Phylogenetische Untersuchungen bei HIV: Experten widersprechen eindeutiger Aussagekraft

Bei vielen Ermittlungen und Strafprozessen wegen des Verdachts auf HIV-Übertragung stellt sich die Frage, ob und wie nachzuweisen ist, dass Person A durch Person B mit HIV infiziert wurde. Hier kommen oft so genannte ‚phylogenetische Analysen‘ ins Spiel: bei diesen ‚Abstammungs-Untersuchungen‘ wird analysiert, wie nahe ‚verwandt‘ das Erbgut des HIV von Person A mit dem Erbgut des HIV von Person B ist. Nun jedoch äußern Experten Zweifel an der Aussagekraft dieser phylogenetischen Untersuchungen. Ein eindeutiger Beweis sei nicht möglich.

In einem jüngst in der Fachzeitschrift ‚The Lancet‘ publizierten Artikel weisen Experten darauf hin, dass es mit Hilfe einer phylogenetischen Analyse nicht möglich sei, definitiv festzustellen, ob eine Person durch eine konkrete andere Person mit HIV infiziert worden sie.

Phylogenetische Analyse: 'Abstammungs-Baum' am Beispiel der Verwandtschaft von HIV und SIV (Grafik: wikimedia / Theoretical Biology and Biophysics Group, Los Alamos National Laboratory)
Phylogenetische Analyse: 'Abstammungs-Baum' am Beispiel der Verwandtschaft von HIV und SIV (Grafik: wikimedia / Theoretical Biology and Biophysics Group, Los Alamos National Laboratory)

Prof. Anne-Meike Vandamme vom ‚Rega Institute for Medical Research‘ an der ‚Katholieke Universiteit Leuven‘, eine der Ko-Autorinnen des Artikels, wies darauf hin, phylogenetische Analysen seien eher geeignet, bestimmte Szenarien auszuschließen, sie könnten jedoch nie den positiven Beweis einer erfolgten Infektion erbringen:

„Phylogenetic analysis is more powerful in its ability to exclude certain scenarios. Phylogenetics can prove that people cannot have infected each other, but it can never prove that people infected each other.“

Die Experten warnen in dem Artikel vor missbräuchlicher Verwendung dieser ‚Fingerabdruck-Technik‘ und verweisen auf zahlreiche (im Artikel aufgeführte) Richtlinien für wissenschaftliches Arbeiten. Anders als DNA oder Fingerabdrücke seien HI-Viren eben nicht einzigartig nur jeweils in einem Individuum. Mehrere Menschen könnten äußerst ähnlich aufgebaute HI-Viren haben. Selbst innerhalb eines Individuums mutiere HIV so sehr, dass zwei zu verschiedenen Zeitpunkten genommene Proben verschiedene Ergebnisse lieferten. Dies bedeute, dass zwei HIV-Proben, selbst aus dem gleichen Individuum, niemals völlig identisch sein würden. HIV sei nicht identifizierend.

Prof. Vandamme erläuterte an einem Beispiel die Konsequenz: ein Mann (Person 1) infiziert einen anderen (Person 2). Dieser hat mit einem dritten Mann Sex, bei dem diese 3. Person ebenfalls infiziert wird. Wenn man das HIV des zweiten Mannes (der ‚in der Mitte‘ der Infektionskette ist) nicht habe, sondern  nur Proben von Person 1 und Person 3, dann werde man zu dem Schluss kommen, Person 1 habe Person 3 infiziert. Im Ergebnis könne nie zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass eine Person direkt eine konkrete andere Person infiziert habe.

Prof. Hills, Autor eines früheren Papers zu Verwendung phylogenetischer Analysen (sog. PNAS-Artikel) widersprach den Schlussfolgerungen aus dem Lancet-Paper. Er betonte, in bestimmten Fällen seien phylogenetische Analysen mit multiplen Stämmen beider Beteiligter sehr wohl geeignet, einen konkreten Infektionsweg nachzuweisen. Viele andere Forscher auf dem Bereich phylogenetischer Analysen waren hiervon nicht überzeugt.

Phylogenetische Untersuchungen werden auch in Deutschland vor Gericht in Strafprozessen gegen HIV-Positive eingesetzt (wie z.B. im März bei der Verurteilung eines 25jährigen Mannes in Rastatt).

.

Auch in Deutschland werden phylogenetische Untersuchungen eingesetzt, auch mit dem Versuch, nachzuweisen dass Person A die Person B mit HIV infiziert habe. Folgt man dem Artikel in The Lancet, so ist mit diesen phylogenetischen Analysen genau dies jedoch eben nicht zweifelsfrei nachzuweisen – wohl aber unter Umständen, dass eine Infektion durch eine andere Person nicht erfolgte.
Angesichts zunehmender Kriminalisierung HIV-Positiver ein bedeutender Befund. Zumindest könnte der Lancet-Artikel bedeuten, dass die Interpretation der Ergebnisse phylogenetischer Untersuchungen (hinsichtlich eines Nachweises) umstritten ist.
Die Lancet-Autoren kommen zu dem Schluss: Negativ-Beweis möglich, Positiv-Beweis nicht eindeutig möglich. Dieses Ergebnis des Lancet-Artikels könnte weitreichende Konsequenzen für die Rechtsprechung haben.

.

weitere Informationen:
The Lancet Vol. 11 Issue 2: Science in court: the myth of HIV fingerprinting, Abecasis A. et al. (online, nur mit Abo)
The AIDS Beacon 15.02.2011: Experts Express Concerns Over Use Of HIV Fingerprinting To Establish Proof Of HIV Criminal Transmission
Proceedings of the National Academy of Science (PNAS) Oktober 2010: Source identification in two criminal cases using phylogenetic analysis of HIV-1 DNA sequences, Scaduto et al. (abstract)
.