offener Brief an Herrn Kohlbacher, Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz:
Sehr geehrter Herr Kohlbacher
Ihr Interview im Tagesanzeiger vom 2.März 2012 veranlasst mich Ihnen offen und öffentlich zu schreiben. Ich schreibe Ihnen persönlich, als HIV-positive Frau und als AIDS-Aktivistin.
Darf ich Sie fragen mit welchen Zahlen Sie Ihre Aussage betreffend den grossen psychischen Problemen von Menschen mit HIV und AIDS, und der hohen Selbstmordrate, in der Schweiz belegen? Meines Wissens sind immerhin rund 70% der Menschen mit HIV und AIDS berufstätig, was sich mit grossen psychischen Problemen eher schwierig gestalten würde.
Ich stosse mich enorm an dieser einseitigen Darstellung von Lebensrealitäten von Menschen mit HIV und AIDS im Jahre 2012. Wir sind nicht nur Leidende und Opfer, wir gestalten unser Leben durchaus selbst und auch erfolgreich. Selbstverständlich ist das gesellschaftliche Stigma, durch Unwissenheit und Vorurteile, nach wie vor hoch und es gibt vieles an Ungleichbehandlung und Diskriminierung. Nach wie vor werden Menschen mit HIV und AIDS kriminalisiert und in Versicherungsfragen unnötig benachteiligt. Auch im privaten Leben gibt es immer wieder Unschönes zu erleben – aber Sie scheinen mir hier doch sehr zu einseitig zu kommunizieren.
Ich gehe davon aus, dass diese Darstellung der Aids-Hilfe Schweiz (und den erhofften Spenden) und ihrer Legitimation als Patientenorganisation dienlich sein soll.
Davon habe ich nach 18 Jahren AIDS-Aktivismus nun endgültig genug. Menschen mit HIV und AIDS haben der Aids-Hilfe über Jahrzehnte Glaubwürdigkeit verschafft, die ihr längst nicht mehr gebührt. Nebenbei: Wissen die Spendenden denn, dass nur ein Teil der Spenden, seit Jahren (!), Menschen mit HIV und AIDS in Form von Direkthilfe oder Projekten zu Gute kommt? Vielmehr wird damit die Geschäftstelle (33%) und die Primärprävention (24%+15%) unverhältnismässig hoch berappt. Tatsächlich bezahlt das BAG Ihnen keine Gelder für Menschen mit HIV/AIDS, aber Sie scheinen zu vergessen, dass dies das BSV bis anhin immer tat! (Immerhin geht dies aus der Jahresrechnung 2010 der Aids-Hilfe Schweiz hervor (pdf).
Das dauernde Hochhalten der armen, ausgegrenzten leidenden Menschen mit HIV/AIDS, die sich verstecken müssen, ihre Stellen verlieren und eine ungleich hohe Selbstmordrate haben, fördert wohl eher die Ausgrenzung anstatt die Inklusion, eventuell noch Mitleid und Spendengelder und nicht zu unterschätzen das Selbststigma.
Kurz es beleidigt mich und andere Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz. Unsere Realitäten sind um einiges vielfältiger lebendiger und selbstbewusster!
Wir sind Teil der Gesellschaft- wir müssen es nicht erst noch werden. Und wir lassen uns nicht dauernd zu Opfern stilisieren, damit die Aids-Hilfe weiterhin behaupten kann, wir bräuchten sie, während es doch genau umgekehrt zu sein scheint. Ich hoffe in Zukunft verzichten sie auf solche Augenwischereien und werden immerhin denen, die sie angeblich vertreten, etwas gerechter in ihrer öfftenlichen Kommunikation. Ansonsten wäre es endlich an der Zeit öffentlich klar zu bekennen, dass die Aids-Hilfe eine Service-Organisation ist welche allerhöchstens Stellvertretung praktiziert und vorallem Menschen mit HIV und AIDS zur eigenen Glaubwürdigkeit braucht bzw. für Stellenprozente, Subventionen und Spendenaquise instrumentalisiert.
Muss ich euch wirklich lauthals ein Plädoyer für den Austausch von Körperflüssigkeiten, Gerüchen, dem Erleben von Haut und Haar halten? Ich mach das. Sofort! Und darum FREUE ich mich über kondomloses Miteinander.
Was denkt ihr denn? Dass es mensch nur zusteht verhalten erleichtert zu sein und sich präventiv zu ducken vor der breit-um-sich-schlagenden Moralinkeule? Warum denn? Weil es einige gibt, die mit der Moralinkeule versuchen das Leben totzuschlagen, indem sie schnell sind beim Verallgemeinern, Verurteilen und Beschuldigen? Nein danke.
Ich will über meine Freude nicht leugnen wieviel noch zu tun ist, weil Gerechtigkeit und FREUDE Zugang zu Information, harm reduction und Behandlung bedingt. Für alle! Wenn es um die Therapie-und Test-Freiheit aller geht. Da frage ich: Erleichterung? Ja. Mich dünkt sie haben längst einen Deal beschlossen, denn Volksgesundheit ist hoch im Kurs! Schon damals, 2008, nach unendlicher Vorlaufzeit.
Ich sage trotzdem, immer noch und immer wieder:FREUDE! Ja ich freue mich. Ich bin so frei.
Nicht Erleichterung mit Fragezeichen. Wer mich dafür der versuchten schweren Körperveletzung oder versuchten Verbreitung einer schweren menschlichen Krankheit beschuldigen möchte, sei ebenso frei. Ich halte dem nebst meiner Verantwortung, auch meine Nicht-Infektiosität entgegen.
Trotzallem. Die Angst vor der Entängstigung treibt seltsame Blüten und so fehlen uns verbindliche übergeordnete gerichtliche Urteile, um uns auch darüber zu freuen? (aber wenn wir brav die Pillen schlucken und engmaschig zur Kontrolle antraben, dann bekommen wir bestimmt das Zückerchen Straffreiheit unter erfolgreicher Therapie)
Ich denke, es erleichtert den Druck auf „uns.“
Uns könnte die FREUDE! aber auch noch mehr zu Gerechtigkeit und Freiheit verführen. Das wünsch ich mir! Die Frechheit selbstbestimmt und vollwertig Verantwortung zu leben!
Lasst uns mal aus der kollektiven Schockstarre des Verseuchtseins erwachen! Freut EUCH!
Ja! mich freut es doch auch, dass nach so langer Vorlaufzeit die Komission sich auf den Ast herausliess und die „ganze“ Welt schockte! War höchste Zeit, „damals“, nicht? !
Der medizinische Fortschritt ist riesig, die Freude darf sein.
Beim grossen Rest bleibt die Erleichterung mit Fragezeichen – noch!
Ich hatte – als Frau – mit oder ohne HIV/AIDS – immer ein erfülltes Sexualleben, auch vor meiner jetzigen Liebesbeziehung.
Wenn ich Lust auf Sex hatte, habe ich gesucht und gefunden. Das war zumindest wenn es um Sex mit Männern ging, nie ein Schwierigkeit. (Ich habe öfters mal grinsen müssen, wenn ich mir die Klagen von Heteromännern diesbezüglich anhörte. Allerdings glaube ich nicht daran, dass es an HIV/AIDS scheiterte, als vielmehr an ungeschicktem Werben und Freien! )
Zugegeben, einen Partner zu finden war etwas schwieriger, aber Sex?
Nun, am Anfang meiner Infektion hatte ich öfters Sex mit anderen Menschen mit HIV/AIDS als mit Ungetesteten oder HIV-Negativen. Allerdings orientiert sich mein Begehren nicht an einem Virus.
Ich wollte weiterhin frei wählen können. Und das tat ich.
Das Outing fand ich nie nicht besonders spannend, brachte es doch immer eine vorübergehende Ablenkung vom Knistern und Funkeln mit sich. Es hat übrigens selten jemanden von gemeinsam erlebter Lust abgehalten. Ich glaube gesamthaft genau zweimal begehrte ich und wurde (angeblich) wegen HIV/AIDS abgewiesen. Das war schmerzhaft, weil es nicht Begehren alleine war, sondern Verliebtheit und Zukunftswünsche im Spiel waren.
Drei weitere Male habe ich jemanden von der Bettkante gestoßen, weil er dem Kondom trotzen wollte. Sprich ich habe nach erfolgreicher Suche nach Sexualpartner dreimal selbst entschieden auf Sex zu verzichten. Einmal mittendrin, ja, weil der Idiot meinte er müsse heimlich das Kondom entfernen (ich hoffe er liest mit und errötet nochmals!).
Natürlich will ich damit nicht sagen, HIV/AIDS mache sexy, bestimmt nicht. Das Virus hatte einfach nie diese Macht über mich, dass ich aus Scham und Angst meine Libido zurückstellen wollte oder musste.
Wahrscheinlich hatte die Infektion meine Sexualität und Körperlichkeit nicht einschneidend verletzt. Dafür gab es anderes, vor meiner Infektion, das mir einiges abverlangte. Aber ich glaube tatsächlich, dass ich, was meine Sexualität angeht, ein hohes Mass an ( körperlicher und seelischer?) Freiheit genieße.
Für mich ist das Outing eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht auch, weil ich selbst – seit es die HIV-Antikörpertests gibt – informiert war, über den HIV-Status meiner (Sexual-)Partner, gerade auch vor meiner eigenen Infektion. Zudem kommuniziere ich prinzipiell gerne über einiges vor dem Sex.
Ich sage ja auch, hey ich habe gerade die Menstruation … oder ich will auch wissen, ob mein Gegenüber gerade Pilz oder andere „nette Käfer“ hat!
Was mich allerdings seit meiner Infektion lernen musste, ist, dass die Kommunikation nicht einseitig wird, nur wegen meiner Infektion! Irgendwann habe ich mir angewöhnt zumindest mündich Auskunft zu verlangen, darüber, was das Gegenüber über seinen eigenen Serostatus weiß. Denn der Umstand, dass doch einige meiner Sexualpartner und Sexualpartnerinnen, sowie einige meiner Ex-en, es fertig gebracht haben nach dem Sex oder nach der Liebelei tatsächlich hinzugehen und sich auf HIV testen zu lassen, hat mich wütend gemacht. Oft war’s dann zum ersten (!) Mal in ihrem Leben oder zumindest das erste Mal seit langem. Ich hatte schlicht keine Lust die Gesamtverantwortung für ihr Handeln in sexuellen Begegnungen zu übernehme und mir was anhängen zu lassen, mit dem ich nichts zu tun habe!
Abgesehen davon, ich will mich schützen können vor weiteren Infektionen und möglichen Komplikationen bei Verlauf und Behandlung.
Seit langem stehe ich in der Öffentlichkeit dazu kondomlosen Sex zu haben, in gegenseitiger Absprache und unter den von der EKAF (eidgenössische Kommission für AIDS Fragen) formulierten Bedingungen. In der Schweiz mache ich mich dennoch strafbar, jedenfalls so lange, bis der Artikel 231 des StGb im Epidemiengesetz nicht tatsächlich geändert wird. Ich hoffte dadurch ein Bundesgerichtsurteil zu provozieren, was bisher aber nicht gelungen ist.
Was mich immer wieder erstaunt ist, wie viele Menschen mit HIV/AIDS davon überzeugt sind, dass sie ihren HIV-Status verschweigen müssen.
Ich verstehe sehr gut, dass der Status verschwiegen wird aus Angst vor Ablehung im intimen Setting, oder aus Angst vor Ausgrenzung und Arbeitsplatzverlust, und ja, schlussendlich auch aus Angst vor Kriminalisierung. Und ich weiß wohl wie machtvoll Angst ist.
Aber, ich bin überzeugt, dass Mensch durchaus lernen kann damit umzugehen. Nur Mut! Wenn sich was ändern soll, dann müssen wir das schon selber bzw. gemeinsam an die Hand nehmen. Ich glaube nicht, dass schweigen und abwarten der Weg ist. Trotzdem bin ich überzeugt, dass es nicht der einfachste Weg ist und ich erwarte auch nicht, dass sich alle outen.
Aber, mich kann das Versteckspiel samt der Klagerei mitunter auch mal gehörig ärgern. Wie soll denn die Stigmatisierung bitte ändern, ( falls das überhaupt möglich ist?!) wenn Versteckspiel die Norm ist?
Aber vor allem, wie ehrlich wird mit der Motivation hinter dem Schweigen umgegangen? Manchmal habe ich den Verdacht, dass der Weg des geringsten Widerstandes gewählt wird um sich vermeintlich selbst zu schützen.
Nun, wer seinen Status verschweigen will – Betonung auf will – der kann das doch tun, meiner Meinung nach, kein Problem. Und wer dabei safer sex pflegt, braucht sich ja auch null Gewissen zu machen, oder? Unverständnis empfinde ich erst, wenn darüber dann geklagt wird, ohne dass Mensch andere Wege sucht, die ihn befreien oder erleichtern. Es gibt genug Menschen, die offen leben und auch bereit sind ihre Erfahrungen (mit-) zu teilen. Bestimmt fehlt es an gezielter Unterstützung und Begleitung beim Outing und die Beratungen lassen da öfters zu wünschen übrig. Aber den eigenen Prozess muss JedeR selbst an die Hand nehmen und wer sich unfrei fühlt in seinem Schweigen, ist oftmals durchaus frei genug sich Gedanken über andere Möglichkeiten im Umgang mit dem persönlichen Outing zu machen. Sich hinter der Angst zu verstecken, empfinde ich als etwas bequem.
Was anderes ist es bei Einigen, die politisch, juristisch oder medizinisch im Bereich HIV/AIDS unterwegs sind. Ich weiß dass ihre Professionalität und die ihrer Arbeit abgewertet würden, weil der Nimbus der Parteilichkeit oder Befangenheit dabei plötzlich ins Feld geführt würde. Ihr Schweigen bedeutet groteskerweise auch ein Einstehen für die Sache!
Und „Gopferdeggel“, einige unter uns leben mit HIV/AIDS, weil nicht geredet wurde, vor dem Sex, weil die Angst vor Ablehnung zu groß war …
Keine Bange, ich stehe weiterhin für mich, und für jene ein, die selbst nicht hinstehen können oder wollen, das ist keine Frage. Und ich bin weit davon entfernt jemanden zu verurteilen der sich über seinen HIV-Status ausschweigt, in welchem Setting auch immer. Nur wünsche ich mir, dass manch EineR auch mal genauer hinschaut und seine Motivationen und Möglichkeiten prüft, anstatt zu sich „nur“ als Opfer zu fühlen und zu klagen. Nur Mut!
Heute schreibe ich einen ganz persönlichen Kommentar
Am 10. Juni findet in Zürich die dritte Artist Charity Night statt. Was als größte AIDS Charity der Schweiz gepriesen wird.
Ein kurzer Rückblick: an der ersten Artist Charity Night im 2009 waren wir als Vertreter von Lhive geladene Gäste. Wir hatten versucht mit den Veranstaltern im Vorfeld und am Event selbst in Kontakt zu treten, mit dem Ziel, dass Menschen mit HIV/AIDS einen Beitrag an dem Event leisten könnten.
Hier ein kurzes Video im Blick zur ersten Charity Night im 2009 : http://www.blick.ch/people/schweiz/artis-charity-2009-123446
Unser Wunsch wurde zwar lächelnd entgegengenommen, aber es war anscheinend uninteressant, denn es kam zu keiner Veränderung und im Jahr 2010 verzichteten wir darauf, schon nur daran zu denken, teilzunehmen!
Unterdessen hatten auch wir verstanden, dass die Veranstaltung auf Primär-Prävention abzielt und Solidarität nur etwas mit dem Portefeuille zu tun hat.
Nun folgt also Veranstaltung Nummer drei. Motto, Covergirl und Botschaft scheinen ein wunderbares Beispiel von Prävention als Motor für Diskriminierung zu sein.
Aber macht Euch selbst ein Bild:
„Das Motto “GALACTIKA” entsteht aus dem Gedanken der “Liebes-Botschaft” und ist angelehnt an den Film Barbarella.
Barbarella ist Astronavigatrice und der Gruß vom Erdpräsidenten zu ihr und retour ist:
„Sieg der Liebe“
Mit diesem Motto wollen wir den “Sieg der Liebe” vermitteln. Es geht darum zu vermitteln, dass Liebe auch Respekt bedeutet.
Respekt, indem man seinen Lebens- und/oder Liebespartner und sich selbst schützt.
Zudem ist das Thema total sexy und stylisch. Ideal für eine super Party.“
zu sehen hier auf diesem Plakat der Veranstaltung: http://www.artistcharitynight.ch/basic/key_2011.jpg
Ich bin geneigt zu sagen:“ Aha^^“ .
Doch nach einem tiefem Atemzug folgt, was folgen muss:
Sonst geht’s noch? Was ist das? Ein bewaffnetes Sexobjekt? Super. Gratulation an die Macher. Also liebe Heten, bewaffnet euch im Namen der Liebe gegen diese grauenhaften Viren ( oder sollte ich sagen Virenträger?). Vom Frauenbild ganz zu schweigen, ich glaube es versteht sich von selbst, dass dies nicht dem meinem entspricht!
Ja, richtig, ich koche vor Wut und hätte ungemein Lust, den Anlass als intergalaktische Virenschleuder zu besuchen. ( Als ob ich welche zum verschleudern hätte, im Zeitalter der Nicht-Nachweisbarkeit … )
Übrigens: der Erlös kommt zu 60% dem lighthouse zu gute. Aber dazu gerne ein andernmal.
Summa summarum habe ich den Eindruck: eine Glitzer-Glimmer Veranstaltung für HIV-Negative, um nebst fun, ein bisschen schlechtes Gewissen zu beruhigen und Geld dafür locker zu machen, um unter sich zu bleiben und Menschen mit HIV/AIDS zu diskriminieren. Ganz einfach: Sex and crime, einmal anders!
Was bedeutet Solidarität? Ganz allgemein, und unter uns Positiven? Hat jede/r HIV-Positive erst einmal meine Solidarität? Ein Interview mit Michèle Meyer.
Michèle Meyer ist Präsidentin von LHIVE, der Schweizer Organisation für Menschen mit HIV und Aids, und hat u.a. die Welt-Aids-Tags-Rede 2009 in der Frankfurter Paulskirche gehalten: „Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat„.
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Michèle, Solidarität – was heißt das für dich, zunächst ganz allgemein?
Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“ (Che Guevara)
Solidarität ist für mich ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Ein Prinzip der Mitmenschlichkeit. Es kann und soll auch in Haltung und Handlung erkennbar sein, bzw. praktisch werden. Es heißt für mich: für einander eintreten, sich gegenseitig helfen, aus „freien Stücken“.
‚Aus freien Stücken‘ – heißt das auch, Solidarität ist ‚bedingungslos‘?
Oder muss man sich den Anspruch auf Solidarität vorher ‚erwerben‘?
Das ist wie mit der Würde, nicht? Ich meine, Solidarität als Grundlage/ Grundhaltung ist bedingungslos.
Wenn sich jedeR die Solidarität zuerst verdienen muss, werden wir uns kaum einig wem sie gebührt, geschweige denn wie sie zu verdienen wäre.
Genauso vehement, wie wir eintreten für unsere Diversität, den Reichtum unserer Vielfalt, und genauso vehement wie wir nicht hinnehmen in Verallgemeinerungen oder normativen Zwängen unterzugehen, genauso vehement müssen wir, meiner Meinung nach, Solidarität für alle Menschen mit HIV/AIDS einfordern und praktizieren, auch innerhalb der Communities.
Sonst sind wir nicht nur unglaubwürdig und selbst ausgrenzend, sondern leisten einen gehörigen Beitrag zu den diversen Versuchen von Seiten der Regierungen, Gesundheitssysteme und der Öffentlichkeit, uns mit „divide et impera“ [lat., „teile und herrsche“; politische Strategie den Gegner in Untergruppen aufzuspalten, damit er leichter beherrschbar ist; d.Hg.] nach ihrem Gusto in der Gesellschaft zu positionieren ( und dulden)!
Das heißt, wir positionierten uns im Thema und zeigten unsere Solidarität möglichst frei von Interpretationen oder Bewertung des Individuums und seinem wahrnehmbaren Verhalten, sondern beziehen uns auf die gemeinsamen Interessen, die gemeinsamen Ziele und das prinzipiell mitmenschlich-Handelnde.
Hat Solidarität Grenzen?
In den letzten Tagen wurde ja viel diskutiert – nehmen wir eine konkrete (in Kommentaren angesprochene) Konstellation: ein Positiver belügt, verschweigt wissentlich trotz Nachfrage seinen HIV-Status vor gemeinsamem Sex – Solidarität mit ihm, auch dann?
Natürlich hat Solidarität Grenzen und natürlich hat sie sie nicht!
Sprich: Ich mag solidarisch sein mit allen Menschen mit HIV/AIDS, weil z.b. Diskriminierung, Ausgrenzung, Benachteiligung und oft auch Kriminalisierung alle betrifft.
Der oder die Einzelne kann mir dabei unsympathisch sein, mehr sogar noch, oder sich selbst unsolidarisch oder nach meinem Verhaltenskodex „falsch“ verhalten. Das ändert aber an der Grundhaltung nichts. Das ändert nur etwas an meinem Bezug nehmen und meinem Engagement in der Sache und dem Mensch persönlich gegenüber!
Kurz ein Beispiel: in unserer Charta [die Charta von LHIVE; d.Hg.] steht klar und deutlich, dass wir solidarisch sind mit allen Menschen mit HIV/AIDS sind und als Organisation danach handeln. Insbesondere wenn Menschen wegen ihres Serostatus benachteiligt / ausgegrenzt etc. werden. Aber wer unsere Charta nicht unterschreibt, weil er oder sie vielleicht die „durban declaration“ [Erklärung von Durban; Erklärung zahlreicher Wissenschaftler, dass HIV die Ursache von Aids ist; d.Hg.] nicht akzeptiert und somit zu den AIDS-Dissidenten zu zählen ist, kann nicht Mitglied sein, geschweige denn stimmberechtigt. Hier kommen also im Bezug nehmen und im Handeln dem Individuum gegenüber Bedingungen zum Tragen.
Das von Dir genannte Beispiel enthält natürlich viel moralischen Zündstoff und scheint auf den ersten Blick klar bewertbar zu sein. Aber: warum wurde geschwiegen oder gelogen, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stecken dahinter, die ein solches Verhalten begünstigen? Und sind es nicht diese, die trotzdem Solidarität fordern?
Und selbstredend ist ein Arschloch ein Arschloch, und es fällt mir schwer solidarisch mit ihm oder ihr zu sein. Und auch ich bin nicht gefeit, mich manchmal von Moralin leiten zu lasen und auch mal vorschnell zu urteilen.
Trotzdem meine ich, dass jedes Mal gut hingeguckt werden muss, um was es genau geht in der Sache! Und wem was nutzt …
Denn wie wollen wir zu wirklichen Veränderungen bei Stigma, Selbststigma, Kriminalisierung kommen, wenn wir uns nicht klar positionieren? Indem wir selbst solches NICHT auf uns und andere anwenden?
Solidarität verlangt Empathie und vielleicht auch immer wieder gemeinsames Aushandeln von Zielen und Haltungen. Ob uns das fehlt?
Was heißt Solidarität für dich ganz praktisch, Solidarität unter und mit HIV-Positiven?
Das ist wahrscheinlich eine „never-ending-story“…
… trotzdem ein, zwei Antworten:
Solidarität heißt für mich, dass wir uns in öffentlichen Konflikten, zum Beispiel, nicht gegenseitig in den Rücken fallen. Sondern in der Sache zusammenstehen.
…Dass wir immer oder meist auch global Bezug nehmen zu den Themen.
….Dass innerhalb unserer eigenen Communities wir hellhörig sind bei internen Ausgrenzungen und Anfeindungen
…Dass Menschen mit HIV/AIDS keine Menschen 2. oder 3. Klasse sind, für niemanden.
…Dass unsere Serostatus niemandem das Recht gibt uns zu bewerten und einzuordnen.
…Dass die Community oder Communities nicht versucht, andere chronisch Kranke auszublenden, zu übertönen oder gar auszustechen und vice versa!
…Dass ich, wenn ich mich öffentlich äussere, a) immer versuche möglichst zu betonen, nur ein Beispiel von vielen zu sein, und b) immer Bezug nehme auf ganz unterschiedliche Problemstellungen bzw. Lebenshintergründe und Auswirkungen der HIV-Infektion.
Und Solidarität heißt auch zu erleben, dass eine Bekannte mir diesen 1. Dezember 100.- CHF geschickt hat, einfach so, aus Solidarität und weil sie mein Engagement schätzt.
Oder dass eine andere Mutter mit HIV/AIDS extra nach Wien fährt an den Kongress um mich zu unterstützen und zu entlasten!
Die Schweiz will versuchen, die Zahl der Neuinfektionen mit HIV bis 2017 zu halbieren. Ein Mittel dabei unter anderen soll die Information von Kontaktpersonen sein – vom zuständigen Leiter der Sektion Aids des Bundesamts für Gesundheit als „kultureller Wandel“ bezeichnet.
Dazu ein persönlicher Kommentar von Michèle Meyer:
Tätowieren wäre effizienter und ehrlicher
Als Präsidentin von Lhive, der Organisation von Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz, als AIDS-Aktivistin und Bürgerin dieses Landes, werde ich die Verlautbarung von Roger Staub und dem BAG zum neuen nationalen Programm HIV & STI, nicht unkommentiert lassen können. Ich knorze seit Tagen an einer Stellungnahme. Ich bin zutiefst schockiert über die Allmachtsphantasien (Halbierung der Ansteckungen! )und die unsägliche Vorstellung von „kulturellem Wandel im Umgang mit Krankheiten“ Die R. Staub propagiert.
Kultureller Wandel
Als weiteres Ziel hat sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) einen «kulturellen Wandel» im Umgang mit den Krankheiten gesetzt, wie Roger Staub, zuständig für Prävention und Promotion im BAG, sagte. «Es soll selbstverständlich sein, dass ( HIV) positiv getestete Personen freiwillig ihre Angehörigen informieren», erklärte er.
Im Zusammenarbeit mit Organisationen und Fachstellen will das BAG künftig die Angehörigen von Patienten informieren – allerdings nur, falls diese einverstanden sind.
Staub berichtete von einem Angebot für Homosexuelle der Zürcher Aids-Hilfe: Werde ein Mann in der Anlaufstelle «Checkpoint» positiv auf HIV getestet, biete die Stelle an, sämtliche Sexualpartner per SMS oder E-Mail zu informieren. So sollen weitere Ansteckungen vermieden werden. [Quelle Tagesanzeiger]
Warum ist uns dies nicht schon lange eingefallen?!
Einfacher geht’s doch nicht:
Wir lassen uns von den Aids-Hilfen einfach fremd-outen, per SMS.
Die Handynummern unserer SexualpartnerInnen geben wir blind vertrauend an Sozialarbeiter weiter und fertig ist das Jammern rund um das Coming-out und all die Ängste vor Ausgrenzung , Ablehnung, Diskriminierung und Kriminalisierung! Ganz zu schweigen vom mühseligen Prozess der Selbstakzeptanz. Wir sind befreit!
Die SMS-Empfänger werden sich auch bestimmt nicht wundern, wenn das Handy surrt und folgende mögliche Textnachricht unverhofft hereinflattert:
:“ Guten Tag, Sie hatten kondomlosen Sex mit einer/ einem HIV-Infizierten. Dreimal dürfen Sie raten wer es war! Bitte testen sie sich anonym in nützlicher Frist. Wir senden Ihnen gerne einen Reminder. Sollten Sie sich infiziert haben, begrüßen wir sie herzlich in der Gruppe der Marginalisierten und weisen darauf hin, dass sie die Möglichkeit haben ihren „ Anstecker“ anzuzeigen. Behandeln Sie diese Informationen bitte vertraulich. Ihre Aids-Hilfe. „
Was logischerweise darauf folgen muss, ist, dass wir in Zukunft auch unsere aktuellen Sexualpartner melden und wenn möglich schon vor dem ersten Date per SMS aufklären lassen. Schließlich gehört unsere Sexualität vom Moment der HIV-Diagnose nicht mehr uns; Sozialarbeiter, Institutionen und Ämter müssen wissen was wir mit wem wann und wie „ gruusiges“ machen! Denn nur so können sie adäquat auf diese konstante Bedrohungen antworten und Negativen-Hilfe vom Schreibtisch aus tätigen.
Apropos: Mir scheint diese SMS-Outing Geschichte geradezu ein klassischer Fall von Schreibtischtäterei zu sein. Ob da mal einer MSM verkehrtherum geschrieben hat und es so zur zündenden Idee kam?
Coming-out ist nun Beratersache, Partnerinformation nennt es sich hübsch. Ja und natürlich nur freiwillig. Wobei diese Freiwilligkeit ja zur Selbstverständlichkeit erklärt werden soll.
Tätowieren wäre effizienter und ehrlicher.
Ich konstatiere: Dies ist das Ende der Solidarität, das Ende der Aids-Hilfen und das Ende vom Mär des AIDS-Aktivisten Roger Staub. Er unterwandert zielstrebig die Mündigkeit und Freiheit des einzelnen um seine Allmachtsphantasien voranzutreiben und die Aids-Hilfe ist das aufführende Organ.
Gekauft. Geschenkt.
Ich distanziere mich hiermit von diesem sogenannten „ kulturellem Wandel“, sowie von dessen Urheber und seinen Mitläufern und Zudienern.
Ich bin überzeugt, dass der kulturelle Wandel, den es anzustreben gilt nicht mit Fremd-outing beginnt und endet (oder ist etwa Nachbetreuung vorgesehen?!) sondern nur durch Entdiskriminierung und Entkriminalisierung beginnen kann!
Vom 18. bis 23. Juli 2010 fand in Wien die XVIII. Welt-Aids-Konferenz statt. Großer Ort der Begegnung und auch für die Öffentlichkeit zugänglich war das „Global Village“, ein Ort der Treffen, Diskussionen, Vorführungen, Konzerte, Aktionen.
Im folgenden ein Gastbeitrag von Michèle Meyer, die ihre Eindrücke und Gedanken nach 5 Tagen „Global Village“ schildert:
AIDS 2010 – in the global village
Ein Resumé ist nicht einfach, so auf die Schnelle schon gar nicht.
Aber zwei, drei Gedankensprünge will ich euch nicht vorenthalten:
Ich habe vieles erlebt, vieles verpasst, beobachtet, zugehört, geplappert und bin einfach da gewesen.
Es war bunt, bewegt, schrill, leise, heftig, zu viel und zu wenig.
Der Eindruck, dass verschiedene Welten nicht wirklich aufeinander getroffen sind, überwiegt.
Die Community und die Communities blieben mehr oder weniger unter sich.
Die Condomize-Präsenz war mir schlicht zu viel des guten. Überall Kondome.
Ich bin nie ganz klar gekommen mit der Anzahl ihrer Stände im Global Village, in der Exhibition-Hall und im Zwischengang! Omnipräsent. Und plötzlich trugen alle diese T-Shirts. Fast alle.
Condomize. Kondomisieren lass ich mich ungern, auch wenn es Alltag ist auf der politischen Ebene. Schon gar nicht zwei Jahre nach „EKAF„.
Und wie viel Geld dahinter stecken muss… Pharmariesen hätten derlei Präsenz nicht wagen dürfen. Durex schon. Muss das sein? Ist das Global Village verkondomt? Versexualisiert sowieso. Um so mehr möchte ich dann Vielfalt auch bei den Schutz-Strategien und -Verhandlungen. Und nicht in Kondomen untergehen.
Condomize steht schlussendlich gut sichtbar für die (Primär-) Präventions-Überdosierung im Global Village und die tabuisierten, unaufgeklärten Innenansichten der Communities.
Mich erstaunt(e) immer wieder wie zentral die Primär-Präventions-Beteiligung unter Commnunities von Menschen mit HIV/AIDS gewertet ist.
Wie passt das alles zusammen mit „rights now, right here“? Das andere Schwergewicht im Global Village? Selbststigma und Entstigmatisierung / Entkriminalisierung …
Genügend dringende Probleme auf der Alltagsebene die sich ohne Kondome lösen lassen, weil sie sich gar nicht in sexueller Atmosphäre befinden, sind nicht zuletzt auch in Österreich gegeben. Z.B.: von HIV und Arbeit über Artikel 128/129 bis zur Frage ob schon tendenziell zwangs-getestet wird?
Ganz viele Fragen und Eindrücke. Auch was die Organisation und Strategie angeht.
Wie viel Einfluss darf es sein?
Wie viel Vermischung? Wie holt das Global Village die lokale Bevölkerung an Bord?
Wie wird Leben mit HIV/AIDS und Leben von HIV/AIDS gewichtet?
Wann werden die Unterschiede der Interessen benannt und debattiert?
Wie werden die gesammelten Erfahrungen von Local-Team zu Local-Team weitergegeben?
Wer baut Brücken zwischen den Jahren und zwischen den Local-Teams und der IAS?
Denn soweit ich erfahren und verstanden habe, ist keine Kontinuität und kaum Weiterentwicklung gesichert.
Es gibt noch viel zu tun um wirklich in Bewegung zu kommen (zu bleiben?)
„Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat“ – unter diesem Titel hielt Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Organisation von Menschen mit HIV und Aids in der Schweiz, am 1. Dezember eine Rede auf der zentralen Welt-Aids-Tags – Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulkskirche. Die Veranstaltung fand dieses Jahr statt unter dem Motto „Die Würde ist angetastet“.
Im Folgenden die Rede von Michèle Meyer als Dokumentation:
Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat.
Die Würde des Menschen ist angetastet.
Wochenlang bin mit dem Titel dieser Veranstaltung schwanger gegangen. Was ist Würde? Wie fühlt sie sich an? Wo ist sie? Wer hat das Wort erfunden und warum tu ich mich so schwer damit?
Über die Aufklärung führte mein Weg ins alte Rom zu Cicero.
Ich kann nicht viel anfangen mit bedingungsloser Menschenwürde, die doch dauernd mit Füssen getreten wird. Auch wenn sie in den Menschenrechten und in der Verfassung hochgehalten wird, stolpere ich immer wieder über die Lässigkeit mit der sie mir und uns abgesprochen wird.
Ich bin überzeugt, dass wir heute viel näher an Ciceros Würdebegriffen leben, als wir uns eingestehen.
Würde bekommt man und Würde wird einem genommen. Das heisst: ich muss sie mir verdienen und ich muss etwas tun, um sie nicht zu verlieren. Nur: ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht, denn ich bin nicht im Besitz von Würde, sie wird mir nur verliehen und einfordern ist tabu.
Seit ein gewisser Sigmund Ehrmann, SPD Abgeordneter und unter anderem Mitglied der Kreissynode des evangelischen Kirchenkreises Moers, mich resp. uns Menschen mit HIV/ AIDS als Biowaffe bezeichnet hat, bin ich gar nicht mehr sicher, dass das alles in meiner Hand liegt.
Welche Würde hat eigentlich eine Biowaffe?
Ich bin also eine Biowaffe. Vielleicht stimmt es ja und ich tue auch bloss so als wäre ich Mensch. Immerhin kommt der Verdacht öfters auf nicht mehr ganz Mensch zu sein. Sondern bloss HIV-positiv. Reduziert darauf ein Virenträger zu sein. Oder wieder mit Cicero: der Gesellschaft nicht dienlich genug zu sein, um überhaupt Würde zu verdienen.
Heute stellt Gesundheit ein mechanisches Problem dar und Funktion ist das Ziel, nicht Würde.
„Wie haben sie sich angesteckt“ fragt die Schulleiterin und in ihrem Tonfall lauert vulgäre Neugier und die Lust mich zu entwerten. Sag ich jetzt: „Ich hatte Sex, mehr als genug und ich hab’s genossen.“ wird sie vielleicht erröten, sich jedoch bestätigt fühlen: „Die Frau ist ein Flittchen, wusst’ ich’s doch!“. Sag ich: “Mein erster Mann ist an den Folgen von AIDS verstorben“, dann stockt ihr wohl kurz der Atem und sie müsste schon sehr dreist sein, um weiterzufragen. Das wäre dann unter ihrer Würde. Wahrscheinlich.
Welchen Platz in der Gesellschaft haben wir denn, in Zeiten in denen Recht auf Gesundheit in aller Munde ist, aber Recht auf Krankheit als Polemik abgetan wird?
Wenn Verantwortung, die Schuldfrage meint, glaube ich nicht an Würde.. New Public Health ist das Ziel. Und ich bin ein Corpus delicti. *
Und kriminell. Noch immer mache ich mich strafbar, für etwas was de facto nicht möglich ist.
Ein Exempel statuieren. Immer wieder. Nadja Benaissa kam da gerade recht, krank sein und dann auch noch erfolgreich sein wollen? Ein gefallener Engel fällt tiefer. Amt und Würden. Wo denn? Eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, nichts anderes, sei sie… schmutzig, schuldig, verrucht.
Andere mit Schmutz zu bewerfen und zu entwürdigen, damit sind wir manchmal verdammt schnell.
Wer Schuld und Scheitern verkörpert, hat in unserer Gesellschaft längst ausgespielt. Und alle spielen mit. Auch ich. Auch ich habe Moral und Werte verinnerlicht wie alle anderen. Und Selbstentwertung macht mich dann doch wieder interessant. Zumindest als Klientin von Sozialarbeitern, Psychologen und Fürsorgern. Eine ganz Maschinerie lebt gut davon!
Ich könnte mich fügen und eventuell doch noch so was wie Würde erlangen, zumindest Mitleid und Möglichkeiten der Rehabilitation. Eigentlich ist es ganz einfach:
„Gib dein Gesicht für Prävention, als abschreckendes Beispiel, opfere dich selbst und du hast wieder einen Platz mit etwas Würde unter uns Menschen. Hilf der Gesellschaft, schütze sie vor dir und Deinesgleichen“; „ Verstecke dich, aber zeige dein Stigma, das fördert die Spendengelder“… und als Zückerchen gibt’s das volle Programm: Sonderstellung und x- Möglichkeiten sie für mich zu nutzen, Sekundärer Krankheitsgewinn, zum Beispiel jede Menge Mitleid.
Ich kann verzichten auf diese Ersatzwürde. Sie ist an Konditionen gebunden, die mir nicht schmecken. Ich muss mich nämlich reduzieren lassen, verschämt, reuig, unauffällig und vorbildlich der Gesellschaft zu dienen, die mir die Würde trotzdem abspricht. Die an Bilder festhält, die längst überholt sind, falls sie je gegolten haben. Die Sündenböcke braucht um sich Selbst zu rechtfertigen in ihrem Zwang nach Normierung, ihrer Verkrüppelung zur funktionierenden Maschine, die Geld, Erfolg und Unsterblichkeit ausspuckt.
Und solange ich – in der Schweiz- selbst in der Aids-Arbeit nicht gewürdigt werde, kann ich auch verzichten auf Kommissionssitzungen, Subventionen und meine Stellung als Quoten-Positive. Ich gehöre ja nicht mal einer Hochprävalenz-Gruppe an, wen will ich denn vertreten, heisst es immer wieder.
Zudem: „Wer nicht Kondome und Therapietreue predigt, hat nichts zu sagen.“ Was mir natürlich schwerfällt und wohl auch nicht im Sinne des Erfinders von Selbsthilfe wäre… aber wen interessiert Freiheit und Würde des Einzelnen, wenn Machbarkeit nach Gleichschritt verlangt?
Ganz anders schwer drückt manchmal die Würde, wenn nach wiederholter Medienpräsenz, das Telefon klingelt. Wenn Menschen mit HIV und AIDS sich darüber beklagen, dass ich zu gesund aussehe, dass ich zu wenig das Leiden betone und selbstbewusst Forderungen stelle; Wenn mir meine Integration vorgeworfen wird.
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Die Würde des Menschen ist angetastet.
Wie komme ich eigentlich dazu, trotzdem an Würde festzuhalten?
Habe ich eine die mir gehört und wenn ja, wie viel Fremdbewertung erträgt sie, meine eigene Würde? Wie viel Demütigung und Reduktion? Kann ich sie behüten, vor Diebstahl sichern und kann ich sie davon abhalten, sich Selbst zu vergessen? Wie kann ich sie wahren, wenn ein gelber Punkt die Türe zu meinem Spitalzimmer ziert und vom Chefarzt bis zur Zugehfrau alle vorgewarnt sind. Wie, wenn ich kurz nach der Geburt meiner Tochter, die Sozialarbeiterin am Wochenbett stehen habe, die unauffällig meine Mutterqualitäten zu prüfen versucht? Wie, wenn ich von meinen Nächsten zielsicher und zutiefst verletzt werde, fremdgeoutet und ohne recht auf Abgrenzung. Wenn alle Konflikte dahin gelenkt werden, dass ich HIV-positiv bin. Da sind die Andern fein raus und ich stehe am Pranger. Würdelos.
Wie kann ich die Würde leben lassen, wenn ich selbst denke mein Mann sei deshalb etwas besonderes, weil er sich mit einer Positiven eingelassen hat?
Nur: was wissen die Andern denn von meiner Würde? Und was weiss ich selbst? Woher kommt diese Zielsicherheit, diese Überzeugung, ich hätte sie selber verspielt? Durch kondomlosen Sex? Oder eher durch das Ver-fehlen.
Dieses ausserhalb-sein, diese Entwürdigung ermöglicht Narrenfreiheit, manchmal. Was hat Abschaum noch zu verlieren?
Ich brauche mich auch nicht mehr zu tarnen oder so zu tun als gehöre ich wieder zu den Guten, den Reuigen.
Was mich rettet ist Widerstand. Widerstand gegen Fremdbewertung, übergestülpte Hilfe und Kontrolle bis ins Schlafzimmer.
Ich muss stinkfrech den Bildern trotzen, manchmal leise, manchmal laut.
Die passenden Schubladen gibt’s nicht: ich bin integriert, ich bin aussortiert, ich habe keine Würde, ich nehm sie mir.
Dieses Borstige, Widerspenstige rettet mich. Und frei nach dem Lehrbuch gibt’s Empowerment nie ohne Eigenwilligkeit. Wem sag ich das?
Und darum bin ich gefährlich, Ich verführe dazu Fehler zu machen.
Manche behaupten, ganz im Schutz der Meinungsfreiheit, ich sei ein Massenmörder. Irre, hinterhältig und brandgefährlich. Ganze Völker könnten mir folgen.
Dieses inszenierte Entwerten tut weh, macht wütend, aber viel treffender und schmerzlicher ist die Ohnmacht, das Gefühl eine Gesetzlose zu sein und der Schmerz nicht genug bewegen zu können, obwohl die Welt in meinem Kopf Würde verlangt **
( unter uns: mutig war diese Kampagne von Regenbogen e.v. nicht. Weltbank ( dieser Gedanke gehört dem Dirk) , Politiker, Profit&Geiz, Ignoranz sind Massenmörder…
Oder: welche Menschenwürde meinen wir, wenn wir nicht teilen was wir haben? Wieviel sind denn Menschen in Afrika, Asien und Osteuropa wert?
Wieviel Würde ist noch spürbar und wieviel Scham, wenn mir die Pillen im Hals stecken bleiben, angesichts meiner Brüder und Schwestern weltweit…da macht Compliance Spass.
Und allem Unsichtbar raten auf den Aids-Hilfen zum Trotz: ich steh dazu, ich bin ich und meinen HIV-Status gibt’s nicht gesondert davon. Mir muss nicht geholfen werden zum Preis der Fremdbestimmung.
Auch wenn es anstrengend ist, sichtbar, fassbar zu sein; aber wer sagt denn das Anpassen nicht anstrengend wäre.
Dauernde Selbstentwertung macht krank, alt und an Lebensqualität bleibt da nicht mehr viel übrig. Von Würde ganz zu schweigen.
Manchmal überrascht mich das Leben. Zum Beispiel im Dorf wo ich lebe, dort hat Zivilcourage einen hohen Stellenwert und ich habe unverhofft wieder Würde.
Vor wenigen Tagen kam eine Nachbarin auf mich zu. Meine Töchter waren mit anderen Kindern bei ihr zum Essen und spielen eingeladen gewesen. Sie berichtete mir lachend, dass Sofia, die ältere der beiden, bei der Gelegenheit Aufklärungsarbeit geleistet hätte. Sie lachte herzlich zwischen den Sätzen und erzählte wortgetreu, was meine Tochter zu sagen wusste:“ „Mama ist oft im Fernsehen, weil sie ein Virus hat. Aber sie schämt sich nicht, nicht so wie andere, darum wird sie gefilmt. Und wisst Ihr wie man das Virus bekommen kann? Beim „Schätzele“, aber mein papa kann sich nicht anstecken, Mamas nimmt Medikamente.“
Die Selbstverständlichkeit dieser Rückmeldung hat mich sehr berührt.
Nein, ich schäme mich nicht und draussen in der Welt, kann ich notfalls den einen Trick immer anwenden: ich ziehe mir meine Clownnase an, immer dann wenn sich die innere Würde zu vergessen droht, wenn sie meint der anderen, längst verlorenen oder nie erreichten Würde nachrennen zu müssen.
Nicht zufällig habe ich nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, wieder auf den Arbeitsmarkt zu kommen, mich entschieden Clown zu werden.
Der Clown lebt vom Spiel mit den Tücken, er verkörpert die Kunst des Scheiterns und ist zutiefst menschlich: er macht Fehler. Und Fehler. Er spielt und kümmert sich nicht um Normierungen. Er hält dem Mensch den Spiegel hin und wird dafür liebevoll mit Applaus und einem ehrlichen Lachen gewürdigt.
Dann schlage ich selbst dem alten Römer Cicero einen Haken… und lächle in mich hinein – in Würde.
Und gemeinsam können wir was bewegen, wenn JedeR einzelne für seine Würde aufsteht.
Michèle Meyer 1.12.2009
*das Buch gehört Julie Zeh
** der Satz gehört Barbara Starret
*** der Gedanke gehört Dirk
Dank an Michèle und Michael (AH Frankfurt) für den Genehmigung !
Anfang April 2009 wurde eine junge Sängerin unter dem Vorwurf der HIV-Übertragung verhaftet. In den folgenden Tagen findet unter großer medialer Aufmerksamkeit eine Kampagne mit Vorverurteilungen, Outing und stigmatisierenden Bildern statt.
Dazu ein Gast-Kommentar vom Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Schweizer Organisation für Menschen mit HIV und Aids:
Gedanken zur Schmutzkampagne gegen N.B, stellvertretend für Menschen mit HIV und AIDS.
N.B. wurde medienwirksam verhaftet, zwangsgeoutet und vorverurteilt.
Nachfolgend einige Gedanken und Fragen, die sich im Verlauf dieser traurigen Geschichte mir aufdrängten.
Als ich in den Medien von der Verhaftung von N.B. erfuhr, habe ich die Meldung überflogen und als unwichtig erachtet. Ich dachte keinen Moment daran, dass mich dies noch sehr persönlich betreffen würde, geschweige denn, dass es mich in meiner Funktion als Präsidentin von LHIVE betreffen musste!
Wenige Tage später bin ich erschrocken. Journalisten zitierten den Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, welcher Details der ihr vorgeworfenen Anklagepunkte in der Öffentlichkeit äusserte:
„N.B. ist HIV-positiv und hat in mindestens drei Fällen ihre Sexualpartner wissentlich dem Risiko einer HIV-Infektion ausgesetzt. In einem Fall kam es zur Ansteckung. Das Ganze sei im Zeitraum von 2002-2006 geschehen, und da Gefahr im Verzug war, wurde sie inhaftiert.“
Ich dachte der redet sich um Kopf und Kragen. Aber nein, Schlagzeile über Schlagzeile, immer und immer wieder wurde er zitiert, angereichert mit weiteren Spekulationen und vermeintlichen Details aus N.B. s Leben. Ein gefundenes Fressen…
Die Unschuldsvermutung schien plötzlich nicht mehr zu gelten, Persönlichkeitsrechte und der Schutz von heiklen medizinischen Daten entfallen? Argumentiert wurde mit öffentlichem Interesse und Vorbildfunktion – und wie erwähnt mit Wiederholungsgefahr.
Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so einschneidend tragisch für den Menschen N.B. und für „uns“ Menschen mit HIV und AIDS wäre.
Von wegen Gefahr im Verzug, was hier geschah war Zwangsouting, zum Schutz der sogenannten Volksgesundheit. Später wurde übrigens bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Krankenakte von N.B. hat beschlagnahmen lassen. Dies alles obwohl noch nicht geklärt war ob N.B. überhaupt HIV-positiv ist, in einem erst angelaufenes Verfahren, ohne Beweise.
Ich dachte medizinische Daten seien besonders schützenswerte Daten? Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft hausiert einfach so mit nicht verifizierten Daten einer Angeklagten und spielt sich als moralischer Gesetzesvertreter in den Medien gross auf?
In der U-Haft wurde von N.B. von einer Ärztin und Vorstandsfrau des Vereins der Aids-Aufklärung Deutschland besucht, die ihr Arztgeheimnis und ihr Engagement mehr als fragwürdig auslegte, denn sie gab „der Bild“ ein Interview und outete N.B. gleich nochmals.
Ein Abgeordneter sprach von Menschen mit HIV, als Biowaffen; übrigens noch nicht einmal einklagbar… einfach so, darf der das.
Mein Glauben an das Rechtssystem hat schwer gelitten. Vorverurteilung, Diskriminierung scheint zulässig, denn Menschen mit HIV sind unmoralisch und deshalb Menschen zweiter Klasse.
Das Bild der gefährlichen kriminellen Menschen mit HIV, der Unverantwortlichen, Schmuddligen war wieder hergestellt und wurde regelrecht zelebriert.
Wer trägt eigentlich Verantwortung für soviel Unwissen und Diskriminierung? Wem dienen diese Bilder? Was haben die Journalisten und die Behörden und Aids-Hilfen in den letzten 25 Jahren verpasst an Aufklärung, dass solches heute, 2009, möglich ist? .
Nicht genug tauchte dann noch ein Anwalt auf, der sich ins Szene setzte, und vom Medienype zu profitieren versuchte; Legt ein Mandat nieder, dass er nie hatte. Unglaublich.
Ich musste handeln, so versuchte ich mich mit anderen HIV- AktivistInnen kurz zu schliessen, mit der Frage was tun wir und wie? Wie ohne N.B. zu schaden und immer die heikle Frage: „ schaden wir „uns“ durch irgend ein Solidaritätsbezeugnis mit ihr“? Eine Frage die mir Bauchschmerzen bereitete. Ich mag es nicht, wenn eigene Interessen zu Ent-Solidarisierung führen.
In der Blogwelt herrschte unterdessen Stammtischstimmung.
Sehr unangenehm berührten mich die vielen Voten von Menschen mit HIV, die sich distanzierten, N.B. vorverurteilten und sich als „gute, unschuldige HIV-Positive“ präsentierten.
Verstehen kann ich solches nur im Kontext eigener Verletzungen, Stigma und Selbst-Entwertung. Als Versuch sich zu rehabilitieren und als Flucht nach vorne.
Viele Andere wiederum zeigten, wegen des Falles von N.B., um so mehr Angst und Scham sich zu HIV und AIDS zu bekennen. Nicht nur virtuell, sondern im realen Leben.
Persönlich hat mich die Schmutzkampagne gegen N.B. und Menschen mit HIV und AIDS getroffen.
Wir sind schmutzig, gefährlich, schuldig und kriminell. Unabhängig von wissenschaftlichen und medizinischen Fakten; die Meinung ist gemacht.
Mein unerschütterliche Glaube an die Möglichkeit Stigma und Selbststigma zu begegnen und aufzulösen, ist schwer ins Wanken geraten. Mich beschäftigten die Fragen: Wie können wir die Mechanismen entkräften, die uns zu Menschen zweiter Klasse machen? Wird noch zu meinen Lebzeiten HIV als eine Infektionskrankheit wahrgenommen, wie andere auch?
Wohltuend war die deutliche Stellungnahme der Deutschen Aids Hilfe gegen die Verhaftung und Vorverurteilung von N.B. und die differenzierten und kritischen Meldungen in einigen Medien, die sich schon länger zum Thema HIV mutig, informativ und konsequent äussern. Besonders zu erwähnen sind die beiden Blogs: „ondamaris“ und „der blidblog“.
Dies hat mich ermutigt in mitten dieser Hetzte gegen N.B und Menschen mit HIV und AIDS in die Öffentlichkeit zu gehen und in der Sendung „Stern TV“ von Günter Jauch aufzutreten.
Eine Möglichkeit die EKAF- Botschaft hinauszutragen, einen Kontrapunkt zu setzen gegen Scham und Schuld: selbstbewusst HIV-positiv.
Leider ist es mir bisher nicht gelungen einen direkten Kontakt mit N.B. herzustellen, trotz vielen Versuchen.
Zehn Wochen nach ihrer Verhaftung sitzt sie selbst bei Günther Jauch. „ Ja ich bin HIV-positiv. Nun kann mich keiner mehr erpressen.“, sagt sie in ihrem ersten Interview und dass sie für ihr Recht kämpfen werde. Zu den Vorwürfen kann sie sich nicht äussern, solange der Rechtsfall nicht abgeschlossen ist. Sie hat ihre Situation als Prominente, als Mensch und Mutter geschlidert und bestimmt damit auch berührt.
Leider äusserte sie bis jetzt noch keinen Satz in „unsere Richtung“… kein Wort auch über die Solidaritätsbekundungen von Menschen mit HIV und AIDS, die sie erreichten seit ihrer Verhaftung. Schade.
Trotzdem hat sie rechtzeitig vor ihrem ersten Konzert nach der Verhaftung die Berichterstattung über ihre Person wieder selbst in die Hand genommen.
Nur, und das gilt für uns alle, wer hat wirklich Kontrolle über seine heiklen Daten, über seine Antworten auf Fragen zur sexuellen Gesundheit, Vorlieben, Compliance?
Wer weiss, was er wem anvertrauen kann? Und wieviel Einfluss können wir nehmen auf das Bild, von Menschen mit HIV das durch die Journalisten geprägt wird?
Wer bestimmt über sein Coming out wirklich selbst?
Warum sollten wir uns verstecken? Wegen Irrationalitäten, Unwissen und dem brauchbaren Bild des gefährlichen Unverantwortungslosen, der Andere abschrecken soll sich zu infizieren? Macht uns unsere Unsichtbarkeit nicht zum Spielball? Was lassen wir uns gefallen und wie werden wir zu Handelnden?
N.B. wurde zum Outing gezwungen, während fast zeitgleich in den U.S.A ein Abgeordneter gewählt wurde, der offen schwul und HIV-positiv ist. Die Schere geht auf. Wir können uns entscheiden.
N.B. hat als Prominente erfahren was ein Leben mit HIV bedeutet, was es für Menschen mit HIV im Alltag bedeutet…ich wünsche mir, dass Menschen mit HIV N.B. tragen können und viceversa.
Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Haftbefehl gegen N.B. aufgehoben wurde. Hoffen wir, dass das Verfahren eingestellt wird und sich Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt und Journalisten genauso öffentlich zu ihrem eigenen Fehlverhalten stehen.
Interview mit Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Organisation von Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz. Michèle Meyer weiß seit 1994 von ihrer HIV-Infektion. Die 43Jährige ist Mutter zweier Kinder.
Michèle, du bist Präsidentin von LHIVE. Wie kam es zur Gründung von LHIVE?
Nachdem die nationale Organisation P.W.A-Schweiz [PWA = People with Aids, Menschen mit Aids, d.Verf.] 1997 liquidiert wurde, gab es nur noch vereinzelte, kleine, regionale Organisationen. Eine Handvoll AktivistInnen hatte schon länger im Sinn endlich wieder etwas ins Leben zu rufen, als uns das Schweizer AIDS-Forum im Dezember 2005 die nötige Plattform gab um laut darüber nachzudenken. Wir stellten dieselben Bedürfnisse in einer grösseren, anwesenden Gruppe von Menschen mit HIV und AIDS fest und sind das Wagnis mit sofortiger Aufbauarbeit eingegangen.
Unschwer erkennbar war damals eine große Unzufriedenheit mit einerseits dem Einzel- Klienten-Status, den Menschen mit HIV und AIDS bei der AIDS-Hilfe Schweiz inne haben und andererseits mit der Privatisierung und Isolation in einer spürbar repressiven und unsolidarischen Alltagsrealität, die immer mehr von den realen Möglichkeiten eines Lebens mit HIV und AIDS abwich.Wir haben uns zu zehnt durchgebissen und konnten am 5. Mai 2007 LHIVE mit 45 Gründungsmitglieder ins Leben rufen.
Was sind die Ziele von LHIVE?
Ich zitiere aus unserem Leitbild: Das Ziel von LHIVE ist E-Quality.
E-Quality steht für Gleichstellung von Menschen mit HIV und AIDS und eine vom Serostatus unabhängige Lebensqualität in allen Lebensbereichen. Das bedeutet eine Lebenserwartung und Lebensqualität, die mit jener der Gesamtbevölkerung übereinstimmt.
Um unser Ziel zu erreichen, müssen wir uns mit den Themen Stigma, Selbststigma, Solidarität und Diversität auseinandersetzen und uns der aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Haltungen und Veränderungen bewusst sein.
Wir nutzen Selbstvertretung, Selfempowerment, GIPA ( greater involvement of people living with HIV and AIDS, der Einbezug von Menschen mit HIV und AIDS auf allen strategischen und operativen Ebenen der AIDS- Arbeit. Siehe dazu: Paris 1994 Unaids) , Visibilität, Aufklärung und Networking als Arbeitsinstrument. Was heißt das konkret?
LHIVE gibt der Überwindung von Selbststigma ein großes Gewicht. Bei größtem Respekt vor den persönlichen Lebenshintergründen des Einzelnen, wollen wir die Menschen mit HIV/AIDS in die Lage versetzen, ihre Selbstverwirklichung ohne Bezug auf das Virus und die entsprechenden negativen Effekte, umzusetzen.
Grundpfeiler unserer Zielsetzung und Voraussetzung für nachhaltige Prävention ist Solidarität.
Wir orientieren uns an der Paris Deklaration und den Denver Principles.
Das heißt, wir befähigen uns selbst, in allen relevanten Gremien zu den aktuellen Themen rund um HIV und AIDS mitbestimmen zu können. Wir arbeiten aktiv bei der strategischen Gestaltung der schweizerischen AIDS-Arbeit mit.
Jüngst ist ja der Beschluss der EKAF zu Infektiosität bei erfolgreicher Therapie erschienen. Waren Menschen mit HIV/Aids an dem Entstehen dieser Stellungnahme in der Schweiz in irgend einer Form beteiligt?
Ja, das waren wir. Und sind es noch. LHIVE hatte bereits im März 2007 innerhalb der nationalen HIV und AIDS-Landschaft deutlich dazu aufgefordert die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Nicht-Infektiosität öffentlich kohärent zu kommunizieren. Wir haben klar Stellung genommen für eine transparente Aufklärung der gesamten Bevölkerung, um der Glaubwürdigkeit der Prävention nicht weiter zu schaden, und um der Zensur auf Kosten der Lebensqualität von Menschen mit HIV und AIDS ein Ende zu setzen.
Die EKAF und das Bundesamt für Gesundheit musste damit rechnen, dass wir nicht mehr lange warten und das Schweigen brechen würden auch ohne Rückendeckung. Wie das?
LHIVE ist seit März 2007 ständiger Gast bei der EKAF und seit Januar dieses Jahres stimmberechtigtes Mitglied der Komission. Wir konnten zwar stimmlos aber beratend bei der Vernehmlassung zur Veröffentlichung mitwirken.
Rund um die Veröffentlichung hatte Herr Prof. Vernazza unsere Organisation angefragt in zwei, drei Medienbeiträgen mitzuwirken. LHIVE hat dann auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung hin auch eine eigene Medienmitteilung versandt.
Ich habe vor kurzem von dir auf die Stellungnahme der EKAF und einige aufgewühlte Reaktionen hier in Deutschland die einfache Frage gelesen „warum freuen wir uns nicht einfach?“
Ja, warum freuen wir uns nicht einfach?
Ich glaube, da spielen viele Faktoren eine Rolle:Die Angst vor der noch grösseren Entsolidarisierung. Infektiös gegen nichtinfektiös als neue Gruppierungsmöglichkeit. Dann die Angst vor neuen Abhängigkeiten und Zwängen.
Und die tief verwurzelte Spannung zwischen den eigenen Interessen und dem Märtyrium. Dieses „AIDS stops with me“ in uns, diese dringende Aufopferung in der Primärprävention und die Unmöglichkeit sich davon ganz zu lösen, weil wir sonst nur noch außerhalb der Gesellschaft stehen und die ahnbaren Folgen und Konsequenzen davon, verhindern nackte, auf uns selbst bezogene Freude.
Du hast geäussert, viele „HIV-Positive verstecken sich nicht zuletzt, weil sie keine Möglichkeit sehen, dem Bild des hochgefährlichen und verantwortungslosen (und unanständigen) Menschen, das in der Öffentlichkeit noch immer vorherrscht, zu begegnen“.
Sicher sind immer noch viele HIV-Positive nicht ‚offen‘. Aber gibt es dieses Bild des hochgefährlichen, verantwortungslosen Positiven heutzutage noch so?
Ja. Es hat sich nicht viel verändert in den letzten 25 Jahren. Die HIV-Infektion ist eine unanständige Krankheit der Anderen, der Fremden.
Dieses Bild wurde teilweise auch durch Präventionsbotschaften und -Strategien bewusst hochgehalten, oder zumindest in Kauf genommen, als Mittel zum Zweck: Das Schüren von Angst, Verunsicherung vor und somit Ausgrenzung von Menschen, von Menschen mit HIV und AIDS sollte weitere Infektionen verhindern.
Darunter fällt auch das (8!) jahrelange Verschweigen der Erkenntnisse rund um die Infektiosität/ Nicht-Infektiostät, das Benennen der Zielgruppen bzw. die wiederholte Bekanntgabe in welche Zielgruppe wie viele Neu-Diagnosen stattfinden, die Plakatkampagnen (in der Schweiz) von den Degenfechterinnen über die armen versteckten Opfer…
Wird der neue Beschluss der EKAF Auswirkungen auch im Bereich ‚HIV und Strafrecht‘ haben?
Das hoffen wir natürlich sehr. Das Epidemiegesetz ist soeben in der Vernehmlassung für die Revision (einer Art schriftlichen Anhörung mit „Korrektur“wünschen bei Parteien, Kantonen, beteiligten Behörden und Akteure der zivilen Gesellschaft, als Arbeitsgrundlage für die Entscheidungsorgane). Wir arbeiten in dieser Vernehmlassung mit, und die bereits unterbreiteten Vorschläge z. B. zur Änderung des Artikel 231 des StrafGesetzBuches weisen in diese Richtung. Das heißt, die Rechtssprechung würde dann nur die „böswillige Übertragung“ betreffen und nicht mehr die „versuchte Verbreitung“ einer gefährlichen menschlichen Krankheit.
Noch einmal zurück zu LHIVE. „Menschen mit HIV und Aids Gesicht und Stimme geben“, ist das Motto von LHIVE. In Deutschland gibt es ja keine große bundesweite Organisation von und für Menschen mit HIV/Aids. So mancher mag sich da fragen: warum ist das nach 25 Jahren Aids immer noch erforderlich?
HIV und AIDS ein Gesicht und eine Stimme zu geben? Unsichtbarkeit täuscht schon länger. Wenn wir uns nicht hörbar und sichtbar den Herausforderungen stellen, werden wir in der Privatisierung und Globalisierung untergehen. Das klingt plakativ, und soll es auch. Weißt Du, wir sind länger schon gut eingebettet, verwaltet und verpflegt mit medizinischen und rechtlichen Informationen, Kursen und Kürschen, etwas touchy-feely und viel individuell zugeschnittenen Feuerwehrübungen, Beratungsangeboten und auch alltäglicher und finanzieller Hilfe. Alles aber immer unter dem Aspekt des Kliententums und des Opfer-Täter-Schemas.
Das birgt einiges an guter Versorgung und Sonderstatus, aber es ist auch eine Falle, es zementiert schlussendlich nur Stigma und Selbststigma. Und genau da wollen wir entgegenwirken: der Weg in eine Normalität, in der die HIV-Infektion gesundheitliche Einschränkungen bedeutet, denen mann und frau sich widmen und eigene Ressourcen freilegen und nutzen kann, ohne sich an Fremdbild und Selbstbild andauernd abzustrampeln, führt über hör-und sichtbar Werden, über Einmischung und Integration.
Michèle, vielen Dank für dieses Interview!
Mehr Informationen zu LHIVE finden Interessierte auf www.lhive.ch
Oder auf dem Postweg: LHIVE 4434 Hölstein Schweiz, Tel: 0041 61 951 20 88