Prävention muss aufklärerisch ansetzen

Anlässlich des Starts der bundesweiten Präventionskampagne „ich weiss, was ich tu!“ am 13.10.2008 dokumentieren wir hier die Rede, in der Dr. Dirk Sander die Hintergründe der Kampagne erläuterte:

Dr. Dirk Sander 13. Oktober 2008 / 11.30

ICH WEISS WAS ICH TU – Start-Pressekonferenz

Vielen Dank Frau Prof. Dr. Pott und vielen Dank Winfried!

Ich möchte Ihnen jetzt kurz die Hintergründe unserer neuen Kampagne erläutern.

Die HIV-Prävention in der Bundesrepublik Deutschland – das wurde schon gesagt – ist auch im internationalen Vergleich als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen.

Diese Aussage mag einige von Ihnen verwundern:

Beobachten wir doch seit Beginn dieses Jahrtausends einen Anstieg der HIV-Neudiagnosen, insbesondere in der Gruppe, die seit Beginn der Aids-Epidemie in den 80er Jahren am meisten von HIV und Aids betroffen war -und ist. Nämlich bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben. Wir beobachten diesen Anstieg gleichfalls in einer Gruppe, die – so zeigen es soziologische Studien – in aller Regel auch bestens über Infektionswege und Schutzmöglichkeiten aufgeklärt zu sein scheint.

Über die Gründe für diesen Anstieg ist auch in den Medien in den letzten Jahren viel spekuliert worden: Es wird z.B. immer wieder eine „neue“ oder „wiederkehrende Sorglosigkeit“ im Schutzverhalten bei schwulen Männern behauptet. Skandalisierend wird von „Pozzern“ und „bug-chasern“ berichtet. Diese mag es geben, allerdings stellen sie dann ein absolutes Randphänomen im HIV-Infektionsgeschehen dar. Wenig wird sich übrigens bei der teilweise reißerischen Berichterstattung mit der Frage auseinandergesetzt, welche sozialen und psychischen Hintergründe ein solches selbst- und fremdschädigendes Verhalten haben könnte.
Auch geraten immer wieder HIV-positive unter Generalverdacht! Sie hätten deshalb mehr – wenn nicht die alleinige Verantwortung für die epidemiologische Entwicklung zu tragen. Diesen Anspruch lehnen wir allerdings aus guten ethischen aber auch medizinisch-therapeutischen Gründen ab. Darauf komme ich noch mal zurück.

Pressekonferenz zum Start der Kampagne (Foto: DAH)
Pressekonferenz zum Start der Kampagne (Foto: DAH)

Als Begründung für die unterstellte „zunehmende Sorglosigkeit“ wird behauptet, dass die Ursache für ein abnehmendes Schutzverhalten in den beeindruckenden medizinisch-technischen Entwicklungen in der Behandelbarkeit der HIV-Infektion zu sehen sei. Diese Fortschritte haben nämlich in den letzten zehn Jahren dazu beigetragen, dass eine HIV-Infektion – wenn sie rechtzeitig erkannt wird -, nicht mehr wie früher schnell zu AIDS und einem frühen Tod führt. Wir sprechen heute allgemein von HIV als einer chronischen behandelbaren Krankheit mit langen Überlebenszeiten, die allerdings durch viele negative körperliche, seelische sowie soziale Einschränkungen und Einschnitte gekennzeichnet sein kann.

Auch deshalb lohnt es sich weiterhin, sich vor HIV zu schützen!

Behauptet wird aber ohne empirische Belege, dass – kurz gesagt – die Angst abgenommen habe und deshalb das Schutzverhalten erodieren würde.

Aber der Schutz vor HIV ist kein Auslaufmodell!

Im Gegenteil! Die Schutzmotivationen sind auch nach 25 Jahren „Safer Sex“ – Botschaften bei 80 % unserer Zielgruppe ungebrochen hoch. Bei weiteren 10 % kommt es zu sporadischen Risikokontakten, – soweit jedenfalls die Zahlen in der aktuellen Erhebung von Michael Bochow und Axel Schmidt. Auch andere Studien stellen keine Abnahme der Schutzmotivationen fest.
Trotzdem haben wir einen Anstieg in den Neuinfektionen seit Beginn dieses Jahrtausends zu verzeichnen.

Wie hängt das zusammen, fragt man sich? Und hier komme ich nun zur Beantwortung der Frage, warum wir die Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ in dieser Form entwickelt haben.

Der Anstieg der HIV-Infektionen ist nämlich auf ein komplexes Bedingungsgeflecht zurückzuführen.
1. Erstens: Zum einen ist HIV durch andere sexuell-übertragbare Infektionen – wie z.B. die seit Beginn dieses Jahrtausends grassierende Syphilis – wieder leichter übertragbar. Liegt aber eine ulzerierende (geschwürige) Infektion wie z.B. die Syphilis vor, so ist es für HIV einfacher, anzudocken. Das gilt zum einen für den HIV-negativen Partner, der eine solche Syphilis-Infektion hat. Das gilt aber auch für gut therapierte schon HIVpositive Menschen: Hier erhöht eine zusätzliche andere sexuell-übertragbare-Infektion die Übertragungswahrscheinlichkeit. Denn, und das möchte ich an dieser Stelle auch festhalten: Eine erfolgreiche HIV-Therapie verringert auf individueller Ebene die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV immens.
Insgesamt müssen wir also stärker noch als bisher die Infektionswege und Behandlungsmöglichkeiten anderer sexuell-übertragbarer Infektionen in der Prävention aufgreifen.

2. Zweitens: Wir gehen von einer gar nicht geringen Anzahl von Menschen aus, die nicht wissen, oder nicht wissen wollen, wie ihr Immunstatus ist. Wir wollen die Leute aber zum Test ermuntern. Das ist uns auch zum Teil schon in den letzten Jahren gelungen: Schwule Männer lassen sich im Vergleich zu anderen Teilgruppen der Gesellschaft öfter testen. Auch das ist ein Grund für den Anstieg der Neudiagnosen. Wir wollen aber trotzdem niedrigschwellige regionale (Schnell-)Testangebote weiter ausbauen.
Denn aus medizinisch-therapeutischer Sicht lohnt es sich heute zu wissen, ob man HIVpositiv ist, oder nicht. Aber ein Test muss sich auch aus sozialer Sicht lohnen! Denn immer noch erfahren Menschen, die HIVpositiv sind, massive Stigmatisierungen, sie werden diskriminiert, ihnen wird Leichtfertigkeit unterstellt. Auch hier muss Prävention quasi aufklärerisch ansetzen.

3. Drittens: Deshalb verfolgt die neue Kampagne auch keinen rein primärpräventiven Ansatz. Wir werden gleichberechtigt HIV-negative und HIV-positive Personen als Rollenmodelle in die Kampagne einführen. Die HIV-positiven können z.B. in der Prävention die Aufgabe übernehmen, falsche Bilder vom Leben mit HIV aufzuweichen, falsche Risikostrategien entlarven, und die oben genannten falschen Bilder von HIV-Positiven selbst korrigieren helfen! Denn: HIV-Infektionen passieren viel „banaler“ als es in den Medien bisher dargestellt wird; z.B. nicht auf gewissen Partys sondern in Beziehungen, sie beruhen auf kommunikativen Missverständnissen, auf Infektionsmythen und Wunschdenken. Auf den Schutz verzichtet wird auch manchmal wenn man sich in biographisch krisenhaften Situationen befindet. All das wird in der Kampagne aufgegriffen werden.

4. Viertens: Die alten Safer-Sex-Botschaften (Beim Analverkehr Kondome, beim Blasen: Raus bevor´s kommt) sind gelernt. Sie verschwinden deshalb aber nicht, sondern sie müssen durch neue lebensweltbezogene Botschaften ergänzt werden. Es geht heute deshalb nicht mehr nur darum, den Leuten zu sagen, wann ein Kondom auf jeden Fall zum Einsatz kommen sollte (nämlich dann, wenn der Sex sporadisch ist, wenn man nichts über den gesundheitlichen Zustand des Partners weiß, also im Unsicherheitsfall); man muss unseres Erachtens heute auch darüber reden, wann das Kondom ohne Risiken mal weggelassen werden kann. Dazu gehört aber die Bereitschaft, sich intensiv mit seinen sexuellen Wünschen und dem eigenen sexuellen Handeln auseinander zu setzen und individuelle passgenaue Risikomanagementstrategien zu entwickeln. Das tun die Individuen zwar schon, aber nicht immer sind die Strategien wirklich sicher. Dieses Management erfordert Kommunikation und Kommunikationsbereitschaft. Hier will die Kampagne, deren Motto „ICH WEISS WAS ICH TU“ Sie jetzt schon besser verstehen, Informationen bereit stellen.

5. Fünftens: Die widersprüchlichen Bilder von Aids müssen aufgegriffen und korrigiert werden. Wie eine aktuelle Studie festhält, existieren zwei gegensätzliche Bilder von Aids in der Zielgruppe. Auf der einen Seite die Angst machenden Bilder des „Alten Aids“. Auf der anderen Seite die Bilder von und Kontakte zu Menschen, die HIVpositiv sind, offensichtlich aber relativ gut damit leben können. Diese widersprüchlichen Erfahrungswerte bzw. kognitiven Dissonanzen können zur selektiven Wahrnehmung von Informationen führen, und sind deshalb für die Prävention kontraproduktiv. Sie „forcieren“ – so schreibt der Autor der Studie – „sexuelles Risikoverhalten bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben“ (Zitat Ende). Auch hier müssen wir in der Prävention ansetzen. Sie dürfen z.B. auf die Uraufführung unseres ersten Kampagnen-Films gespannt sein, den wir Ihnen gleich im Anschluss aber auch heute Abend vorstellen möchten. Er zeigt junge HIV-positive schwule Männer, die Licht- und Schattenseiten ihres Lebens.

6. Sechstens: Und damit möchte ich es bewenden lassen: Die alten Medien der Prävention müssen zunehmend durch neue Medien ergänzt und ersetzt werden. Die Kontakt- und Informationssuche hat sich nämlich insbesondere in unserer Zielgruppe in den letzten Jahren deutlich ins Internet verschoben. Ein Großteil der jungen Schwulen – so zeigt es eine angloamerikanische Studie – findet heute seinen ersten Sexpartner im Internet! Hierauf haben wir uns in der Deutschen Aids-Hilfe auch schon eingestellt: Unsere Online-Beratung, aber auch der „health-support“ auf dem beliebtesten deutschen schwulen Kontaktportal erfreut sich eines wachsenden Nachfrage-Zulaufs. Was bisher noch in der Bundesrepublik fehlte ist eine Internetkommunikationsplattform für die am meisten von HIV betroffene Zielgruppe. Dieses zentrale Kampagnenmodul werden wir ebenfalls heute starten. Die „ICH WEISS WAS ICH TU“- Internetplattform wollen wir in den nächsten Jahren zu dem zentralen Gesundheits-, Informations- und Diskussionsportal für die Zielgruppe ausbauen. Wir erreichen damit Personen, die wir durch die herkömmlichen Medien nur noch schlecht erreichen.

Lassen Sie mich, bevor Herr Kuske Ihnen noch einige Kampagnendetails zeigt und Sie Nachfragen stellen können, mit einem Fazit schließen:

Prävention, das ist wohl deutlich geworden, ist schwerer bzw. komplexer geworden. Wir wollen in unserer neuen zielgruppenorientierten Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ diese und andere neue Anforderungen aufgreifen. Wir erhoffen uns von Ihnen, dass sie diesen Weg redaktionell begleiten und unterstützen.

Vielen Dank erstmal, ich bitte Herrn Kuske, den Kampagnenmanager, ums Wort.

3 Gedanken zu „Prävention muss aufklärerisch ansetzen“

  1. Prävention, das ist wohl deutlich geworden, ist schwerer bzw. komplexer geworden. Wir wollen in unserer neuen zielgruppenorientierten Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ diese und andere neue Anforderungen aufgreifen. Wir erhoffen uns von Ihnen, dass sie diesen Weg redaktionell begleiten und unterstützen.

    Dann kann ich nur hoffen und wünschen das sich die DAH mit dem Inhalt des EKAF Papieres trotz ausstehender Untersuchungen inwieweit es auch für Schwule zutrifft bzw Anwendung findet auseinandersetzt mit dem Ziel es unter dem Gesichtspunkt „Therapie und Prävention – nicht Entweder-Oder sondern Hand in Hand“ anzunehmen.

    In der neuen Ausgabe der Projekt Info Ausgabe Sept/Okt 2008 die dieser Tage versendet wurde, wurde u.a. auch auf den Aspekt der Prävention im Kontext zu dem EKAF Papier im Rahmen eines sehr ausführlichen Resümee´s über die 17. Int AIDS Konferenz in Mexico City ingewiesen.

    Zitat aus der Projekt Info:

    Indirekt spielten die Inhalte des EKAF Statements auch in weiteren Diskussionen und Veranstaltungen eine Rolle. Die antiretrovirale Behandlung der HIV-Infektion wird auch international als wichtiger Baustein im Rahmen von Präventionsstrategien angesehen“.

    „Der Erfolg der Prävention, so auch Mike Cohen in einem viel beachteten Vortrag, liegt in einer Kombination aller zur Verfügung stehenden Maßnahmen. Wichtige Voraussetzungen dafür sind entschlossene gesundheits und gesellschaftspolitische Konzepte, die Kooperation aller beteiligter Akteure – und vor allen Dingen auch die Einbeziehung der Communities HIV-positiver Menschen und der Zielgruppen, die durch bestimmte Maßnahmen erreicht werden sollen.“

    Zitat Ende

    NB
    Ich habe das ok Stellenweise aus der Projekt Info – auch wenn die derzeitige Ausgabe noch nicht Online zur Verfügung steht Auszüge zu übernehmen – verwenden.

    LG Dennis

  2. Therapie und Prävention funktionieren doch schon Hand in Hand – spätestens seit Ende der 90er. Ohne die Beeinflussung der Viruslast durch die Therapien würden die Epidemiologen anderes verkünden müssen. Therapie kann aber niemals zur „Präventionsstrategie“ werden. Im Gegenteil: niemand will Zwangstherapien, Zwangstestungen. EKAF unterstützt zuallererst monogame (heterosexuelle) Paare. Seid monogam und compliant, das ist die Aussage. Das ist die andere, lebensfremde Seite der Medaille! Vielleicht tut sich die DAH auch deshalb so schwer mit einem EKAF-bezogenen Statement. Alles andere des statements ist nix Neues für die DAH.

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