Kondome – ein verblassender Mythos?

„Kondome sind nicht die niedlich geredeten „flutschigen Dinger“ aus den frühen Anzeigen der Deutschen Aids Hilfe. Sie sind nicht „in“, schick, schrill oder der letzte Schrei. Soviel Spaß kann das gegenseitige Überstreifen nicht machen, wir wären sonst früher darauf gekommen“ wettert der leider an den Folgen von Aids früh gestorbene Detlev Meyer 1988 in einem Leporello für die Deutsche Aids Hilfe, um dann allerdings zu konstatieren, dass es aber zu ihnen keine Alternative gibt.

Auch wenn das Kondom lange als Goldstandard der Prävention galt, sind, wie Martin Dannecker immer wieder feststellt, die Vorbehalte gegen das Kondom geblieben, sei es aus der Sicht der Positiven die Erinnerung an die eigene Infektion, sei es allgemein in der Behinderung sich im Akt unkontrolliert treiben zu lassen, den Impulsen des Augenblicks zu folgen, sich zu verschmelzen, zu verströmen, den anderen aufzunehmen.

Daneben gab es immer die ideologischen Vorbehalte etwa der katholischen Kirche. Der Münchener Aids Hilfe wurde untersagt, Kondome in Kneipen zu verteilen, weil dies gegen das Ladenschlussgesetz verstoßen sollte, Saunen für schwule Männer wurde wegen der Bereitstellung von Kondomen die Schließung angedroht. Die Zerschlagung der schwulen Szene wurde gefordert.

Als nächstes erlebten wir einen Diskurs, schwule Kneipen und Saunen zu belangen, wenn sie keine Kondome zur Verfügung stellen. Gebots- und Verbotsphantasien sind für das schwule Leben und für den Bereich der gewerblichen Sexarbeit ständiger Begleiter seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Der Bundes Zentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutschen Aids Hilfe verdanken wir, dass Kondome heute nicht mehr nur im Zwielicht der Herrentoiletten aus dem Automaten zu beziehen sind sondern als ganz alltägliche Gebrauchsartikel angesehen werden, die neben der Schwangerschaftsverhütung vor allem ihre Bedeutung in der Verhütung sexuell übertragbarer Krankheiten haben.

Dabei ist für das schwule Leben das Kondom erst einmal auf die Vermeidung der HIV-Übertragung fokussiert worden und so getan worden, als könne man jede Infektion vermeiden, als sei das mit dem Safer Sex doch ganz einfach. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt postulierte dann auch, dass man von 50 Jährigen doch wohl erwarten könne, dass sie wissen, wie es geht. Merkwürdigerweise richteten sich diese Erwartungen der Politik nur an die schwulen. Männer.

Es gibt ja ein Paradox. Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Prävalenz infizieren sich mehr schwule als heterosexuelle Männer mit HIV, obwohl sie sich im Schnitt wesentlich besser schützen als die heterosexuellen. Von Kondomquoten von etwa 70 % bei insertivem Sex im Rahmen flüchtiger Begegnungen kann man für das heterosexuelle Leben doch nur träumen. Würden schwule Männer das heterosexuelle Verhalten übernehmen, hätten wir deutlich höhere Infektionsraten. Dennoch wurde bei jeder Veröffentlichung des RKI darüber spekuliert, was denn schon wieder mit den schwulen Männern los ist. So entdeckte man – darauf bezog sich der Kommentar der Ministerin – die besonders riskierten Älteren. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass lediglich geburtenstarke Jahrgänge aufgerückt waren.

Martin Dannecker erkennt hinter der Frage, wie man sich heute noch infizieren kann, einen gewissen Pathologieverdacht, eine Schuldzuweisung, das Konstatieren eines Scheiterns. Dabei wird übersehen, dass es sich bei kondomfreier Sexualität im Grunde um ein völlig natürliches Verhalten handelt, das den Heterosexuellen ganz selbstverständlich zugestanden wird. Trotzdem wird das Kondom von schwulen Männern, wie Michael Bochows Studien belegen, in breitem Maße angewendet. Es ist für Dannecker eines der beeindruckendsten Ergebnisse der Präventionspolitik und der Individuen, wie sehr Verhalten geändert wurde.

Als schwuler Mann ist man im Austarieren von Nähe und Distanz gut beraten, sich die Auswirkungen der unterschiedlichen Prävalenzen klar zu machen, was bei flüchtigen Kontakten zur Sinnhaftigkeit des Kondomgebrauches führen kann. Aber man muss doch auch verstehen können, dass Individuen sich situativ oder habituell anders entscheiden, andere Bedürfnisse nach Nähe, Verschmelzung und Verströmen haben.

In diese seelische Gemengelage, die mit dem Kondom jedenfalls nicht wirklich für alle befriedigend aufzulösen war, geriet nun die Erkenntnis, dass der gut therapierte HIV infizierte Mann das ideale Gegenüber für völlig ungeschützten Sex ist. Sie wurde aber durch Bilder überdeckt, die immer noch die Gefahren an einer epidemiologisch völlig unbedeutenden Ecke theoretischer Restrisiken auch beim gut Therapierten betonte und damit auch verortete. Und dann gibt es unterschiedliche Wissensstände, Vertrautheiten, Bilder von HIV, Aids und seiner Übertragung. Das macht die Sehnsucht nach einfachen Lösungen erklärlich. Das Leben hält nur keine einfachen Lösungen bereit und ungefährlich, seelisch oder körperlich, war Sexualität noch nie.

Getrieben war der Diskurs nicht etwa von dem Bemühen, den Menschen mehr Handlungsoptionen zu geben sondern von der Angst, jetzt nehme niemand mehr ein Kondom. Alle sexuell übertragbaren Krankheiten würden nun fröhliche Urstände feiern. Und weiss nicht jede Schwerpunktpraxis von den wiederholten Syphilis und Hepatitis C Infektionen ihrer positiven Patienten zu berichten? Und war nicht vor Jahren eine Barebackdebatte im Gang, die mal wieder zu übelsten Verbotsphantasien führte? Dabei geht es im Kern darum, dass im wesentlichen Positive in relativ geschlossenen Zirkeln untereinander wegen HIV keinen Schutz mehr brauchen und den Rest als tolerierbar für ihr Leben ansehen, jedenfalls als den geringeren Preis gegenüber dem Triebverzicht. Anders ist die statistische Verteilung, die die Syphilis und Hepatitis C -Infektionen im wesentlichen bei den positiven Männern zeigt, nicht zu erklären.

Vielen Menschen gelingt es, eine Kompromisslösung zwischen dem Gesundheitsdiktat, mit dem sie ständig auf Risiken hingewiesen werden und dem, was sie individuell wollen, zu finden. Das Aushandeln der Rahmenbedingungen der Sexualität im Rahmen der negotiated Safety ist eine Antwort der Seelen. Da hat sich erfreulicherweise etwas Bahn gebrochen, worauf die Seele nicht ohne Schaden verzichten konnte. Die strikten Ge- und Verbote vorher haben den Menschen individuell nicht gut getan.

Nach der CROI 2012 in Seattle erwartet uns ein neuer Diskurs. Pietro Vernazza stellt auf Infekt.ch eine Studie vor, die belegt, dass die PrEP mit 4 x wöchentlich Truvada sicher ist. Wir lassen jetzt mal die ethischen Fragen beiseite, ob es vertretbar ist, HIV Medikamente zur Prävention einzusetzen, solange weltweit – und übrigens auch in Deutschland für Nicht Krankenversicherte – der Zugang zu medizinisch notwendigen Therapien nicht gesichert ist. Wir lassen beiseite das alte Phänomen, dass Gesundheitsschutz auch eine Frage des Geldes ist. Mit etwa 400 € im Monat ist die pharmazeutische Prophylaxe nicht gerade billig. Aber vielleicht wird sich erweisen, dass die Pille davor und danach, oder vielleicht nur davor, oder vielleicht mit billigeren Substanzen auch reicht.

Interessant daran ist zweierlei. Es verweist darauf, dass Schutz vor HIV eine ganz egoistische Triebfeder hat. Die Verantwortungsdebatte der letzten Jahre, die die Gefahr beim wissenden Positiven verortete, ging an dem Problem vorbei, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl der HIV Infektionen zwischen Menschen stattfindet, die mehr oder weniger guten Gewissens davon ausgehen, nicht positiv zu sein. Ebenso wie die schädlichen Strafverfahren verstärkte die falsche Zuschreibung der Verantwortung an die Positiven die Möglichkeit, HIV als etwas zu betrachten, dass nicht mit dem eigenen Lebensstil verbunden ist sondern als etwas Außenstehendes.

Zum zweiten ist schon bemerkenswert, dass dieselben Forscher, die sich vehement auf die Restrisiken bei der Erklärung der EKAF zur Nichtinfektiosität unter Therapie gestürzt haben und sie nicht laut genug und wider besseres Wissen verkünden konnten, jetzt erhebliche Energien in die Erforschung der doch eher elitären PREP investieren.

Wenn jetzt endlich in diesem Zusammenhang breit öffentlich kommuniziert wird, dass die Therapien hoch wirksam sind, nicht nur in der Verhinderung der Progression der Krankheit sondern auch im Liebesleben, soll es mir recht sein. Denn nur eine wahrhaftige und realistische Schilderung dessen was HIV und Aids heute in unseren Breiten sind, bereitet den Boden für einen unaufgeregten Umgang.

Und der beinhaltet für Paarungen im Rahmen eines vertrauensvollen Umgangs möglicherweise die ART als Schutz vor der Übertragung von HIV, für den Selbstschutz für einige wenige die PrEP, für viele das Praktizieren nicht HIV-relevanter Praktiken und für die vielen flüchtigen Begegnungen das Kondom oder das Femindom. Mancher entscheidet sich habituell oder situativ dafür mit dem Risiko einer Infektion zu leben. Das darf er auch, so wie andere das Risiko von Sportverletzungen eingehen oder sich überhaupt den Gefahren des Alltags aussetzen.

Es kann einem aber auch in der Berliner Scheune passieren, dass ein Mann erklärt: „Hier muss man es ja extra sagen. Ich bin negativ und möchte es auch bleiben“. Da ist es doch sehr komfortabel antworten zu können. „Das ist doch kein Problem. Es gibt Gummis und Handschuhe. Ich bin positiv, seit langem unter der Nachweisgrenze. Da wäre es noch nicht mal tragisch, wenn irgendetwas mit einem Pariser schief geht.“ Die Verkaufszahlen für Kondome steigen übrigens immer noch an. Es ist halt ein bewährtes Hilfsmittel gegen sexuell übertragbare Infektionen und gegen die Ängste.

Ich jedenfalls bin der Forschung, der Pharmaindustrie und den Ärzten dankbar, dass die Bandbreite der Verhaltensmöglichkeiten erweitert wurde und dies inzwischen auch endlich offen kommuniziert wird.

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(Bernd Aretz)

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Auch 2015 kann ‚Safer Sex ohne Kondom‚ noch Aufregungen verursachen …

4 Gedanken zu „Kondome – ein verblassender Mythos?“

  1. Bernd,
    Dein Beitrag ist ganz ganz große Klasse! Du sprichst mir aus dem Herzen. Ich habe nichts hinzuzufügen und halte Dir eher ein virtuelles Riesenmegafon hin 🙂

  2. Bernd,

    im Großen und Ganzen ein wirklich guter Artikel, aber eine Kleinigkeit möchte ich anmerken, der Genauigkeit halber. Du hast geschrieben: „Würden schwule Männer das heterosexuelle Verhalten übernehmen, hätten wir deutlich höhere Infektionsraten. „. In Bezug auf die Prozentzahl der Kondomverwendung mag das richtig sein, man darf aber dabei nicht vergessen, dass das Verhalten andererseits bei den Schwulen doch sehr viel promiskuitiver ist. Es werden mehr Kondome benutzt, weil sie auf Grund der hohen Prävalenz und der hohen Partnerzahl auch eher notwendig sind. Und selbst wer monogam lebt, hat durch den „Netzwerkanschluss“ ein höheres Risiko sich zu infizieren, als bsp. ein heterosexueller Puffgänger. Mein Punkt ist: Man sollte nicht lobend die hohe Kondomverwendungsrate heraus putzen und die hohe Promiskuität verschweigen. Die offiziellen Neuinfektionszahlen der letzten Jahre sind für die Schwulen schon „beschämend“ genug, wenn man dann noch im Infoblatt des RKI liest, das wohl ein erheblicher Anteil der als heterosexuell gemeldeten Übertragungen tatsächlich auf MSM-Kontakte zurück zu führen sind, so spricht dies nicht gerade für eine Vorbildfunktion.

  3. @ knut: nicht wirklich. Dass sich trotz erfolgreicher ART immer noch Viren im Blut befinden können (auch unter der Nachweisgrenze bis 50 Kopien/ml) und auch im Sperma ist nicht neu. Die Frage ist doch, welche Mengen erforderlich sind, um eine HIV Infektion weiter zu geben. Und da ist die Einschätzung nicht nur der EKAF seit Jahren sondern inzwischen auch des Nationalen AIDS Beirates, dass Therapie mindestens so sicher ist wie Kondomgebrauch. Das RKI sieht die in den letzten Jahren gesunkenen Zahlen als u.a. Folge des früheren Therapiebeginns aufgrund der geänderten Therapieleitlinien.
    Letztlich ist es jedem doch unbenommen, auf dem Gebrauch von Kondomen zu bestehen, wenn ihm die ART zu unsicher ist. Kondome können doch auch schlicht gegen Ängste helfen. Wo also soll das Problem liegen?

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