Mit ICH WEISS WAS ICH TU geht die HIV-Prävention neue Wege. Sind es die richtigen? DAH-Schwulenreferent Dr. Dirk Sander über Einwände, Hitlerspots und die Frage, ob Schwule sich heute weniger vor HIV schützen als früher
Herr Dr. Sander, seit Jahren wird sehr häufig die gleiche Frage gestellt: Wie kriegen wir die Schwulen dazu, endlich wieder mehr Kondome zu benutzen. Haben Sie eine Antwort darauf?
Die Schwulen benutzen doch wie verrückt Kondome! (lacht) Im Ernst: Die Motivation, sich zu schützen, ist bei schwulen Männern ungebrochen.
Wie können Sie da so sicher sein?
Studien zeigen immer wieder, dass das Schutzverhalten nicht abnimmt. Die Bereitschaft, sich beim Sex zu schützen, bleibt auf hohem Niveau stabil. Rund 70 Prozent schützen sich immer oder fast immer vor HIV, 20 Prozent meistens, nur 10 Prozent selten oder nie.
Wieso ist dann die Zahl der HIV-Neuinfektionen in den letzten Jahren gestiegen?
Das hat verschiedene Ursachen. Die wichtigste ist, dass sich andere sexuell übertragbare Infektionen verbreiten, insbesondere die Syphilis. Wenn ein HIV-negativer Mensch die Syphilis hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er sich mit HIV infiziert. Ein HIV-Positiver mit Syphilis kann HIV leichter weitergeben.
Was ist mit der Vermutung, die HIV-Neuinfektionen seien gestiegen, weil HIV den Schrecken des Todes verloren hat?
So einfach ist der Zusammenhang nicht. Viele Leute haben lange auf bestimmte Dinge beim Sex verzichtet, aus Furcht vor einer HIV-Infektion. Jetzt gibt es wieder mehr sexuelle Aktivität, auch mehr Analverkehr. Dabei kommt es logischerweise auch zu mehr Risikosituationen. Es hat immer Situationen gegeben, wo der Schutz nicht hundertprozentig gelingt, das liegt in der Natur der Sache. Es gibt mehr Sex – und damit mehr Risiko. Das ist ein reines Rechenspiel! Es bedeutet eben nicht, dass sich immer weniger Leute schützen wollen.
Interessant: Man könnte ja denken, dass mit der Todesdrohung tatsächlich eine wesentliche Motivation verschwunden ist.
Die Leute haben doch auch Grund genug, sich vor einer chronischen Erkrankung zu schützen. Auch heute ist HIV noch lange kein Zuckerschlecken. Es gehört zu unseren Aufgaben, das zu vermitteln.
Wie haben sich die Botschaften der Prävention verändert?
Die grundlegenden Safer-Sex-Botschaften sind gelernt und bekannt. Das Schutzverhalten ist stabil, und nur noch ein Fünftel der Befragten sagt in unserer aktuellen Erhebung zu den Bedürfnissen der Zielgruppe, dass sie Infos zu Safer Sex wollen. Das bestätigen auch die Vor-Ort-Arbeiter: Wenn sie mit der altbekannten Safer-Sex-Ansage kommen, dann fragen die Leute: Habt ihr nicht was Neues auf der Pfanne?
Und haben Sie?
Statt mit der puren Aufforderung, Kondome zu benutzen, arbeiten wir mit differenzierten Botschaften. Wir sagen zum Beispiel: Benutzt Kondome, wenn sie nötig sind. Das ist aber nicht immer der Fall. Wir wollen nicht, dass alle sich gleich verhalten, obwohl sie unter ganz verschiedenen Bedingungen Sex haben – zum Beispiel als Positive oder als Negative, in einer gefestigten Beziehung oder nachts auf dem Parkplatz.
Überfordert man die Männer nicht mit differenzierten Botschaften?
Die Leute suchen selber zunehmend nach individuellen Lösungen. Ein Beispiel: Innerhalb einer offenen Beziehung wird das Kondom weggelassen und außerhalb wird es genommen. Früher hätte man den Leuten gesagt, sie sollen auch innerhalb der Beziehung ein Kondom benutzen.
Es gibt Leute, die sagen: Wenn einfach alle weiter Kondome nehmen, statt irgendwelche Strategien auszuprobieren, hätten wir kein Problem.
Ich glaube nicht, dass das alte Konzept auf Dauer tragfähig ist. Man muss berücksichtigen, dass sich die Konsequenzen einer HIV-Infektion verändert haben – und damit ändert sich auch das Verhalten der Menschen. Unsere Prävention setzt an den Lebensrealitäten an, weil wir sonst an den Leuten vorbei gehen. Das ist einfach pragmatisch und menschlich. Wir wollten ganz bewusst weg von den ganzen negativen Diskussionen der letzten Jahre. Die haben nämlich eine offene und ehrliche Auseinandersetzung verhindert.
Bei vielen bleibt die Wahrnehmung: Es passiert mehr ungeschützter Sex.
Wir gucken genau hin und fragen: Ist das wirklich so unsafe, was da unsafe scheint? Aber auch umgekehrt: Ist wirklich Safer Sex, was danach aussieht? Die Leute wollen sich weiterhin schützen, passen sich aber mit ganz verschiedenen Strategien den neuen Bedingungen an. Beim Abschätzen des Risikos, das man dabei in Kauf nimmt, kann man sich vertun. Wir wollen, dass die Leute über die Risiken, die sie eingehen, Bescheid wissen. Gegen Mythen setzen wir Fakten. Deswegen heißt unsere Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU.
Ist es gelungen, die Leute zu sensibilisieren?
Ich denke ja. Deutschland liegt bei der Zahl der Neudiagnosen in Europa ganz unten in der Statistik.
Warum haben Sie sich entschieden, echte Menschen als Rollenmodelle zu nehmen?
Über bestimmte Lebenswelten wird viel fantasiert, etwa über HIV-Positive. Da kursieren extrem negative Bilder: Das seien Menschen, denen ihre Gesundheit egal ist – und die anderer Menschen ebenfalls. Das ist Unsinn, denn diese Männer sind Menschen wie du und ich. Sie waren aus bestimmten Gründen in einer Situation mal schwach. Oder wenden Risikomanagementstrategien an, die fehlerhaft sind. Das genau wollten wir zeigen, statt Ideal-Typen konstruieren. Wir fordern auch dazu auf, mal ehrlich zu sich selbst zu sein, den eigenen Umgang mit Risiko zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern.
Manche Rollenmodelle sagen ganz offen, dass sie nicht durchgängig Kondome benutzen. Hat das auch Ärger gegeben?
Ja, es gab manche Irritation. Rollenmodell Stephan ist da ein gutes Beispiel. Er hat sein Leben lang Safer Sex gemacht. In der Beziehung gab es eine Absprache: Außerhalb der Beziehung nur mit Kondom, innerhalb ohne. Er und sein Freund haben sich infiziert. Das zeigt, dass man auch mit bewussten Strategien scheitern kann. Safer Sex birgt immer ein Restrisiko. Es ist ehrlich, das auch zu sagen.
In diesem Jahr gab es den Spot „Aids ist ein Massenmörder“ mit Adolf Hitler und eine Kampagne der Michael-Stich-Stiftung, die ebenfalls mit sehr drastischen Bildern gearbeitet hat. Die Macher haben argumentiert: Man muss schockierende Bilder zeigen und mit der Faust auf den Tisch hauen, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Natürlich muss man dem Thema Geltung verschaffen, aber der Weg mit Schockeffekten führt ins Nichts, die Botschaft verpufft. Solche Spots sind ja auch keine Kampagnen. Funktionierende Gesundheitskampagnen sind strategisch langfristig geplant, sie beziehen die Zielgruppen schon bei der Planung mit ein. Mich ärgert außerdem, dass diese Aktionen oft mit Stigmatisierung arbeiten. Sie treffen damit immer die Falschen, zum Beispiel die HIV-Positiven, und sie gehen komplett an der Realität vorbei.
Ist Prävention also heute notwendigerweise eine komplexe und langwierige Angelegenheit?
Von einer Kampagne kann man nicht erwarten, dass sie allen Angehörigen der Zielgruppe in einem Jahr Dinge wie ein individuelles Risikomanagement beibringen kann. Ergänzende Botschaften zu der bewährten Strategie zu etablieren dauert meines Erachtens mindestens fünf Jahre. So eine Kampagne muss langfristig angelegt sein.
Herr Dr. Sander, vielen Dank für das Gespräch!
(Interview und Foto: DAH)
Ein Gedanke zu „Prävention schockt nicht“
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