lch wollte nie wieder Sex haben.
Marcel ist 21 Jahre alt, lebt in Essen und arbeitet als Angestellter bei der Stadt
Homo? Hetero? Bi? Ich war verwirrt
Seit etwa eineinhalb Jahren lebe ich in meiner eigenen Wohnung, ganz in der Nähe von meinem Elternhaus. Zu meinen Eltern hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis. Elf Jahre lang war ich ein Einzelkind, dann wurde meine kleine Schwester geboren, sie war eine richtige Nachzüglerin.
So mit 13 oder 14 ist mir aufgefallen, dass ich Jungs mag. Anfangs haben mich allerdings manche Mädchen auch noch interessiert. Deshalb wusste ich erst mal nicht, was ich eigentlich bin: Homosexuell? Heterosexuell? Bisexuell? Ich habe dann einige Erfahrungen gemacht, auch mit Mädchen, und es hat sich herausgestellt, dass ich schwul bin. Mit Mädchen, das hat irgendwie überhaupt nicht gepasst.
Diese Klarheit war für mich wichtig, und dann konnte ich es auch anderen erzählen. Zu Hause war es zunächst mein Vater, mit dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe. Seine Reaktion: „Du bist mein Sohn, und es bleibt alles so, wie es ist.“ Meine Mutter hat es auch ganz gut aufgefasst. Allerdings war sie zunächst ein bisschen enttäuscht, da ich es dann wohl nicht sein werde, der ihr Enkelkinder schenken wird. Meine Eltern haben mich aber immer unterstützt und das ist für mich sehr wichtig!
In der Schule habe ich mich dann auch geoutet – und zwar gleich vor der ganzen Klasse. Mein Lehrer hat mir dabei den Rücken gestärkt. Ich hatte mich darauf vorbereitet, dass vielleicht nicht alle begeistert und verständnisvoll reagieren werden. Aber es gab keine Probleme – im Gegenteil! Ein Mitschüler war so ein typischer Machotyp, der immer den Mädchen hinterhergelaufen ist und sehr gut aussah. Ich hatte gedacht, dass er ein Problem mit Schwulen haben würde. Aber er sagte: „Warum sollen wir das nicht akzeptieren? Du musst ja auch akzeptieren, dass ich auf Mädchen stehe.“ Diese Reaktion hat mir gezeigt, dass man Leute nicht voreilig als intolerant und oberflächlich einschätzen sollte.
Klar wusste ich, dass es HIV gibt – aber das war alles sehr oberflächlich
So mit 18 Jahren bin ich das erste Mal in die Szene gegangen. Klar wusste ich da schon, dass es so etwas wie HIV gibt, aber es war für mich nicht sichtbar. Es gab da niemanden, der gesagt hätte: „Hallo, hier bin ich und ich habe HIV.“ Ab und an wurden irgendwo Kondome, aber das war alles sehr oberflächlich. Vielleicht ist diese Erfahrung einer der Gründe dafür, dass ich heute einen ganz anderen Blick auf diese Sache habe.
Aber eins nach dem anderen: Den ersten Sex hatte ich mit meinem ersten Freund, als ich 18 Jahre alt war. Ich war mit ihm etwa anderthalb Jahre zusammen. Anfangs haben wir Kondome verwendet. Als es ernster wurde mit uns, haben wir jeder einen HIV-Test gemacht, uns das Ergebnis gegenseitig gezeigt und dann auf Kondome verzichtet. Ich hatte dafür genügend Vertrauen zu ihm. Bis zum Ende dieser Beziehung habe ich über Safer Sex nicht mehr nachgedacht. Vielleicht habe ich es mir da ein bisschen zu leicht gemacht. Aber ich glaube bis heute, dass er nicht fremdgegangen ist – genau wie ich.
Nach der Trennung wollte ich mich dann mal ein bisschen austoben. Auch da habe ich nur Safer Sex gemacht. Nicht aus Angst davor mich anzustecken, sondern einfach weil ich verstandesmäßig wusste, dass man sich mit Kondomen vor HIV und einigen anderen sexuell übertragbaren Krankheiten schützen kann.
Dann ist es doch passiert …
Wie kommt es dann, dass ich trotzdem HIV-positiv bin? Ich hatte jemanden kennen gelernt, und die Sache entwickelte sich in Richtung Beziehung. Alles lief super und nach ein paar Wochen hatte ich das Gefühl, dass er das auch so sah. Deswegen habe ich mich darauf eingelassen, ohne Kondom mit ihm zu schlafen. Ich hatte Vertrauen zu ihm und in meiner vorherigen Beziehung war ja auch alles gut gegangen. Ich habe gedacht: Wenn er mich mag, dann will er mir nicht wehtun. Wenn er HIV-positiv wäre, würde er keinen ungeschützten Sex mit mir haben. Dass es Leute gibt, die gar nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind, daran habe ich nicht gedacht.
Ich glaube, dass sehr viele Ansteckungen auf so eine Weise entstehen: Man vertraut jemandem, aber es gibt eigentlich noch gar keine richtige Beziehung und man weiß noch nicht genug vom anderen. Oder der Partner geht eben doch fremd. Es gibt Leute, die oberflächlich lieb und nett wirken, aber in Wirklichkeit ist denen egal, was mit dir passiert. Deswegen möchte ich gerade jungen Leuten erzählen, wie wichtig es ist, sich in solchen Situationen zu schützen.
Ich selbst habe sogar damals noch gedacht, dass es besser wäre, wenn wir ein Kondom benutzen würden. Nach dem Sex kamen dann auch Zweifel und Ängste auf. Die hab ich dann aber erst mal verdrängt: Warum sollte ausgerechnet ich bei diesem einen Mal zur falschen Zeit am falschen Ort mit der falschen Person Sex gehabt haben?
Nach zwei Wochen kamen die ersten Symptome: eine Grippe und eine Entzündung der Mundschleimhaut. Obwohl ich meinem Arzt davon erzählt hatte, was passiert war, gab er mir einfach nur Antibiotika. Die haben auch erst mal geholfen – aber die Angst blieb. Na ja, ich hab dann einen Test gemacht. Und der war positiv.
Am Anfang habe ich noch gedacht: Ich bin selber schuld – total blöd, naiv und dumm
Als ich auf dem Gesundheitsamt mein Ergebnis bekommen hatte, bin ich direkt nach Hause gefahren und habe mich schlafen gelegt. Ich war traurig, klar – aber das richtige Gefühlschaos kam erst ein paar Tage später. Ich habe mich erst mal zurückgezogen, mit niemandem gesprochen. Irgendwann hat meine Mutter mich gefragt, was denn los sei, warum ich mich so abschotte. Und da habe ich es ihr gesagt. Das war ein sehr emotionaler Moment.
Meine Eltern sind dann mit mir zur Aidshilfe gegangen. Es hat ihnen geholfen,
Informationen zu bekommen. So ging es mir selbst ja auch: Ich habe mit professionellen Leuten geredet und dabei mehr und mehr über HIV erfahren. Für mich war es genauso wie für meine Eltern: Mit jedem Schritt wurde es ein bisschen leichter.
Am Anfang habe ich noch gedacht: Ich bin selber schuld – total blöd, naiv und dumm. Heute denke ich, dass nichts davon zutrifft. Ich habe halt einen Fehler gemacht – und das ist einfach nur menschlich. Viele anderen machen den gleichen Fehler und haben vielleicht einfach Glück. Andere machen andere Fehler, nur dass die nicht so schwere Folgen haben. Wenn mir heute jemand erzählen will, ich sei Opfer meiner Dummheit oder Naivität, dann denke ich: „Leck mich, pass lieber auf dich selber auf!“
Meine Offenheit hilft auch mir selbst, mit der Infektion umzugehen
Ich versuche jetzt, mit der HIV-Infektion zu leben, so gut es geht. Dazu gehört für mich auch, darüber zu sprechen, privat genauso wie auf Facebook, in meinem Blog und in meinem Youtube-Kanal. Ich will mich nicht verstecken, weder in der Familie und bei Freunden noch bei der Arbeit. Ich möchte erreichen, dass sich die Menschen mit HIV auseinandersetzen und Vorurteile abbauen. Im Netz habe ich bisher keinen anderen HIV-Positiven in meinem Alter gefunden, der aus seinem Leben erzählt. Also tue ich das.
Meine Offenheit hilft auch mir selbst, es ist ein bisschen wie eine Therapie. Wenn ich über meine Erlebnisse erzähle oder schreibe, kann ich sie gleichzeitig mit ein bisschen Abstand betrachten und sortieren.
Im privaten Bereich habe ich mit dieser Strategie bisher überhaupt keine schlechten Erfahrungen gemacht. Auch bei der Arbeit gab es keine Probleme. Im Gegenteil, ich bekomme viel Unterstützung. Im Internet ist das anders, da gibt’s schon Menschen, die mich angreifen. Das geht bis hin zu Morddrohungen. Oft höre ich zum Beispiel: „Wenn du nicht schwul wärst, dann wäre dir das auch nicht passiert.“ Dahinter steckt Schwulenhass. Ich denke, die Leute, die sowas sagen, haben Frust und trampeln dann eben auf anderen rum.
Manchmal habe ich fünf E-Mails am Tag, in denen ich beleidigt werde, zum Beispiel als „Virenschleuder“. Wenn ich bedroht werde, zeige ich das bei der Polizei an. Ansonsten antworte ich auf solche Sachen nur, wenn falsche Behauptungen drinstehen, zum Beispiel dass HIV eine Schwulenkrankheit ist. Das lasse ich dann so nicht stehen.
Die Leute sind insgesamt viel zu wenig aufgeklärt über HIV. Viele sprechen von Aids, wenn sie HIV meinen. Das hat man in der Berichterstattung über Nadja Benaissa gut sehen können. Da hieß es dann: „der Aids-infizierte Todesengel“ Aber das stimmt ja nicht: Sie hat das Virus, nicht Aids. Und die Infektion ist heute eine chronische Krankheit, die nicht mehr zu Aids führen muss – bei allen Problemen und Nebenwirkungen der Medikamente, die damit verbunden sind. Ich wünsche mir sehr, dass solche Informationen in die Köpfe kommen!
Wie wenig sogar Ärzte manchmal aufgeklärt sind, zeigt mir das Verhalten meines Zahnarztes. Ich habe ihn darüber informiert, dass ich positiv bin, damit er die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen ergreifen kann – für ihn und für mich. Aber er wollte mich dann nicht mehr behandeln, weil er seine Patienten und seinen Ruf gefährdet sah! Diese Erfahrung machen viele HIV-Positive. Ich habe das akzeptiert, auch wenn ich natürlich weiß, dass keinerlei Gefahr besteht, wenn der Zahnarzt sich an alle Hygieneregeln hält.
Diskriminierung und Zurückweisung sind ohnehin ein großes Thema. Nicht jeder kann an seinem Arbeitsplatz oder bei Freunden so einfach über seine Infektion sprechen wie ich. Manchmal werde ich auf Partys von Leuten angesprochen, die auch positiv sind, es aber auf jeden Fall geheim halten wollen. Oft merke ich dann, wie unglücklich sie damit sind – obwohl es ihnen gesundheitlich nicht schlecht geht. Der Grund ist nur das, was sie in ihrem sozialen Umfeld erleben. Deswegen vertrete ich den Standpunkt, dass die Diskriminierung viel schlimmer ist als die gesundheitlichen Auswirkungen von HIV.
Natürlich frage ich mich auch, warum ich so offen sein kann und kaum schlechte Erfahrungen mache. Ich denke, das liegt einfach daran, dass ich mit mir Reinen bin. Man muss sich selber akzeptieren, dann ist es einfacher, mit dem Druck von außen umzugehen. Meine Erziehung hat viel dazu beigetragen, dass ich so selbstbewusst bin. Meine Eltern haben mir beigebracht, nicht auf die anderen zu achten, sondern auf mich. Es geht nicht um das, was man nach außen darstellt, sondern um das, was man ist, um die Persönlichkeit.
Nur weil ich damit so offen mit meiner Infektion umgehe, erwarte ich das aber nicht von jedem. Es ist nicht notwendig, anderen davon zu erzählen, um zu wissen, was man wert ist und sich zu akzeptieren.
Ich wollte nie wieder Sex haben
Ich stehe noch ganz am Anfang mit meiner Infektion: Das Testergebnis habe ich im Sommer 2009 bekommen, infi ziert habe ich mich relativ kurz davor. Bis auf ein paar kleine Ausnahmen geht es mir gesundheitlich sehr gut. Eine Therapie mache ich noch nicht, denn meine Blutwerte sind recht gut.
Was sich als erstes verändert hat, war mein Sexleben: Ich hatte wochenlang keinen Sex. Ich habe mich nicht einmal selbst befriedigt. Irgendwie hatte ich Angst vor dem, was da passiert, wenn ich einen Orgasmus habe. Ich habe mein Sperma und auch mein Blut gehasst und ich wollte eigentlich nie wieder Sex haben. Schließlich konnte da wer weiß was passieren, dachte ich.
Das hat eine ganze Zeit angehalten. Beim ersten Onanieren nach dem Testergebnis hatte ich nicht nur Lustgefühle, sondern ich habe mich auch geekelt. Aber dann ist eine Last von mir abgefallen: „So schlimm ist es nicht.“ Heute empfinde ich beim Sex wieder Lust. Aber ich achte sehr auf mich – denn ich möchte das Risiko einer Co-Infektion mit irgendeiner anderen Krankheit so gering wie möglich halten.
Bevor ich mit jemandem Sex habe, sage ich ihm immer, dass ich HIV-positiv bin. Ich sage es, sobald ich das Gefühl habe, da könnte was laufen. Das war am Anfang nicht einfach – aber inzwischen habe ich keine Angst mehr davor, einen Korb zu bekommen. Ich kann sogar verstehen, wenn jemand einen Rückzieher macht, denn ich weiß selber nicht, wie ich früher damit umgegangen wäre.
Die Szene ist ein für mich ein zweischneidiges Schwert
Ich gehe gern und oft in die Szene. Das bedeutet für mich Freiheit, weil’s eben eine Welt ist, wo man so sein kann, wie man ist – egal, ob man jetzt schwul ist, bisexuell, oder hetero. Das alles spielt da kaum eine Rolle – da gibt’s einfach nur Party! Alles mischt sich. Zugleich bedeutet Szene für mich aber, mich mit anderen Leuten austauschen zu können, die auch homosexuell sind.
Leider gibt es in der Szene auch viel Oberflächlichkeit und Intoleranz. Manche Leute glauben offenbar, dass man da nur hingehen darf, wenn man gut aussieht, wenn man cool ist oder tolle Klamotten anhat. Das sehe ich ganz anders! Schwule fordern Toleranz, verbreiten aber untereinander sehr viel Intoleranz. Deswegen ist Szene für mich ein zweischneidiges Schwert: Es macht Spaß, da hinzugehen für ein paar Stunden. Aber ich muss jetzt nicht montags bis sonntags jeden Abend in eine schwule Kneipe gehen – das wäre zu viel des Guten. Die Mischung macht’s.