Hilfe mehr mit Positive Prevention beschäftigen und dafür auch die Finanzmittel generieren und einsetzen . Die Öffentlichkeit müssen wir dafür sensibilisieren und informieren, warum das notwendig ist.

    Die AHS ist eine Präventions- (für besonders ansteckungsgefährdete Zielgruppen und von Gesundheitsproblemen infizierter Personen), eine Advocacy- (für die Verbesserung der gesundheitsrelevanten Lebensverhältnisse von betroffenen Menschen) und Dienstleistungsorganisation (für Fachpersonen und Organisationen im Feld). Dafür geben wir das uns zur Verfügung gestellte Geld im Rahmen unseres Leistungsauftrages aus und nicht für Selbstzwecke.

    Sehr gerne würde ich mit Ihnen darüber einen Dialog führen und Sie zu einem Gespräch einladen. Damit möchten wir die aus unserer Sicht konstruktive Zusammenarbeit der Vergangenheit fortsetzen, in der wir Sie beim Aufbau von LHIVE mit Know How und Finanzen unterstützt haben.

    Ich hoffe, dass Sie zu diesem Dialog bereit sind und bitte Sie um Terminvorschläge.

    Besten Dank und freundliche Grüsse

    Michael Kohlbacher

  4. @ Michèle:
    kein Grund zum Excusé – der Kommentar von Herrn Kohlbacher stand in der Modrations-Schlange, hab ihn vorhin freigeschaltet
    lg Ulli

  5. ich finde es immer wieder erstaunlich wie heiß man darauf ist das rad neu zu erfinden. das RAD existiert! SIC!

    in diesem fall heißt das liebe Schweizer, nehmt Euch die IWWIT kampgane in deutschland als Vorbild.

    quote
    The Positive Prevention program’s aim is to empower individuals living with HIV/AIDS, promote healthy relationships with sexual partners, strengthen the overall well-being of HIV + individuals, and reduce the possibility of new HIV and other sexually transmitted infections.
    unquote – http://www.aidsguelph.org/positive-prevention

    das generieren von finanziellen mittel ist natürlich eine sache. was ich als aussenstehender wahrnehme ist das ihr lieber schweizer in der tat ein „politisches“ problem habt. eure kürzungen im sozialen bereich toppen sogar die kürzungen der derzeitigen koalition in der Brd

    vielleicht solltet ihr fundraiser einstellen die in der lage sind bei den „banken“ die paar „peanuts“ zu aquirieren damit eine solche kampagne in die tat umgesetzt werden kann. unter diesem aspekt ein salär von euro 50000 zu zahlen, das ist in der tat hahnebüchen. da haben einige die bodenhaftung verloren . . .

  6. in der neuen testcard, ausgabe „überleben“ ist ein ganz differnziertes interview mit zwei positiven [mit klarnamen] zu alten und neuen bildern von aids. vllt bringt das was für die diskussion. wär vllt auch ein ondamaris-eintrag wert …

  7. sehr geehrter herr kohlbacher

    herzlichen dank für ihre ausführliche antwort.

    der kernpunkt meines briefes und mein anliegen betreffen die öffentlichen bilder von menschen mit hiv und aids. insbesondere jene, die von institutionen geschaffen werden und nochmehr wenn eben diese sich „im dienste“ der diskrimnierung und inklusion verstehen.
    darum bleibt meine kritik betreffend des bildes von menschen mit hiv/aids, das sie im artikel vom tagesanzeiger zeichnen, auch dann bestehen, wenn sie auf die banalisierung des lebens mit hiv/aids in den medien hinweisen.
    denn ich bat um differenzierung anstatt verallgemeinerung.
    und insbesondere darum, solche einseitigen bilder nicht gezielt für die zwecke der ahs einzusetzen.
    die studie aus dem jahre 2001 ist mir bekannt; selbstverständlich braucht es weitere grosse anstrengungen um eine gesellschaftliche atmosphäre zu ermöglichen, die durch aufklärung und akzeptanz geprägt ist, anstatt das vorurteile, unwissen und ängste ein miteinander verunmöglichen.

    ihr angebot für einen persönlichen dialog, nehme ich gerne an.

    was den aufbau- und die von ihnen genannte unterstüzung der ahs- von lhive angeht, möchte ich mich zu einem späteren zeitpunkt konkret äussern.
    soviel sei vorweggenommen: wie ihnen vielleicht auch bekannt ist, war die zusammenarbeit oft erschwert durch die monopolstellung der ahs, bzw durch die dauernde frage nach legitimierung und nach stellvertretung oder selbstvertretung. ich bedauere dies sehr.

    vielleicht öffnen sich nun neue möglichkeiten von zusammenarbeit und gegenseitiger unterstüzung. es wäre in der sache mehr als begrüssenswert.

    ich feue mich auf ihren anruf für ein erstes treffen.

    mit freundlichen grüssen
    michèle meyer

  8. @ernst
    ja, bitte entschuldige, ich habe am 13.3. noch folgendes mail erhalten:

    Sehr geehrte Frau Meyer
    Vielen Dank für Ihre Antwort. Ich melde mich in den nächsten Tagen wegen eines Gesprächstermins.
    Freundliche Grüsse, Michael Kohlbacher

  9. @Michele „vielleicht öffnen sich nun neue möglichkeiten von zusammenarbeit und gegenseitiger unterstüzung. es wäre in der sache mehr als begrüssenswert“ – Hat sich denn schon was ergeben?
    Es wäre ja wirklich wünschenswert und wir wären mal interessiert, ob sich da per Treffen oder Tel. schon was ergeben hat.

  10. äh Michele – was wird denn in der Schweiz unter „in den nächsten Tagen“ verstanden? Heute ist der 2.4. !
    So sieht also eine Terminabsprache mit Michael Kohlbacher, dem Leiter der Schweizer AIDS Hilfe aus – interessant – bekommt der Geld dafür oder ist der auch „ehrenamtlich“ 🙂

  11. @ernst
    ich vermute einerseits ,herr kohlbacher hatte alle hände voll zu tun- gerade durch den medienwirbel rund um die neue präsidentin. andererseits überrascht es mich nicht, dass dem gespräch wenig priorität zugemessen wird, es zeigt dass die ahs nicht den patienten verpflichtet ist, sondern ihren geldgebern.

  12. hier noch mein abschliessender kommentar: ich habe nie ein telefon oder eine email erhalten. an der mv der aidshilfe schweiz wurde ich auch nicht begrüsst, weder von GL noch präsidentin, obwohl wir uns pers noch nie begegnet sind. soviel zur konstruktiven zusammenarbeit.

  13. mir stellt sich immer öfter die frage „ob es von AIDS Hilfen überhaupt gewünscht/gewollt“ ist die belange und bedürfnisse von menschen mit HIV die sich aus dem alltag von menschen mit hiv herauskristallisieren nicht nur zur kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen sondern ob AIDS Hilfen überhaupt bereit sind uns bei der Umsetzung teilhaben zu lassen. hier habe ich mittlerweile starke zweifel. alle mitarbeiter sind idr „ausgebildete fachfrauen und männer“ dipl. sozialpädagogen, dipl. sozialarbeiter, dipl. pädagoge . . . . . etc.

    schon die vorstellung das da auf einmal jemand kommt und bedürfnisse, bedarf die sich aus dem alltag – dem leben ergeben artikuliert und einfordert jagt den meisten ein schauer kalten entsetzens über den rücken.

    distanz von „ausgebildeten studierten fachleuten“ in aids hilfen gegenüber menschen mit hiv ist nichts neues.

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