Ein Auszug

Die Zahl der Blogs über das Leben mit HIV steigt – eine spannende Bereicherung ist ‚Jos Blog‘.

Seit Februar 2008 berichtet Jo unter dem Motto „Ein bisschen schräg, ein bisschen schwul, ein bisschen positiv“. Jo ist 24, Berliner, schwul, seit 2006 HIV positiv, seit zwei Jahren mit Steffan zusammen und gelernter Bankkaufmann.

Aus Jo’s Blog heute als ‚Appetithappen‘ und Beispiel einer ganz anderen Lebensrealität mit HIV der Beitrag „Ein Auszug“:

Ein Auszug

„Es funktioniert einfach nicht mehr… Es tut mir Leid, ich muss das beenden, es geht nicht anders!“
Die Tür knallte, ich hörte seine Schritte im Flur auf der Treppe, dann, weit entfernt, die Haustür. Verdammt noch mal! Mir wurde schlecht. Ich hab ihn nicht verletzen wollen, ich wollte bloß das Beste für ihn und mich tun. Er hatte doch längst schon einen anderen im Blick und bei uns lief es gar nicht mehr, dann sollte er auch zu ihm gehen und mich in Ruhe lassen! Es tat schon genug weh… Also hatte ich beschlossen, den Kontakt völlig abzubrechen.
Ich schaltete den Computer ein, loggte mich ins Internet und sperrte ihn in sämtlichen Messengern, in denen ich ihn gespeichert hatte, dann zog ich mich um. In so einer Situation half nur eins: Party.

Es war Mittwoch und der Club nicht so gut besucht wie an einem Samstag, doch das war mir egal. Ich hatte meine Cocktails, die mich schnell in eine weiche Welt beförderten, die Musik und irgendein männliches Wesen, das mir beim Tanzen am Arsch rumspielte. In meinem Kopf drehte sich alles und ich sackte immer wieder in die Arme meines Gegenübers, die Bässe hämmerten in meinem Hirn und vor meinen geschlossenen Augen flimmerte buntes Licht. Es roch nach Trockeneisnebel, Schweiß und Alkohol und in meinem Herzen flackerte immer wieder ein dumpfer Schmerz auf. Dann griff ich zu einem Cocktail und brachte mein Herz zum Schweigen.
„Du siehst fertig aus“, bemerkte mein Tanzpartner, der mich an die frische Luft gebracht und vor die Tür des Clubs gesetzt hatte. Und ich hatte nicht mal mehr mitbekommen, wie er mich dort hin befördert hatte.
„Ich hatte einen scheiß Tag“, hörte ich mich lallen, er lachte.
„Haben wir den nicht alle mal? Aber du brauchst was zum wach werden, sonst kotzt du dich noch voll.“
„Mir ist aber gar nicht übel. Es geht mir wirklich fantastisch. Ich kann noch alleine stehen und laufen und bin ganz klar im Kopf…“ Ich versuchte, aufzustehen, kippte aber schon beim ersten Anlauf zur Seite. „Mir ist bloß ein bisschen schwindelig, das vergeht wieder…“
„Bleib hier, ich besorg dir was.“ Er verschwand einfach, ließ mich sitzen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie lang er weg war, doch als er wiederkam, drückte er mir ein paar bunte Pillen in die Hand.
„Schlucken“, sagte er, ich grinste.
„Danke mein Freund, genau das brauch ich jetzt!“ Und die Party ging weiter.

Wir tanzten ausgelassen, verließen den Club nach einer Weile, zogen durch Bars, bis es Morgen wurde. Wir verbrachten den Tag miteinander in seiner Wohnung irgendwo in Friedrichshain, konnten den ganzen Tag nicht schlafen, waren berauscht und euphorisch. Als es dunkel wurde, machten wir uns wieder auf den Weg. Ich habe nicht viele Erinnerungen an die Stunden, in meinem Kopf sind Bilder von Pillen und feinem, weißen Pulver, Alkohol, bunten Farben. Meine Begleiter wechselten, ich war nie allein doch nie mit derselben Person länger als 24 Stunden zusammen. Es gab immer eine Bar, an der ich mich festhielt und trinken konnte, bis mir die Scheine ausgingen und ich zu einem Geldautomaten torkeln musste, mit zitternden Fingern meine Geheimzahl eingab und hoffte, dass der Automat viele neue bunte Scheine ausspuckte.
„Ich will noch einen.“ Der Barkeeper nickte. Es war voll und er im Stress, er und seine Kollegen liefen von einem Gast zum nächsten, verteilten bunte Getränke, sammelten Geld ein, einer stand allein an der Spüle und reinigte Gläser. Ich musste auf mein frisch gefülltes Glas warten, doch ich hatte mein Gefühl für Zeit und Raum so verloren, dass es mich nicht störte und ich mich wie ein Kind freute, als ich endlich wieder neuen Alkohol in den Händen hielt. Ich schüttete das Zeug wie ein Verdurstender in mich hinein, als ich bemerkte, dass jemand direkt auf mich zukam. Vieles habe ich vergessen, doch die dunklen, warmen Augen sind noch deutlich in meiner Erinnerung. Ein Lächeln, wilde, dunkle Haare, ein trainierter Oberkörper, große Hände neben meinem Glas auf der Theke. Er beugte sich zu einem der Barjungs, bestellte etwas, der nickte, kam kurz darauf mit zwei Gläsern zurück. Der schöne Unbekannte mit den tiefbraunen Augen reichte mir ein Glas.
„Hier, ich geb einen aus.“
„Danke!“ Ich prostete kurz in seine Richtung, dann kippte ich die klare Flüssigkeit in meinen Hals, hustete. „Das ist Wasser?!“
„Ich dachte, du könntest das vertragen. Siehst ein bisschen fertig aus. Lange Nacht gehabt?“ Er ergatterte einen Hocker neben mir, rückte nah an mich heran, damit wir uns bei der lauten Musik besser unterhalten konnten.
„Ich weiß nicht“, antwortete ich, sah ihm lange in die Augen. Mein alter Begleiter war verschwunden und ich brauchte dringend einen neuen; der schöne Unbekannte schien für diesen Posten wie gemacht.
„Was haben wir für einen Tag?“, fragte ich. Im Nachhinein schäme ich mich dafür, dass ich so abgestürzt war, dass ich nicht mal genau sagen konnte, wo ich war und welcher Wochentag es war, doch in dem Augenblick was es mir nicht peinlich. Mein Gegenüber lachte. Aber kein unangenehmes Lachen.
„Es ist Samstag, also mittlerweile schon Sonntag.“ Er zwinkerte mir zu, trank aus seinem Glas. „Du bist wohl wirklich nicht mehr ganz frisch. Was hat dir zu schaffen gemacht?“
„Ich bin wieder Single, aber das ist egal.“ Meine Augen suchten nach einem Barkeeper, ich wollte was Neues zu trinken. Doch alle waren beschäftigt und bemerkten mich nicht. „Mein ganzes Leben ist egal. Alles egal. Ich soll keinen Freund haben, will das Leben nicht. Ich hab diese scheiß HIV-Seuche, keiner bleibt bei mir, es ist alles egal, alles egal… Hey! Krieg ich noch einen?“ Endlich hatte einer der Jungs auf meinen suchenden Blick reagiert, nickte und mixte mir einen neuen Caipirinha.
„Du bist HIV positiv?“ Ich sehe immer noch genau vor mir, wie aus seinem lächelnden, freundlichen Blick ein geschockt-interessierter wurde. Nicht unangenehm, nicht zu neugierig oder ängstlich, wie ich es von anderen kannte. Sondern ehrlich interessiert und offen.
„Bin ich“, nickte ich. „Aber erzähl das nicht rum, ich hab einen Ruf zu verlieren.“
Ich hätte ein Lachen von ihm erwartet, doch in seinem Gesicht rührte sich nichts. Er schaute mich an, wohl in Gedanken versunken, während ich meinen Caipirinha entgegennahm, ein bisschen mit dem Strohhalm darin herumrührte, die Limettenstücke herausfischte und das Glas dann in einem Zug bis auf den Rohrzucker leerte. Ich merkte den Alkohol immer noch nicht, hatte wohl zu viel gekokst, aber wenigstens hatte ich keine Schmerzen mehr und fühlte mich freier.
„Ich hab es auch“, sagte mein schöner Unbekannter plötzlich. „Willst du mit zu mir?“
Jetzt musste ich lachen. „Das ist die plumpste Anmache, die ich je gehört habe!“
„Dann ist sie wenigstens außergewöhnlich. Los komm, du bist überall besser aufgehoben als hier.“
Er nahm mich mit und ich konnte und wollte mich nicht dagegen wehren. Er hielt mich an der Hand, zog mich hinter sich her und ich stolperte ihm nach so gut ich konnte.
Wir fuhren mit der S-Bahn, mussten einmal umsteigen, dann laufen, ich weiß nicht mehr wie lang. Aber ich weiß noch, wie ich, in seiner Wohnung angekommen, sofort den Weg ins Schlafzimmer fand und mich auszog. Ich konnte es nicht erwarten, aus meinen Klamotten zu kommen, legte mich aufs Bett, sah ihm beim Ausziehen zu. Nackt kletterte er über mich, leckte meinen Hals entlang.
„Ich will dich blank“, raunte er mir ins Ohr und aktivierte damit das allerletzte Stückchen Verstand in meinem Kopf.
„Zieh dir was drüber, ich will keine Probleme.“
„Na, wenn du meinst…“
Ich glaube, er war enttäuscht. Nehme ich ihm auch gar nicht übel. Wahrscheinlich hätte ich mich sogar bequatschen lassen, wenn er es versucht hätte, aber er hatte sofort klein beigegeben und ein Kondom aus dem Bad geholt. Und zur Belohnung durfte er sich in mir austoben.

(Gastbeitrag, © Jos Blog)
Nachtrag 29.04.2009: Jo hat heute die Fortsetzung gepostet.

Ein Gedanke zu „Ein Auszug“

  1. voll aus dem leben geschrieben, lässt mich an einer lebenswelt teilnehmen (exzessiver alkohol + partydrogen), die nicht meine ist. in solchen lebenskrisen helfen aber sicher keine pillen und alkohol, sondern menschen, die aufmerksam sind, auf einen zugehen und einen eben nicht alleine lassen, wenn die welt untergeht. damit endet die erzählung ja dann auch
    – bin auf die fortsetzung gespannt.

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