Ein einziges virologisches Untersuchungsverfahren (siehe erster Teil des Artikels) hat in Großbritannien die strafrechtliche Situation für Positive in der Praxis drastisch verändert. Angeklagte bekennen sich in Prozessen, in denen es um die Frage einer bewussten HIV-Infektion einer anderen Person geht, bewusst schuldig, um so zumindest (straf-) mildernde Umstände erreichen zu können.
Aber – ist wirklich alles nur noch „eine Frage der Abstammung“? Reicht es, die ‚Verwandtschaft‘ zweier HI-Viren nachzuweisen, um die Schuldfrage zu beantworten? Kann das Verfahren der phylogenetischen Analyse dazu helfen, oder werden hier Inhalte in seine Ergebnisse hinein interpretiert, die nicht vorhanden sind?
Es lohnt sich also, auch hierzulande darüber nachzudenken, welche Relevanz diese Technik eigentlich für die Beurteilung einer ‚Schuldfrage‘ haben kann.
Bei einer phylogenetischen Analyse kann mit Hilfe eines phylogenetischen Baums dargestellt werden, wie eng verwandt zwei Spezies eines Virus miteinander sind.
Im Gegensatz z.B. zur menschlichen Erbinformation DNA allerdings verändert sich HIV ständig – eine „definitive“ Zuordnung ist nicht möglich.
Zudem finden HIV-Infektionen i.d.R. in so genannten Clustern statt (Gruppen von Menschen), Untersuchungen zeigen, dass die Mehrzahl der HIV-Infizierten Teil solcher ‚Netzwerke‘ sind. Bei allen Mitgliedern eines Cluster oder Netzwerks werden also hochgradig ähnliche HIV-Spezies zu finden sein.
Zeigt eine phylogenetische Analyse, dass zwei HIV-Spezies miteinander (evtl. auch eng) verwandt sind, so zeigt dies zunächst nur, dass beide Personen evtl. dem gleichen Cluster angehören.
Und – selbst bei engster Verwandtschaft zweier HIV-Spezies kann die phylogenetische Analyse nichts aussagen über die Infektions-Richtung, also ob A den/die B infiziert hat, oder umgekehrt. Nicht einmal darüber, welcher von beiden zuerst infiziert wurde / länger infiziert ist.
Damit ist eine phylogenetische Analyse nicht geeignet, einen „sicheren Beweis“ zu schaffen, dass eine Person eine bestimmte zweite Person mit HIV infiziert hat.
Vielmehr könnte die infizierte Person auch (selbst bei nahe verwandten HIV-Spezies) z.B. von einer anderen Person des gleichen Clusters infiziert worden sein. Oder beide Personen, A und B, wurden unabhängig voneinander mit ähnlichen HIV-Stämmen von anderen Personen des gleichen Clusters infiziert.
Ergebnis: eine phylogenetische Analyse, die zunehmend vor Gericht in Strafprozessen Verwendung findet, scheint nicht geeignet, um einen definitiven Beweis zu führen, dass eine Person von einer anderen mit HIV infiziert wurde.
Diese Einschätzung der Bedeutung phylogenetischer Test führte in Großbritannien dazu, dass erstmals im August 2006 ein Strafverfahren wegen HIV-Infektion trotz Verwendung phylogenetischer Tests mit „nicht schuldig“ beendet wurde.
Weiterführende Informationen gibt es in dem (englischsprachigen) Paper „The use of phylogenic analysis as evidence of HIV transmission“, erstellt von NAM und NAT – als html hier, als pdf hier.
Eine erfreuliche Nuance immerhin ist dem phylogenetischen Verfahren abzugewinnen: dass zwei HIV nicht oder nur sehr entfernt miteinander verwandt sind, für diese Aussage ist es einsetzbar – und kann damit durchaus den Negativ-Beweis führen: dass A den/die B nicht infiziert haben kann.
Nachsatz: Teil zwei dieses Artikels stützt sich wesentlich auf den Artikel „hiv forensics“ in der März-Ausgabe von ‚aids treatment update‘