Rede von Bundespräsident Köhler zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

In seiner Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus rief Bundespräsident Köhler dazu auf, die Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust wachzuhalten. Köhler gedachte auch der homosexuellen NS-Opfer. Die Rede als Dokumentation.

„Heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, gedenken wir ihrer: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderung, der politisch Andersdenkenden und der Homosexuellen und aller, die der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und den deutschen Raub- und Vernichtungskriegen zum Opfer fielen.“

Die Rede Köhlers im Wortlaut (Quelle: Bundespräsidialamt):

Vor dem Mannheimer Hauptbahnhof gibt es einen merkwürdigen Wegweiser: „Gurs 1170 Kilometer“, steht auf dem Schild.

Gurs, das ist ein Dorf in den französischen Pyrenäen. In Mannheim war der Ort lange Zeit unbekannt.

Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden in Baden, im Saarland und in der Pfalz mehr als 6.000 Menschen aus ihren Häusern geholt, zu den Bahnhöfen getrieben, auf Züge verladen und quer durch Frankreich transportiert. Es waren Handwerker, Arbeiter, Ärzte, es waren Männer und Frauen, Greise und Säuglinge. Sie hatten nur eines gemeinsam: Es waren Juden und ihre Familien.

Der Transport begann am Laubhüttenfest. Es dauerte drei Tage, und als die Menschen aus Mannheim und Karlsruhe, aus Kaiserslautern und dem Saarland endlich ankamen, waren sie in Gurs. Aber nicht in dem kleinen Bergdorf, sondern in einem Internierungslager nahebei. Die Lebensbedingungen waren entsetzlich. Mehr als tausend Deportierte starben an Hunger und Krankheit. Einigen gelang es, zu entkommen, aber die meisten wurden schließlich nach Auschwitz geschafft und dort ermordet.

Am 13. Mai 2005 machten sich wieder Menschen aus Mannheim und Umgebung auf den Weg nach Gurs. Es waren Jugendliche, die mehr wissen wollten über die Geschichte ihrer Stadt und der verschleppten und ermordeten Bürger. In Gurs stießen sie auf die Überreste des Lagers und besuchten den Friedhof, auf dem viele Menschen aus Mannheim begraben liegen. Sie verglichen Namenslisten. Sie trafen sich mit Überlebenden. Das hat sie verändert.

Als sie zurückkehrten, machten sie eine Ausstellung. Bis heute interessieren sich viele Menschen dafür. Und die Jugendlichen schafften es, dass der Stadtrat beschloss, den Wegweiser vor dem Hauptbahnhof zu errichten. Als Zeichen. Zur Erinnerung. Zum Nachdenken. Zum Nachfragen.

Die jüdischen Bürger aus Mannheim, aus den übrigen Teilen Badens und der Saarpfalz gehören zu den Millionen von Menschen, die während des so genannten Dritten Reiches erniedrigt, entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, gedenken wir ihrer: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderung, der politisch Andersdenkenden und der Homosexuellen und aller, die der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und den deutschen Raub- und Vernichtungskriegen zum Opfer fielen.

„Auschwitz“ – dieser Name ist Inbegriff für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Er steht für den Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen. Was uns an Auschwitz erschüttert und fassungslos macht, das ist nicht allein das Ausmaß des Völkermordes. Es ist die fabrikmäßige Rationalität, die Maschinerie. Es sind die Schicksale, die hinter den Opferzahlen stehen – die Lebensgeschichten von Männern, Frauen und Kindern aus ganz Europa, die hier getötet wurden, weil die Nationalsozialisten ihnen das Recht zu leben absprachen.

Die Nationalsozialisten kamen weit mit dem Versuch, das Volk zu vernichten, das nach biblischer Überlieferung von Gott die Zehn Gebote erhalten hat, und sie wollten diese Gebote selbst und den Respekt vor der Heiligkeit des Lebens auslöschen. Sie wollten den Deutschen das Gewissen austreiben. So ist die Schoah mehr als ein ungeheuerlicher Verstoß gegen moralische Prinzipien, die alle Kulturen und Religionen verbinden. Sie ist der Versuch, alle Moral abzuschaffen.

Das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten hat gezeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie zweischneidig die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, wie zerbrechlich die kulturellen Sicherungen, auf die wir uns täglich wie selbstverständlich verlassen.

Hitler und seine Leute hätten ihre Verbrechen nicht begehen können, wenn es nicht so viele Mittäter und Mitläufer gegeben hätte: glühende Fanatiker, aber auch „ganz normale Männer“ und Frauen, stumpfe Befehlsempfänger und bedenkenlose Profiteure, in denen uns die Banalität des Bösen begegnet. Und schließlich die vielen, die wegschauten und schwiegen.

Diese Vergangenheit in eine Beziehung zur eigenen Gegenwart und Zukunft setzen und Lehren aus ihr ziehen – das ist der Sinn unseres Erinnerns. Wir erinnern uns aus Respekt vor den Opfern. Wir erinnern uns, um aus der Geschichte zu lernen. Und wir erinnern uns um unserer selbst willen. Denn Erinnerung bedeutet auch: Nach der Wahrheit, nach einem festen Grund für das eigene Leben suchen.

Wer sich der eigenen Vergangenheit nicht stellt, dem fehlt das Fundament für die Zukunft. Wer die eigene Geschichte nicht wahrhaben will, nimmt Schaden an seiner Seele. Das gilt für jeden Menschen. Und ich bin überzeugt: Es gilt auch für Völker und Nationen. Denn nur mit der Erinnerung leben, birgt die Chance, mit sich und anderen ins reine zu kommen.

Die Verantwortung aus der Schoah ist Teil der deutschen Identität. Die Trauer über die Opfer, die Scham über die furchtbaren Taten und der Wille zur Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und den Kriegsgegnern von einst – sie führen uns zu den Wurzeln unserer Republik: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So lautet der erste Artikel unseres Grundgesetzes. Dieser Satz ist die Antwort auf die Erfahrung der Hitler-Diktatur. Er ist ein Bekenntnis zu Menschlichkeit und Freiheit.

Es geht um die Frage, wie Menschen – also: wie wir – miteinander umgehen: Wie wollen wir miteinander leben – in unserem Land, in unserer Einen Welt? Wie gelingt es uns, wenn wir einander begegnen, bei all unserer Verschiedenheit nie zu vergessen: Der Andere, das ist ein Mensch. Einzigartig. Gleichwertig. Teil der Schöpfung, wie Du und ich.

Das geht uns alle an: ganz gleich, wann und wo wir geboren sind; ganz gleich, ob wir zur Generation der Kinder, der Enkel oder Urenkel gehören.

Es ist gut, dass Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus proklamiert hat. Es ist gut, dass die Vereinten Nationen diesen Tag 2005 zum internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt haben – denn die Lehren aus der Geschichte sind wichtig für alle.

Und ich danke Generalsekretär Ban Ki-moon, dass er die Weltgemeinschaft in einer eindringlichen Botschaft auf die Bedeutung dieses Tages hinweist.

Wir Deutsche haben uns unserer Geschichte gestellt. Und wir lassen in unserem Ringen mit ihr nicht nach. Ich bin froh, dass gerade auch junge Menschen weiter Fragen stellen. Sie wollen wissen: Was geschah mit den Juden in unserer Stadt? Was wurde aus den Patienten der örtlichen Psychiatrie? Wie lebten Christen und Juden in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vor 1933 zusammen? Welches Schicksal hatten die überlebenden Opfer nach 1945 – welches die Täter? Und: Wie gehen wir heute mit Minderheiten um? Was können wir dagegen ausrichten, wenn neuer Ungeist sich regt? Diese Fragen sind nicht neu. Aber es ist wichtig, dass sie immer neu gestellt werden.

Fragen wie diese haben vor über 20 Jahren engagierte Bewohner des Bayerischen Viertels hier in Berlin-Schöneberg dazu veranlasst, die Geschichte ihres Wohngebietes zu erforschen, das vor 1933 ein Ort blühenden deutsch-jüdischen Lebens war. Das Ergebnis waren eine Ausstellung, ein Straßenverzeichnis mit über 6.000 Namen und Lebensdaten jüdischer Einwohner und die Errichtung eines ungewöhnlichen Denkmals: 80 Tafeln, verteilt im ganzen Viertel, auf denen der Text antijüdischer Gesetze und Verordnungen abgedruckt ist. Da heißt es zum Beispiel: „Juden dürfen keine Haustiere mehr halten.“ Und auf einer anderen Tafel lesen wir vom Besitzer eines Wellensittichs, der sich von dem Tier nicht trennen konnte. Daraufhin musste er zur Gestapo, und seine Frau berichtet: „Nach vielen angstvoll durchlebten Wochen bekam ich von der Polizei eine Karte, dass ich gegen Zahlung einer Gebühr von 3,- Reichsmark die Urne meines Mannes abholen soll.“

In Landsberg am Lech legten Schülerinnen und Schüler des Ignaz-Kögler-Gymnasiums 1995 die Fundamente eines vergessenen KZ-Außenlagers frei, in dem während des Krieges Hunderte von Juden der so genannten „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer gefallen waren.

Im Stuttgarter Jugendamt wurde im Jahr 2000 auf Initiative von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Denkmal errichtet, das an die Kinder aus Sinti- und Roma-Familien erinnert, die während der Nazi-Zeit von ihren Eltern getrennt, für Versuche missbraucht und schließlich in Auschwitz ermordet wurden.

In Leipzig haben Bürgerinnen und Bürger die verwischten Spuren jüdischen Lebens in ihrer Stadt wieder sichtbar gemacht: durch eine Ausstellung, im Internet und mit einer CD, die man auch als Stadtführer nutzen kann.

In Darmstadt haben Studenten der Technischen Universität zerstörte Synagogen aus vielen deutschen Städten am Bildschirm rekonstruiert und die Bilder und Pläne im Internet zugänglich gemacht – als Informationsquelle und als virtuelles Denkmal.

Das Bundesarchiv und das Institut für Zeitgeschichte haben vor einem Jahr den ersten Band einer wissenschaftlichen Quellensammlung über die „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ vorgestellt. Darin werden auch viele neu zugängliche Dokumente aus osteuropäischen Archiven veröffentlicht, die unseren Blick für das Ausmaß der Verbrechen in Mittel- und Osteuropa schärfen. Zugleich ist die Sammlung ein Schriftdenkmal für die Opfer, denn sie enthält auch viele private Briefe und Tagebuchaufzeichnungen.

Ungezählte Beispiele wie diese zeigen: Die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und das Gedenken an die Verfolgten und Ermordeten sind lebendig bei uns.

Viele Erinnerungsprojekte befassen sich auch mit der Geschichte derjenigen, die nicht schwiegen und wegschauten, sondern Verfolgten beistanden. Es berührt uns, wenn wir in den Tagebüchern von Victor Klemperer lesen, wie nichtjüdische Nachbarn und Geschäftsleute ihm und seiner Frau heimlich Lebensmittel zusteckten. Es bewegt uns, bei Hannah Arendt und Arno Lustiger zu lesen, wie der Wehrmachts-Feldwebel Anton Schmid in Wilna Juden vor der Erschießung rettete und dafür zum Tode verurteilt und ermordet wurde.

Ein Lesebuch mit preisgekrönten Aufsätzen von Schülern, das Bundespräsident Johannes Rau herausgegeben hat, setzt solchen Stillen Helden ein Denkmal. Es ist wichtig, dass wir uns an diese mutigen Frauen und Männer erinnern. Sie retteten ihre Mitmenschen. Sie verteidigten die Menschlichkeit.

Wer solche Aufzeichnungen liest und sich von ihnen anrühren lässt, schärft das eigene Gewissen. Millionen von Kindern und Jugendlichen sind mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ und Judith Kerrs Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ groß geworden. Zehntausende Menschen kennen den erschütternden Briefwechsel zwischen der nach Auschwitz verschleppten Jüdin Lilli Jahn und ihren Kindern. Und in den vergangenen Jahren gab es auch beeindruckende Versuche für neue literarische Zugänge zu diesem schwierigen Thema. Ich denke zum Beispiel an Art Spiegelmans Bildgeschichte „Maus“ oder die Comic-Reihe des Anne-Frank-Hauses, die auf großes Interesse gestoßen sind.

Die Auseinandersetzung mit dem Naziregime und seinen Verbrechen steht in den Lehrplänen aller Schulformen. Aber Untersuchungen zeigen immer wieder, dass es mit dem Geschichtswissen bei unseren jungen Leuten nicht zum Besten steht. Das betrifft nicht allein ihr Wissen über die erste deutsche Diktatur und den Holocaust; aber da ist der Befund besonders bedrückend. Wie passt das zusammen? Fehlt es da an Unterrichtszeit, an guten Büchern und Filmen, an pädagogischen Hilfen für die Lehrer? Fehlt es an Zusammenarbeit mit außerschulischen Geschichtsprojekten, die es doch fast überall längst gibt?

Ich sehe hier eine gemeinsame Aufgabe für alle in Deutschland, denen die Zukunft der Erinnerung (Roman Herzog) wichtig ist. Sie sollten zusammenfinden und zusammen arbeiten. Wir wollen dafür viele Wege bahnen, und für junge Menschen auch viele Wege außerhalb des Klassenzimmers. Wir wollen erreichen, dass alle Schulen in ihrem Umfeld gute Partner für den Geschichtsunterricht finden können.

Die Anstrengung lohnt sich, das wissen alle Lehrerinnen und Lehrer, die sich in diesem Bereich schon engagieren und denen ich an dieser Stelle von Herzen danke. Die Anstrengung lohnt sich auch deshalb, weil diese historische Bildung zugleich ein Baustein für die Humanität der Gesellschaft ist, in der wir morgen leben werden.
Das Ziel ist hoch gesteckt: Wir wollen erreichen, dass die Seele jedes Menschen berührt wird vom Leid der Opfer, vom Mut der Helfer und von der Niedertracht der Täter.

Das ist unser gemeinsamer Auftrag.

Immer wieder haben mir Jugendliche berichtet, wie sehr ihr Interesse an Geschichte, ihr Engagement und ihr Verantwortungsbewusstsein für ein gutes Miteinander gerade dadurch beflügelt wurden, dass sie den Spuren der Vergangenheit in ihrem heutigen Alltag nachgingen, dass sie zum Beispiel das Schicksal jüdischer Schüler an ihrer eigenen Schule erforschten und mit Zeitzeugen darüber sprachen, wie damals eine Minderheit ausgegrenzt und verteufelt wurde, und dass sie schließlich überlegten: Wie kann ich das, was ich erfahren und gelernt habe, meinen Mitschülern vermitteln – auch denen, die nichts davon wissen wollen?

Es gibt viele gute Beispiele für Initiativen, die den Schulunterricht ergänzen und vertiefen können und deren Erfahrungen möglichst allen zugänglich sein sollten. Ich denke etwa an das Projekt „step21“, das Jugendliche zu Zivilcourage, Aufgeschlossenheit und Toleranz erziehen will, oder an die Arbeitsgemeinschaft „Spurensuche“ der Jakob-Grimm-Schule in Rotenburg an der Fulda, die im Internet die Geschichte der Juden in der Region seit dem 13. Jahrhundert vorstellt. Oder an die Schüler aus Apolda in Thüringen und Mühlheim am Main in Hessen, die seit der friedlichen Revolution in der DDR jedes Jahr gemeinsam nach Auschwitz fahren. Im ehemaligen Konzentrationslager helfen sie bei Erhaltungsarbeiten, sie betreiben eigene Recherchen und lassen die Eindrücke dieses Ortes auf sich wirken. Einen Teil ihres Aufenthalts verbringen sie in den Familien von Schülern einer polnischen Partnerschule. So verbindet sich Erinnerungsarbeit mit Völkerverständigung – und junge Menschen lernen fürs Leben.

Ich wünsche mir, dass die vielen guten Erinnerungsprojekte, die es in unserem Land bereits gibt, immer neue Nachahmer und Nachfolger finden. Ich wünsche mir, dass vor allem junge Menschen weiter auf Spurensuche gehen und sich darum bemühen, den Opfern und den Tätern Namen und Gesicht zu geben – dort, wo sie gelebt und gearbeitet haben; dort, wo sie unsere Nachbarn hätten sein können.

Wir brauchen viele „Stolpersteine“ und immer wieder neue, die unseren Alltag unterbrechen. Und wir brauchen auch die Kraft der Künstler, die Auseinandersetzung mit dem Unfassbaren immer wieder neu anzustoßen.

Die Zeit wird kommen, in der kein Mensch mehr am Leben sein wird, der aus eigener Erfahrung über die Jahre vor 1945 berichten kann. Deshalb ist das Gespräch der Zeitzeugen mit den Nachgeborenen so wichtig. Denn eines Tages werden die jungen Menschen, die heute den Alten zuhören, die unmittelbarsten Träger der Erinnerung in Deutschland sein.

Zur Vorbereitung auf diese Rede habe ich vor ein paar Tagen mit Jugendlichen gesprochen und sie gefragt, wie sie die Zukunft der Erinnerung sehen. Ein Schüler aus Berlin, der einen Film mit Überlebenden gedreht hat, sagte mir: „Jetzt sind wir die Zeugen der Zeitzeugen. Wenn uns unsere Enkelkinder eines Tages fragen, gibt es viel, was wir ihnen erzählen können.“

Diese Antwort hat mir Zuversicht gegeben. Sorgen wir dafür, dass es immer viel gibt, was junge Menschen in Deutschland über die Untaten der Nationalsozialisten wissen und zu erzählen haben.

Ich danke den Menschen, die sich am heutigen Tag überall in unserem Land und auf der ganzen Welt versammeln, um der Ermordeten zu gedenken. Und ich danke auch den Rednern, die in den vergangenen Jahren bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag eindrucksvolle Worte gefunden haben. Viele von ihnen waren Zeitzeugen, die über ihr eigenes Erleben und Erleiden berichtet haben. Ihre Botschaft ist kostbar für uns. Wir werden sie weitertragen. Und vielleicht können wir an dieser Stelle in den nächsten Jahren einmal einen jungen Menschen hören, der berichtet, was Erinnerung für ihn und seine Generation bedeutet.

Erinnerung stiftet Vertrauen. Michaela Vidlakova aus Prag war als Kind sechs Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt eingesperrt. Nach der Befreiung schwor sie sich, nie wieder ein Wort Deutsch zu sprechen. Im vergangenen Jahr kam sie nach Berlin, zum 50. Jahrestag der Gründung der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, und hielt eine Rede.

Sie sprach auf Deutsch, und ihre ersten Worte waren: „Liebe Freunde“. Und dann sprach sie davon, wie wichtig für die Holocaust-Überlebenden in Prag die Begegnung mit Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen ist – weil diese jungen Deutschen ihnen das Gefühl vermitteln, dass das Bekenntnis „Nie wieder!“ für sie keine Floskel ist.
Ich bin dankbar dafür, wenn ich erlebe, wie Juden und Angehörige anderer Opfergruppen uns die Hand zur Versöhnung reichen. Ich bin froh darüber, dass die Präsidenten der Lagergemeinschaften der ehemaligen Konzentrationslager heute hier sind.

Es ist ein Geschenk, dass heute in Deutschland wieder jüdisches Leben erblüht, dass die jüdischen Gemeinden wachsen, dass Rabbiner bei uns ausgebildet und neue Synagogen gebaut werden. Aber dass die Orte jüdischen Lebens von der Polizei vor alten und neuen Extremisten geschützt werden müssen, das ist eine Schande. Stellen wir uns an die Seite unserer jüdischen Landsleute. Wer sie angreift, greift uns alle an.

Die größten Feinde der Erinnerung sind die Verdrängung und die Lüge. Wir dürfen nicht zulassen, dass Holocaust-Leugner und Extremisten aller Art in unserem Land Beifall oder auch nur Verständnis finden. Wer gegen Juden und andere Minderheiten hetzt, wer Anderen die Menschenwürde abspricht, hat nichts aus unserer Geschichte gelernt. Treten wir solchen Leuten entschieden entgegen. Gestatten wir es ihnen nicht, Deutschlands Namen zu beflecken.

Bei meinem Besuch in Israel im Jahr 2005 war ich auch in Sderot. Viele kennen den Namen dieser Stadt im Süden Israels aus den Nachrichten. Seit Jahren schlagen dort immer wieder Raketen ein, die aus dem benachbarten Gaza-Streifen abgefeuert werden. Ich habe bei diesem Besuch die Atmosphäre der Angst und der Bedrohung gespürt, unter der die Menschen leiden: das bange Warten auf den Sirenenton, das beständige Ausschauhalten nach dem nächsten Bunker am Straßenrand oder auf dem Schulhof. Das ist Terror.

Doch auch die vielen Toten und Zerstörungen des Krieges im Gaza-Streifen sind Teil eines Teufelskreises der Gewalt, der endlich gebrochen werden muss. Die Welt muss jetzt zusammenstehen, damit Frieden im Nahen Osten möglich wird. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung aktiv in diesen Prozess einbringt.

Deutschland steht mit seiner Geschichte in besonderer Verantwortung für Israel. Wir Deutsche wollen, dass die Bürger Israels in sicheren Grenzen frei von Angst und Gewalt leben können. Und wir wollen, dass das palästinensische Volk in einem eigenen lebensfähigen Staat seine Zukunft finden kann.

Damit im Nahen Osten endlich Frieden möglich wird, braucht es Realismus und Mut – auch den Mut, an Wunder zu glauben und dafür zu arbeiten, dass sie Wirklichkeit werden. Menschen, die diesen Mut haben, habe ich neulich kennen gelernt, hier in Berlin beim Konzert des von Daniel Barenboim und Edward Said 1999 gegründeten West-Eastern Divan Orchestra. Es waren junge Musiker aus Israel und Palästina. In der Pause sprach ich mit einigen. Sie standen zu ihren unterschiedlichen Meinungen. Sie verleugneten nicht ihre Herkunft. Und doch fanden sie in einer Erklärung auch zu Gemeinsamkeit. Zwei Sätze aus der Erklärung will ich hier zitieren:

„Wir, die Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra, sind überzeugt davon, dass es keine militärische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt.“

„Wir streben nach völliger Freiheit und Gleichheit zwischen Israelis und Palästinensern – das ist die Basis, auf der wir heute zum gemeinsamen Musizieren zusammenkommen.“

Ich finde, diese beiden Sätze zeigen auch: Frieden im Nahen Osten ist keine Utopie. Lassen wir uns von dieser Botschaft anstecken.

Die Nationalsozialisten wollten eine Welt schaffen, in der es keine Anderen mehr geben sollte: keine Andersdenkenden und Andersfühlenden, keine Kranken und Schwachen und auch nicht diejenigen, die man zwang, den Judenstern zu tragen.

Eines der bekanntesten Bilder des ermordeten Felix Nussbaum ist ein Selbstporträt, das er wenige Monate vor seiner Verhaftung gemalt hat. Es zeigt unter düsterem Himmel eine hohe Mauer und davor einen ernsten Mann, der den Stern trägt und dem Betrachter seinen Ausweis entgegenhält. Geburtsdatum und Geburtsort sind ausradiert. Bei „Nationalität“ steht „ohne“. Geblieben sind nur der Name, das Passbild und in großen roten Buchstaben die Worte „Juif – Jood“ – Jude, die für Nussbaum und Millionen von Leidensgenossen das Todesurteil bedeuteten.

Auch heute werden Menschen auf ihre Abstammung, ihre Herkunft oder andere äußerliche Merkmale reduziert und verächtlich gemacht. Auch nach Auschwitz gab und gibt es Versuche, Menschen und ganze Völker zu vernichten. In Ruanda, in Darfur, in Bosnien und anderswo.

„Es vergeht kein Jahr ohne ein Srebrenica irgendwo auf der Welt.“ schrieb der polnische Journalist Konstanty Gebert, nachdem er 1995 Tadeusz Mazowiecki durch das frühere Jugoslawien begleitet hatte. „Könnte es daran liegen“, so Gebert weiter, „dass wir Auschwitz als Museum ansehen, in dem man die Vergangenheit studieren kann – nicht als einen Ort, an dem wir mit unserer Gegenwart und Zukunft konfrontiert sind?“

Für uns Deutsche darf diese Vergangenheit nicht zum Museum werden. Das Geschehene bleibt Teil unserer Gegenwart, und die Lehren aus der Vergangenheit gehören zum Fundament unseres Selbstverständnisses als Nation.

Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren, ich möchte heute das Versprechen ablegen: Wir Deutsche werden die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer wach halten. Wir sehen einen Auftrag darin. In unserem Einsatz und in unserer Arbeit für die Freiheit, für die Menschenrechte und für Gerechtigkeit. Für die Seelen der Toten. Und für unsere eigenen.

Friedrich Enchelmayer – homosexuellen NS-Opfern wieder ein Gesicht geben

Homosexuelle zählen zu den ‚vergessenen und verdrängten Opfern des Nationalsozialismus‘. Oft ist nur wenig über ihre Geschichte bekannt. In Stuttgart versuchen nun engagierter Bürger und Angehörige, schwulen NS-Opfern wieder ein Gesicht, eine Geschichte zu geben.

Immer noch ist nicht viel bekannt über das Schicksal der meisten Männer, die von den Nazis als Homosexuelle verfolgt wurden. Nur in wenigen Ausnahmen gibt es detailliertere Zeitzeugen-Berichte, verfassten schwule Männer, die von den Nazis verfolgt und verhaftet wurden, später Bücher, Artikel oder andere Berichte.

Das Schicksal der meisten von den Nazis verfolgten, verhafteten und oftmals ermordeten Homosexuellen bleibt bisher im Dunkel. Homosexuelle – vergessene Opfer des Nationalsozialismus, die auch nach 1945 weiterhin zu Opfern gemacht wurden.
Nicht nur gab es vom Staat keine Unterstützung, gar Anerkennung, dem Staat, der ihnen lange Anerkennung als NS-Opfer, Rehabilitierung und Entschädigung verweigerte. Vielmehr schwiegen viele Betroffene auch nach 1945 aus Scham – oder auch aus Angst vor den Reaktionen ihre Umfelds, ihrer Verwandten, ihrer Nachbarn.

Erst langsam kommt Licht in das Dunkel der Geschichte vieler in der NS-Zeit verfolgter Homosexueller.
Oft ist dabei Anlass oder ‚Unterstützer‘ das im Mai 2008 eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, durch das auch Rudolf Brazda als vermutlich einer der letzten noch lebenden in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen sich zu Wort meldete.

Oder auch mutige und aufgeschlossene Nachfahren. Wie jetzt in der Stadt Eßlingen am Neckar.

Friedrich Enchelmayer landete wegen „widernatürlicher Unzucht mit Männern“ im KZ – Großnichte sucht Detail“ titelt die „Eßlinger Zeitung“. Und berichtet von eben diesem Friedrich Enchelmayer, einem der zahlreichen bisher namen- und geschichtlosen homosexuellen Opfer der NS-Homosexuellenverfolgung.

Der 1908 geborene Enchelmayer erlebte, erlitt früh die verschiedene Stufen der NS-Homosexuellen-Verfolgung. „Von 29. Mai 1934 bis 19. April 1935 verbüßte er eine Strafe wegen ‚widernatürlicher Unzucht mit Männern‘, wie das Urteil im damaligen Chargon hieß. Danach begab er sich wegen seiner Homosexualität in ärztliche Behandlung und führte auch zwei Jahre eine Beziehung mit einer Frau, mit der er sich verlobte.“

Seine Großnichte Suse berichtet über sein weiteres Schicksal: „Am 8. Dezember 1937 wurde mein Großonkel erneut wegen eines Vergehens gegen Paragraf 175 zu zwei Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt. Er kam am 1. Juni 1940 ins KZ Dachau und wurde am 3. September 1940 als befristeter Vorbeugehäftling nach Sachsenhausen überstellt.“
Kurze Zeit später wurde er nach Neuengamme überstellt, wo er am 9. November 1940 im Alter von 32 Jahren starb – an ‚Herzversagen‘, wie die KZ-Akten lakonisch und vermutlich verfälschend vermerken.

Seine Großnichte versucht nun, noch mehr Licht in das bisherige Dunkel um das Schicksal ihres Großonkels zu bringen – und in das weiterer homosexueller NS-Opfer aus der Region Stuttgart. Sie engagiert sich im ‚Arbeitskreis Rosa Winkel‚, der „es sich zur Aufgabe gemacht [hat], diese Verbrechen des Faschismus in geeigneten Formen sichtbar zu machen“.

„Friedrich Enchelmayer landete wegen ‚widernatürlicher Unzucht mit Männern‘ im KZ – Großnichte sucht Detail“
Eßlinger Zeitung online vom 08.01.2009