„Aidshilfe muss mit eigener Stimme sprechen“ – Rede von Tino Henn

Am 13. November 2008 fand der diesjährige Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe statt. Folgend als Dokumentation die Rede von Tino Henn, Mitglied des Bundesvorstands der DAH:

„25 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe“
Rede von Tino Henn,
Mitglied des Bundesvorstands der Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH),
anlässlich der Veranstaltung „Empfang zum Welt-AIDS-Tag 2008“
Umspannwerk Berlin-Kreuzberg, 13. November 2008

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Tino Henn, Vorstandsmitglied der deutschen Aids-Hilfe
Tino Henn, Vorstandsmitglied der deutschen Aids-Hilfe

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Schmidt,
sehr geehrte Damen und Herren Staatssekretäre,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Mitglieder des Abgeordnetenhauses und der Landtage,
sehr geehrte Frau Prof. Pott,
sehr geehrte Frau Bätzing,
sehr geehrter Herr Dr. Heide,
liebe Ehrenmitglieder,
liebe Mitglieder und Kooperationspartner,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst einmal möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass die Bundeskanzlerin und die Bundesgesundheitsministerin an diesem Abend zu uns gekommen sind. Dies zeigt die gesellschaftliche Anerkennung, die unsere Arbeit erfährt.

Meine Damen und Herren: Am 23. September 1983 wurde die Deutsche AIDSHilfe in Berlin gegründet, kurz darauf folgten die Aidshilfen in München und Köln. Heute sind in der Deutschen AIDS-Hilfe 120 örtliche Aids- und Drogenhilfen, Präventionsprojekte, Schwulen- und Lesbenzentren sowie Wohn- und
Pflegeprojekte im Engagement gegen Aids und für Menschen mit HIV vereint.

Viel ist geschehen in den letzten 25 Jahren: Schienen zunächst vor allem Schwule und Drogengebraucher in den westlichen Industriestaaten von HIV und Aids betroffen zu sein, haben wir es heute mit einer weltweiten Epidemie zu tun. Auch die Krankheit selbst und ihre Wahrnehmung haben sich geändert – neben der Todesdrohung steht nun das Bild einer zwar nicht heilbaren, aber behandelbaren chronischen Krankheit. Und nicht zuletzt ist der gesellschaftliche Umgang mit der Krankheit und den von ihr Bedrohten und Betroffenen „normaler“ geworden – zumindest an der Oberfläche. Über schwule Lebensweisen zum Beispiel lässt sich heute meist leichter reden als noch vor 25 Jahren, und auch der „mündige Drogenkonsum“ scheint zumindest denkbar.

Aber, und das ist ein großes Aber: „Normal“ sind HIV und Aids, Homosexualität und Drogengebrauch keineswegs: Auch heute noch werden schwule Männer zusammengeschlagen, weil sie sich in der Öffentlichkeit geküsst haben. Und nach wie gibt es Anfragen von besorgten Mitmenschen, ob man sich beim gemeinsamen Benutzen eines Glases mit HIV anstecken könne.

Meine Damen und Herren, die Krankheit, der Umgang mit ihr und damit auch die Aidshilfearbeit haben sich geändert. Was aber ist geblieben, worauf können wir auch in Zukunft bauen? Ich möchte drei Punkte benennen, die sich als tragfähig erwiesen haben:
1. Selbsthilfe,
2. Interessenvertretung,
3. Strukturelle Prävention.

1. Selbsthilfe
Die Empörung über den unmenschlichen Umgang mit Aidskranken. Die Solidarität mit den Betroffenen. Die Angst vor HIV und Aids. Und das Bewusstsein: Aids bedroht nicht nur Leib und Leben, sondern auch unsere Freiheit. Das waren einige der Triebfedern der Aidshilfe-Gründergeneration.

Diese Männer und Frauen haben sich selbst geholfen. Weil sie ihren Lebensstil schützen wollten. Weil sie anderen helfen wollten.
Zwei der Gründer der Deutschen AIDS-Hilfe sind heute Abend hier anwesend: Rainer Schilling und Bruno Gmünder. Ich begrüße sie ganz herzlich.

Die Aidshilfebewegung kommt also aus der Selbsthilfe. Ja, sie ist Selbsthilfe. Wer sich hier engagiert, der gehört oft selbst zu denjenigen, die von HIV und Aids besonders bedroht und betroffen sind. Wir sind nicht nur nah dran, sondern mittendrin.

Damals, in den entscheidenden Jahren, wurde auch auf der Seite des Staates erkannt, dass ohne die Selbsthilfe nichts geht. Denn die am stärksten von HIV betroffenen Gruppen standen und stehen staatlichen Stellen oft misstrauisch gegenüber: schwule Männer, Drogengebraucherinnen und Drogengebraucher, Menschen in der Sexindustrie und Menschen in Haft, heute auch Migrantinnen und Migranten aus Ländern mit weiter HIV-Verbreitung. Um Zugang zu ihnen zu bekommen, braucht man vor allem eins: Glaubwürdigkeit. Und die erreicht man, indem man mit ihnen zusammenarbeitet. Ihre Sprache spricht. Ihre Bilder verwendet. Ihre Lebensweisen kennt und akzeptiert. Dinge beim Namen nennt.

Die Aidshilfe machte sich also fortan mit Unterstützung des Staates an die Arbeit – an dieser Stelle spreche ich all jenen in Regierung und Verwaltung unseren herzlichen Dank aus, die uns in den letzten 25 Jahren solidarisch begleitet, gefördert und auch geschützt haben. Stellvertretend nenne ich an dieser Stelle die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, Sie, liebe Frau Bundesministerin Schmidt, und natürlich Sie, liebe Frau Professor Pott: Die langjährige Unterstützung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und durch Sie ganz persönlich haben maßgeblichen Anteil daran, dass wir partnerschaftlich Präventionsarbeit leisten konnten und dass die Arbeitsteilung zwischen Staat und Selbsthilfeorganisation ein auch international beachtetes Erfolgsmodell geworden ist.

Gemeinsam mit unseren Partnern in der Prävention haben wir sachliche Aufklärung gegen die Aids-Hysterie in Teilen der Medien, der Politik und der Gesellschaft gestellt. Wir haben Präventionsbotschaften formuliert und zielgruppengerecht an den Mann und die Frau gebracht. Gemeinsam mit Fachleuten und Betroffenen haben wir neue Präventionsansätze entwickelt, zum Beispiel mit und für Drogengebraucher. Wir haben angepackt und eigene Pflegedienste gegründet, um Menschen mit HIV angemessen zu versorgen, denn der Umgang mit ihnen, ihren Lebenspartnern und Freunden war in den bestehenden Pflegeeinrichtungen oft unwürdig.

Eine tragende Säule der Aidshilfebewegung war, ist und bleibt also die Selbsthilfe. Und dazu gehört für uns immer auch die Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt: Initiativen anstoßen, unterstützen und begleiten und mit ihnen zusammenarbeiten. So fördern wir zum Beispiel die Selbsthilfe von Menschen mit HIV und Aids, auch wenn sie – zum Glück – unbequem war und ist. Aber wir brauchen diese Bodenhaftung, und das gemeinsame Engagement von HIVPositiven, HIV-Negativen und Ungetesteten zeichnet uns und unsere Arbeit aus.
Oder nehmen wir Helmut Ahrens, den ersten Drogenreferenten der Deutschen AIDS-Hilfe. Auch er hat Selbsthilfe angestoßen und gefördert, denn auf seine Initiative geht das im Juni 1989 gegründete und heute allgemein anerkannte Netzwerk von Junkies, Ehemaligen und Substituierten zurück. Heute heißt Hilfe zur Selbsthilfe für uns zum Beispiel die Initiierung und Förderung des Afrikaner- Netzwerks AfroLeben+. Oder Unterstützung, um irgendwann einmal auch in Ländern Osteuropas zu stabilen Selbsthilfestrukturen zu kommen – unter gesellschaftlichen Bedingungen allerdings, die aus Sicht der Prävention nur als katastrophal gelten können.

2. Interessenvertretung
Aidshilfe ist eine Selbsthilfeorganisation, und das muss sie auch bleiben. Aus unserem eigenen Verständnis heraus, aber auch als Voraussetzung für eine weiterhin erfolgreiche Prävention. Das heißt: die Aidshilfe muss und darf mit anderen zusammenarbeiten, aber sie muss sich dabei ihre Unabhängigkeit so weit wie möglich bewahren. Vom Staat. Von der Medizin. Und erst recht von der Pharmaindustrie und den Lobbyisten im Gesundheitswesen.

Aidshilfe muss mit eigener Stimme, in eigener Sache sprechen. Das hat sie von Anfang an getan, laut und vernehmlich. Ich erinnere hier an die Großdemonstration in München im Oktober 1987 gegen den bayerischen Maßnahmenkatalog – er sah unter anderem vor, „Ansteckungsverdächtige“ zur Durchführung des HIV-Tests vorzuladen oder auch schwule Saunen zu schließen. Ein anderes Beispiel: Pfingsten 1988 gingen Teilnehmer des Zweiten Europäischen Positiventreffens unter dem Motto „Mut gehört dazu“ in München auf die Straße – damals wie heute ein unerhört mutiger Schritt, offen als Positive aufzutreten. Wir gedenken an dieser Stelle –stellvertretend für viele andere – der 1993 verstorbenen Celia Bernecker-Welle, einer offen lebenden HIV-infizierten Drogengebraucherin, die entscheidenden Anteil an der Vorbereitung und Durchführung dieser Demonstration hatte.

Nun ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden um das Thema HIV und Aids, die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen scheinen ausgefochten.
Und manches Mal hat die Aidshilfe auch geschwiegen, wenn sie gefordert war, oder sie hat sehr spät ihre Stimme gefunden. Doch ich bleibe dabei: Die Aidshilfe ist keine Präventionsagentur, die lautlos funktioniert. Sie ist und bleibt Selbsthilfe, sie ist und bleibt Interessenvertretung. Das ist für uns Prävention, strukturelle Prävention. Deswegen mischen wir uns ein, wenn Verhältnisse und Entscheidungen das Leben mit HIV und Aids und die Prävention betreffen – in Deutschland wie auch international.

Wir formulieren unsere Interessen selbst. Wir vertreten diese Interessen. Wir entwickeln im Dialog mit der Selbsthilfe und unseren Partnern Präventionsansätze und verteidigen sie gegen moralische oder auch ideologische Vorbehalte. Und wir leihen – ähnlich wie bei der Hilfe zur Selbsthilfe – jenen eine Stimme, die noch nicht gehört werden.

3. Strukturelle Prävention
Selbsthilfe, Hilfe zur Selbsthilfe und Interessenvertretung sind Grundpfeiler unserer Arbeit. Ihren Rahmen findet sie im Konzept der strukturellen Prävention, das kluge Köpfe – stellvertretend erinnere ich hier an Hans-Peter Hauschild – schon Ende der 80er Jahre entwickelt haben. Dieses Konzept prägt uns bis heute, und wir halten es auch in Zukunft für unverzichtbar.

Strukturelle Prävention heißt: Wir nehmen das Verhalten Einzelner in den Blick, aber auch die Verhältnisse oder eben Strukturen, die dieses Verhalten beeinflussen. Auf diese Strukturen versuchen wir so einzuwirken, dass Menschen sich selbst und andere schützen können und wollen – und das auch tun. Strukturelle Prävention heißt deshalb für uns zum Beispiel Antidiskriminierungs- und Menschenrechtsarbeit. Strukturelle Prävention heißt, die Integration von Menschen mit HIV und anderen chronischen oder versteckten Krankheiten ins Arbeitsleben voranzutreiben. Und Strukturelle Prävention heißt Selbstwertstärkung, zum Beispiel als Element unserer Kampagne „Ich weiß, was ich tu“ für Männer, die Sex mit Männern haben.
Denn eines haben wir gelernt: Wer sich schätzt, schützt sich auch eher. Und er schützt auch andere. Schwierig hingegen ist der Schutz der Gesundheit oft, wenn man sich selbst und seine Sexualität verleugnen muss. Wenn man ständig in Angst vor Abschiebung lebt. Wenn man hinter Gittern keinen Zugang zu sterilem Spritzbesteck hat. Oder nicht ins erfolgreiche Projekt zur medizinisch kontrollierten Heroinvergabe an Schwerstabhängige aufgenommen wird, weil dessen Fortführung an ideologischen Widerständen scheitert.

Wir übernehmen Verantwortung für die Prävention. Aber wir können diese Arbeit nicht alleine schultern. Hier sind Sie alle gefragt. Jeder von Ihnen kann etwas tun, an seinem Platz in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft. Setzen Sie sich mit uns ein für Solidarität und Akzeptanz.
Engagieren Sie sich ehrenamtlich oder finanziell. Sichern Sie die Präventionsarbeit und ehren Sie damit auch jene mutigen Männer und Frauen aus der Aidshilfebewegung, die heute Abend nicht mehr bei uns sein können.

Meine Damen und Herren, lassen sie mich schließen, indem ich im Namen der Deutschen AIDS-Hilfe allen Frauen und Männern danke, die in den vergangenen 25 Jahren zum Erfolg unserer Arbeit beigetragen haben, die sich ehren- und hauptamtlich engagiert oder uns in einer anderen Art und Weise unterstützt haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

7 Gedanken zu „„Aidshilfe muss mit eigener Stimme sprechen“ – Rede von Tino Henn“

  1. Eine klare Botschaft geht von dieser Rede aus.

    Mich spricht besonders dieser Satz an: „Die Aidshilfe ist keine Präventionsagentur, die lautlos funktioniert. Sie ist und bleibt Selbsthilfe, sie ist und bleibt Interessenvertretung.“

    „Laut“ zu werden dort, wo es die Interessenvertretung gebietet und Unabhängigkeit zu beanspruchen, das macht AIDS-Hilfe als DAH und lokale AH zukunftsfähig.

  2. Und manches Mal hat die Aidshilfe auch geschwiegen, wenn sie gefordert war, oder sie hat sehr spät ihre Stimme gefunden.

    Das macht Mut – zeigt das sich die neue Führung bewußt ist das sich die DAH nicht immer so verhalten hat wie es die Situation gefordert hat. Ein Zeichen dafür das das Selbstbewußtsein der DAH gewachsen ist.

  3. @ termabox & Dennis:
    ja – einige gute sätze in der rede. und gut gehalten, respekt.
    ich denke, wieder ein signal das hoffnung macht, dass sich im haus etwas zum besseren am verändern ist

  4. »Und wir leihen – ähnlich wie bei der Hilfe zur Selbsthilfe – jenen eine Stimme, die noch nicht gehört werden. «
    Werden Profifussballer (Lahm), bekannte Musiker und Schauspieler nicht gehört? Eigentlich eine ziemliche Heuchelei solch ein Statement abzugeben angesichts der Egomanie von einem großen Teil der DAH.
    »Auch heute noch werden schwule Männer zusammengeschlagen, weil sie sich in der Öffentlichkeit geküsst haben.«
    Homophobie mit HIV/AIDS gleichzusetzen oder in Zusammenhang zu bringen ist leider bei einer sachlichen Auseinandersetzung vollkommen daneben.

  5. @dieter:
    – lahm und bekannte musiker – kann es sein, dass Sie eine kampagne anderer mit der dah verwechseln?
    – in den genannten zitat (homophobie) wird nicht gleichgesetzt, sondern ein umfeld beschrieben, in dem von hiv bedrohte männer heute leben, in dem (auch) hiv-prävention stattfindet.

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