Viramune, Patentrechte und – etwas Neues?

Ein Pharmakonzern stellt eine neue Formulierung eines Aids-Medikaments vor. Einmal täglich könne man es  in dieser neuen Formulierung nehmen, heißt es. Ein Fortschritt für Patienten? Oder stehen vielleicht andere Beweggründe hinter diesem ‚Fortschritt‘?

XVIII. Welt-Aids-Konferenz in Wien 2010. Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim stellt neue Daten zu seiner altbekannten Substanz Nevirapin (Handelsname: Viramune®) vor. In einer neuen ‚extended release‘ (XR) – Formulierung sei die einmal tägliche Einnahme vergleichbar mit der bisher nur möglichen zweimal täglichen Einnahme.

Die Meldung lässt aufhorchen. Weniger wegen des etwaigen ‚medizinischen Fortschritts‘, als vielmehr wegen der Frage „warum jetzt“?

Der Zug Richtung „einmal tägliche Therapie“ fährt schon viele Jahre. So dass die Frage nahezu im Raum steht: warum kommt Boehringer jetzt, erst jetzt, gerade jetzt mit seiner einmal täglich einnehmbaren Nevirapin-Formulierung?

Nevirapin ist keine neue Substanz. Es wurde bereits 1996 in den USA und 1997 in Europa zugelassen. Viel Zeit, um an einer verbesserten Formulierung zu arbeiten. Ist Boehringer Ingelheim also einfach ein in Sachen Entwicklung neuer Substanzen äußerst langsames Unternehmen? Wie schon einmal, wir erinnern uns an die unglaublich langsame Entwicklung von Tipranavir?

Oder hat die sehr späte nun scheinbar nahe kommende Marktreife des „extended release Nevirapin“ vielleicht etwas damit zu tun, dass der Patentschutz für Nevirapin in der ‚klassischen‘ Formulierung absehbar ausläuft? Ab 22. Mai 2012, in weniger als zwei Jahren, dürfen in den USA generische Versionen von Nevirapin verkauft werden (andere Quellen benennen sogar schon den 22. November 2011 als Datum des Patent-Ablaufs). Und in Europa läuft das Nevirapin-Patent sogar bereits am 16. November 2010 ab, in weniger als vier Monaten.

Andere Hersteller stehen schon bereit mit generischen Versionen von Nevirapin. Was sicherlich dem Absatz und vor allem (angesichts zunehmenden Preisdrucks) dem Umsatz von Boehringers Viramune nicht zuträglich sein dürfte. Eine neue Formulierung, zu gutem Preis, mit ‚frischem‘ Patentschutz (heißt auch: ohne Konkurrenz) für noch viele Jahre, kommt da sicherlich ganz gelegen …
Denn: eine neue Formulierung wird als neues Produkt zugelassen werden, mit neuem Patentschutz – und Schutz vor Nachahmer-Medikamenten …

Was umgekehrt zudem die Frage aufwirft, hätte Boehringer theoretisch die neue „einmal täglich“ – Formulierung auch früher auf den Markt bringen können? War nur der einzige Vorteil „Nutzen für Patienten“ nicht so bedeutend, wie der nun bevorstehende Nutzen „neuer Patentschutz für ein eigentlich auslaufendes Medikament“? Steht der kommerzielle Nutzen wieder einmal weit vor dem Patienten-Nutzen?

Nebenbei, Boehringer steht hier nur als Metapher, als ein Pharmakonzern, der gerade ein aktuelles Beispiel liefert. Der Mechanismus, den durch Generika gefährdeten Umsatz durch eine (vermeintlich) neue Formulierung und neuen Patentschutz weiter zu sichern, dürfte sich vergleichbar bei vielen Substanzen und Herstellern finden …

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Nachsatz: zur einmal täglichen Anwendung von Nevirapin gibt es bisher widersprüchliche Daten, siehe Links unten. Viramune® ist bisher nur zur zweimal täglichen Anwendung zugelassen.

weitere Informationen:
POZ 22.07.2010: Extended-Release Viramune Has Comparable Safety and Efficacy to Standard Viramune
XVIII. International Aids Conference: Comparison of 48 week efficacy and safety of 400 mg QD nevirapine extended release formulation (Viramune XR) versus 200 mg BID nevirapine immediate release formulation (Viramune IR) in combination with Truvada® in antiretroviral (ARV) naïve HIV-1 infected patients (VERxVE) (abstract)
aidsmap 13.02.2008: Boehringer-Ingelheim begins trial of once-daily extended release nevirapine
Department of Health and Human Services: letter to Huahai US Inc. (betr. Nevirapin Tabletten) 10.07.2007 (pdf)
cptech.org: anti-infective drugs
cptech.org: Background Information on Fourteen FDA Approved HIV/AIDS Drugs
aids.emedtv.com: Generic Viramune
aidsmeds 15.01.2009: Poor Viral Control With Once-Daily Viramune, Viread and Epivir
EMEA: Viramune EPAR summary for the public (pdf)
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5 Gedanken zu „Viramune, Patentrechte und – etwas Neues?“

  1. Ja, das ist ein marktüblicher Mechanismus. Versuche, den Patentschutz zu verlängern, laufen gern über die Ausweitung auf weitere Indikationsgebiete oder durch neue Darreichungsformen (z.B. Pflaster statt Tablette bzw. wie oben beschrieben…).
    Das Zurückhalten oder „IP-optimierte Timing“ der neuen Formulierung wird wohl damit begründbar sein, dass dem Patienten in den Punkten Wirksamkeit und Sicherheit keine Nachteile entstehen. Außerdem ließe sich im Zweifel kaum beweisen, dass die Entwicklung, Zulassung und Patentierung schneller hätte vonstatten gehen können…

  2. @ Clamix:
    danke für die erläuterungen!

    @ all:
    „IP-optimiertes Timing“ etwa: optimierung der entwicklung entsprechend der patentrechtlichen situation (IP intellectual property = geistiges eigentum, hier in folge patentrecht)

  3. Hi Ulli,

    danke für die Hintergrundinfos.
    Du schreibst im intro „eine neue Formulierung eines Aids-Medikaments“.

    Bei Springer-Medien finde ich die Formulierung AIDS-Pille echt unerträglich.
    Hast du das aus einem anderen Artikel übernommen oder habe ich deine satirische Seite verpasst?

    Lieben Gruß
    Anton

  4. @ Anton:
    nun, es handelt sich ja tatsächlich um “eine neue Formulierung eines [derzeit bereits seit langem zugelassenen] Aids-Medikaments”
    wäre dir „HIV-Medikament“ sprachlich lieber?
    liebe grüsse,
    ulli

  5. Mir ist HIV als Abgrenzung zu AIDS immer und in jedem Workshop lieber. Das ist mittlerweile ein Markenzeichen geworden 🙂
    Deswegen freue ich mich auch schon auf die nächste Runde mit den Präventionisten!
    *GRINS*

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