Die Stadt Rotterdam will die Finanzierung von Aids-Projekten ab 2010 komplett einstellen. HIV sei heutzutage eine chronische Krankheit ohne Tabus, so die Begründung der Stadt.
Dazu ein Gastbeitrag von Alexander Pastoors:
Im Auftakt zu der Feststellung des Etats 2010 will die Rotterdamer Senatorin für Gesundheit Jantine Kriens den gesamten Etat für alle Verbände, die in Rotterdam Pflege und Unterstützung von Menschen mit HIV und Aids anbieten, streichen. Sie begründete diesen Entschluss mit den Worten: „HIV ist heutzutage eine chronische Krankheit. Es gibt kein Tabu mehr in Bezug zu HIV und Aids. SIC!“
In Rotterdam hat dieser Entschluss zu massiven Protesten von professionellen Helfern geführt. Die Rotterdamer Aidshilfe hat gemeinsam mit dem Dachverband der Niederländischen Aidshilfe eine Initiative gestartet, um die Parteien im Gemeinderat davon zu überzeugen, dass dieser Entschluss nicht einfach so vom Gemeinderat verabschiedet werden kann.
Es ist kaum zu fassen, eine Senatorin mit trockenen Augen sagen zu hören, dass es um HIV anno 2009 kein Tabu mehr gibt. Auf welchem Planeten lebt diese Frau?
Rotterdam als mittlere Großstadt in den Niederlanden hat einen relativ hohen Anteil von Migranten, die HIV-positiv sind. Über 25% der Patienten die in den zwei Rotterdamer HIV-Schwerpunkt Krankenhäuser behandelt werden, haben einen Migrationshintergrund. Wenn es eine Bevölkerungsgruppe gibt, in der Stigma ein besonderes Problem ist, dann ist es die Gruppe Einwanderer aus den Sub-Sahara Ländern.
Ausgrenzung und Stigmatisierung und die dazu gehörigen psychischen Probleme sind unter HIV-Positiven die größten Probleme. Eine Untersuchung der Universität Maastricht hat das im Dezember 2008 zum ersten Mal massiv und deutlich erkennbar gemacht.
In Kenntnis dieser Daten ist es unverständlich wie jemand mit ein bisschen Verstand behaupten kann, es gäbe kein Tabu mehr um HIV.
Der Gemeinderat wird den Etat von 2010 am 12. November verabschieden. Wir warten gespannt ab was geschehen wird.
weitere Informationen:
Aids-Fonds 2008: HIV-Related Stigma in the Netherlands (pdf)
ad 26.10.2009: Hiv-patiënten in de kou
poz and proud 27.10.2009: Schande!
poz and proud 27.10.2009: Geen geld voor hiv-hulp
Stichting Humanitas: Petition „Laat mensen met HIV en Aids niet alleen met hun problemen!“
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In Kenntnis dieser Daten ist es unverständlich wie jemand „mit ein bisschen Verstand“ behaupten kann, es gäbe kein Tabu mehr um HIV.
DAS ist der springende Punkt. Solche Aussagen sind nur möglich wenn man KEINEN Verstand hat . . . . .
Nun, ganz so einfach ist es nicht, Frau Kriens auf einem möglichst weit entfernten Planeten zu verorten.
Einerseits wird massiv gefordert, man müsse HIV/AIDS und die unmittelbar Betroffenen entstigmatisieren, müsse endlich zu einem ’normalen‘ Umgang finden, man müsse endlich mit Ausgrenzungen und Sonderbetrachtungen und – behandlungen aufhören, und, und, und,…
Nun kommt die Rotterdamer Politikerin und sagt, lasst uns HIV/AIDS wie jede andere chronische Krankheit betrachten und nicht mehr so tun, als sei das etwas ganz Besonderes (mir ist vollkommen klar, dass die Argumentation mehr von der Sorge um den städtichen Haushalt als von der Sorge um die Menschen bestimmt ist), da wird dann doch wieder auf die Besonderheiten von HIV/AIDS rekurriert und gefordert, man dürfte diese Betroffenen eben nicht wie alle anderen behandeln.
Irgendwo beißt sich die Katze da in den Schwanz. Ich bitte, mir die flapsige Formulierung nachzusehen, aber es geht nicht, einerseit zu argumentieren, HIVpositive Menschen seien nicht die Problemfälle der Gesellschaft (was sie auch nicht sind – ich bitte, mich nicht mißzuverstehen), andererseits aber bei der Verteilung von öffentlichen Gelder eine Extraportion zu beanspruchen. Fordert man an der falschen Stelle und mit den falschen Begründungen, wird gerade die Stigmatisierung gefördert, die man bekämpfen will.
Beispiel: Oben im Text heißt es
„alle Verbände, die in Rotterdam Pflege und Unterstützung von Menschen mit HIV und Aids anbieten“.
Hier werden nach meinem Dafürhalten zwei Bereiche miteinander vermischt, die besser getrennt betrachtet und sprachlich auseinandergehalten werden sollten.
Die Pflegebedürftigkeit eines Menschen hat – die Experten mögen mich gegebenenfalls korrigieren – wenig damit zu tun, an welcher Krankheit ein Menschen leidet, sondern wie sich die Erkrankung im individuellen Fall auswirkt. Hier wird man ohne weiteres sagen können, dass es keinen Grund gibt, HIV/AIDS per se als einen besonderen Pflegebedarf auslösend zu betrachten. Vielmehr: Eine Krankheit, wie viele andere auch, die den einen mehr, den anderen weniger beeinträchtigt.
Etwas anders sieht es mit der Unterstützung aus. Hier wird man wohl nach wie vor generalisierend dazu kommen müssen, dass die Diagnose HIV+ außerhalb der medizinischen Fragen erhebliche Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld mit sich bringen kann.
Wolle ich öffentliche Gelder in Anspruch nehmen, würde ich niemals argumentieren, dass das Virus das Problem ist, niemals auf einen besonderen medizinischen Bedarf und besondere Pflegebedürftigkeit hinweisen, dann heißt es nämlich nach wie vor, ’selbst schuld‘, ‚warum haste nicht aufgepasst‘, blablabla, sondern immer in den Vordergrund stellen, das der gesellschaftliche Umgang mit dem Infektion Probleme bereitet; das ist die Schiene ‚Unterstützung‘ – nicht ich habe ein Problem mit der Infektion, sondern ich habe ein Problem mit meinem Umfeld, dass mit meiner Infektion nicht umzugehen weiß.
Das wird in der öffentlichen Diskussion natürlich nie so trennschaft diskutiert werden können. Wenn aber von Verbands- und Aktivistenseiten von vornherein alles vermengt und pauschale Forderungen erhoben werden, ist die Gefahr sehr groß, genau die Stigmatisierung zu generieren, aus der man herausmöchte.
@ Steven:
ja, das mit der katze und dem schwanz weist schon auf ein dilemma hin, das der „normalisierung“ oder „chronifizierung“ und ihren folgen.
die verbesserung der situation betrifft unterschiedliche gesellschaftliche gruppen allerdings in unterschiedlichem umfang – und zb migranten sind hier deutlich schlechter gestellt. hier von „es gibt kein tabu mehr“ zu sprechen, ist schlicht an (lebens)realitäten von migran/innen mit hiv völlig vorbei …
dass an einigen stellen weichen neu gestellt oder an manchen stellen schwerpunkte neu gesetzt werden könnten, ist sicher dikussionsfähig, auch unter aids-projekten (wie auch debatten in berlin ja zeigen) – wenn die verbesserungen allerdings als anlass für komplette streichungen genommen werden, dürfen wir uns dann nicht beschweren, wenn die epidemiologische entwicklung demnächst wieder in ganz andere richtungen geht …
man muss nur unterscheiden zwischen der formulierung einer zielvorstellung einerseits und der aktuellen realität, die man verändern möchte, andererseits – dann lässt die katze ihren schwanz wieder los.
davon abgesehen: auch ohne tabuisierung gäbe es weiss der himmel noch genuegend berechtigung fuer hiv-hilfsprojekte. die drehen sich ja nicht ausschliesslich um tabu-bearbeitung, sondern grösstenteils um ganz praktische alltagsprobleme. käme irgendjemand auf die idee, eine beratungsstelle fuer mukoviszidose abzuschaffen, weil diese krankheit nicht „genuegend“ tabuisiert sei?
hier stimmen weder die diagnose des problems noch die logik der konsequenz der falschen diagnose.
nun
tatsächlich muss unterschieden werden zwischen dem ziel/dem was am horizont möglich sein könnte und der realität. noch sind wir nicht soweit.
nur bleibt trotzdem die frage, enrsthaft und immer wieder zu prüfen, welche sonder-stellung, welche extras noch notwendig sind, welche bereits überholt und was genau dem ziel auch im wege stehen könnte.
aber von normalisierung und enttabusierung zu schwafeln und einfach gelder zu streichen ist billig und kurzsichtig. solange es nur wenige menschen gibt, die offen und öffentlich mit HIV und AIDS leben, solange die alten bilder- insbersondere die schmuddelecke- mit wohllust zelebriert werden, und erst recht solange diskriminierung & kriminalisierung und versteckter gesundheitsfaschismus an der tagesordnung sind, gibts keine “ normalisierung“ und darum auch keinen grund service-organisationen und selbst (-hilfe-)organisationen das geld/die ressourcen und die existenzberechtigung zu entziehen!
@Steven
Die Pflegebedürftigkeit eines Menschen hat – die Experten mögen mich gegebenenfalls korrigieren – wenig damit zu tun, an welcher Krankheit ein Menschen leidet, sondern wie sich die Erkrankung im individuellen Fall auswirkt. Hier wird man ohne weiteres sagen können, dass es keinen Grund gibt, HIV/AIDS per se als einen besonderen Pflegebedarf auslösend zu betrachten.
Per Se gebe ich Dir recht. Der Knackpunkt ist schlicht und einfach der das ein Problem dann auftauchen kann wenn der HIV Kranke Gay ist. Wie die Situation in Holland ist entszieht sich meiner Kenntnis. Das in Deutschland was die Pflege von HIV kranken betrifft einiges im argen liegt, das hat sich auf der Tagesveranstaltung am 11. Juli in Frankfurt herauskristallisiert. Siehe „Frankfurter Resolution „In Würde alt werden“. http://alivenkickn.wordpress.com/2009/09/09/frankfurter-resolution-in-wurde-alt-werden/Was in
Frankfurt z.b. auch Tatsache ist die AH Frankfurt könnte ein mehr an finanzierung von Pflegepersonal gebrauchen um HIV Kranke die zu Hause leben pflegen zu können. siehe : http://www.frankfurt-aidshilfe.de/geschaeftsstelle/projekte/p-regenbogendienst
Das HIV zu einer chronisch behandelbaren Krnakheit geworden ist stellt niemand in Frage. Das mit HIV mechanismen wie Stigma und Diskriminirung auch Tabus ausgelöst werden auch nicht. Und die sind nun mal vorhanden – bei Menschen also auch bei bei Eltern, Bekannten, dem Bäcker und Nachbarn von nebenan, bei Pflege und Krankenhauspersonal ebenfalls.
Ich verlange nicht das mir ne Pflegerin im Alter vor Begeisterung um den Hals fällt wenn sie erfahren hat das ich HIV + bin, ich verlange aber das sie oder er mich respektiert und mich nicht spüren läßt das HIV positve Menschen ihm/ihr zu wider sind.