Kurt Hiller verdanken wir folgende Betrachtung in seinem „Eros – Leben gegen die Zeit“:
„Ich bin auf fast keine Hindernisse gestoßen. Das lag möglicherweise in der Hauptsache daran, dass ich ohne Spur von Symbolismus und Metaphorik, Indirektheit und Verschleierungstaktik, Ausweicherei und Zimperlichkeit als Jurist, Logiker und Kritiker das Kind beim Namen genannt habe. Das wurde mir honoriert. Gerade unter den Philistern dachten wahrscheinlich viele: wer so offen und unverschnörkelt spricht, meint die Sache, nicht sich. Solche Deutung meines Stils war natürlich naiv; ich meinte mich und die Sache; es existierte zwischen beiden für mein Denken kein Unterschied. Nur jenes peinlich duftende Egozentrikertum war mir fremd, das, wo das Ich interessiert ist, zu übersehen geruht, dass es ein identisch interessiertes Wir gibt. Je reicher ein Homoerotischer war, desto leichter pflegte er dieser Egozentrik zu verfallen. Ich kannte Anno Weimar und schon vorher einen etwas älteren Juristen vom Kurfürstendamm, der mit jungen Leutnants aus echt goldenen Kaffeetassen schlürfte; er verfehlte, sooft wir uns trafen, nie, mich vor der Aktivität in der Strafrechtssache zu warnen; „Nur keine Propaganda!“ lispelte er; „je mehr wir in der Öffentlichkeit von der Sache reden, desto mehr schaden wir uns!“ Ein eleganter, auch liebenswürdiger Herr, bloß doof. Hätten alle Betroffenen samt den unbetroffenen Gerechtdenkenden gehandelt, wie er verlangte, dann würde der brutale und sinnlose Paragraph noch heute in Schweden und der Schweiz, in Polen und der Techeslowakei, in England, Österreich, Deutschland gelten, genau wie er dort damals galt.“
Carsten Schatz ist der erste offen positive schwule Mann im Berliner Abgeordneten Haus. Das gibt es weder in einem anderen Landesparlament, noch im Bundestag. Erst einmal herzlichen Glückwunsch an ihn, aber auch die Stadt Berlin, selbst wenn es ihm bei den konkreten Wahlergebnissen nicht vergönnt ist, an der Regierung teil zu haben. Da hätte er bei seinen breit gefächerten politischen Interessen und Aktivitäten manchen Diskurs beleben können. Seine Tätigkeit als Abgeordneter soll und wird sicher nicht daran gemessen werden, dass er schwul und positiv ist. Aus den Erfahrungen, die wir mit ihm im Vorstand der DAH gemacht haben, wissen wir, dass er bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und bei allem Pragmatismus im Einzelfall Haltung zeigt und mit dem gesamten Vorstandsteam Veränderungen bewirkt. Das fängt bei dem für Besucher wieder spürbaren guten Betriebsklima in der DAH an, und endet dabei, dass der Verband wieder politisch sichtbar ist. An seinen politischen Fähigkeiten mangelt es nicht, so dass er auch in der Opposition ein Gewinn für die Hauptstadt-Politik sein wird.
Veränderungen geschehen in der persönlichen Begegnung. Und hier wird HIV interessant. Das hat nämlich mehrere Aspekte.
Als Antwort auf das Motto des Welt-Aids-Tages 1991 hat die DAH ein Plakat aufgesetzt: „AIDS hat ein Gesicht: Die Herausforderung sind wir“. Und auch selber waren wir vielfältig herausgefordert. Das war in einer Zeit, in der die Medizin die großen Hoffnungen nicht aufkommen ließ. Seitdem hat sich unglaublich viel verändert. Nur die alten Bilder sind noch in viel zu vielen Köpfen fest verankert. Bei jeder Wiederholung von „Philadelphia“ werden sie reaktiviert. Und auch am 16. November, wenn in der ARD die Dokumentation „Der Aids-Krieg“ von Jobst Knigge gezeigt werden wird, werden viele nicht wahrnehmen, dass die Protagonisten der Dokumentation über die Vergangenheit berichten, aber heute noch putzmunter leben. Die Rückblenden werden bei einem Bericht über vergangene Zeiten unvermeidlich diesen wichtigen Umstand überlagern. Wir brauchen neue Sichtweisen. Deswegen ist es wichtig, im pivaten und im öffentlichen Leben Gesicht zu zeigen. Heute sind nicht mehr wir die Herausforderung, sondern das Demontieren längst nicht mehr zutreffender Bilder. Und da kann die konkrete Begegnung mit einem gutaussehenden, engagierten, arbeitsfähigen Mann Einiges bewirken. Wenn er dann auch noch öffentlich exponiert ist, besteht die Chance, dass sich ein Stück Normalität in der medialen Welt wiederfindet, obwohl das Gewöhnliche eigentlich keine Nachricht wert wäre.
Neben den Bildern, die die Gesellschaft von HIV hat, haben viele HIV-Infizierte Befürchtungen, man könne in unserer Gesellschaft nicht offen positiv leben. Das innere Stigma löst sich schlecht gegen ein äußeres auf. Und natürlich ist es Fakt, dass es einen Bodensatz an Homophobie immer geben wird, an Zuschreibungen, die an Menschen mit HIV erfolgen. Aber Fakt ist ebenso, dass es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, der Diskriminierung nicht zulassen sollte. Ein offenes Leben kann also mit Widrigkeiten durchaus verbunden sein, eröffnet aber auch Freiheiten und gibt die Luft zum Atmen. Manchmal braucht es ein breites Kreuz dafür. Aber mit jedem, der HIV in seiner ganzen medizinischen Banalität sichtbar macht, wird es leichter. Manch einer wird sich gegen das „banal“ verwehren. Rheuma, Diabetes, viele Krankheiten haben größere Einschränkungen und Beschwerlichkeiten im Gepäck. Sichtbar zu machen, dass HIV weder die Arbeitsfähigkeit beschränkt, noch zum sozialen Tod führt, macht denjenigen Mut, die an der Schwelle des Going Public stehen. Deswegen ist es ein wichtiges Politikum, dass wir einen offen positiven Abgeordneten haben, der nicht auf einem Behindertenticket sondern durch politische Arbeit auf seinem Posten gelandet ist.
Als Abgeordneter ist man ja allerlei Begehrlichkeiten ausgesetzt. Und so habe auch ich eine in eigener Sache. Der Berichterstattung über die Piraten habe ich mit Freude entnommen, dass sie sich für die Legalisierung weicher Drogen einsetzen. Wenn dies sicher auch drogenpolitisch eine viel zu kurz gegriffene Forderung ist, so könnte das ja immerhin schon mal ein Anfang sein. Sicher ist das Betäubungsmittelrecht eine Bundesangelegenheit. Aber in vielen Städten ist es bei dem Kampf um Methadon und Originalstoffvergabe in der Vergangenheit zu tragfähigen kommunalen Absprachen über Toleranz an den runden Tischen zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei, Gesundheitsämtern, Drogenhilfe und Politik gekommen. Berlin mag zwar arm sein, aber sexy. Vielleicht kann es ja auch lustvoller Vorreiter in der Aufweichung einer völlig verfehlten Prohibition sein. Es könnte mir meine Berlinbesuche noch weiter verschönern.
Carsten, es ist gut, dass es Dich gibt
.
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Kommentar wurde geschrieben zu einer Zeit als es nahezu sicher schien, das Carsten Schatz ein Mandat als Abgeordneter errungen hat. Inzwischen (21.9.2011) sieht es eher so aus ist es weiterhin unklar, als ob Schatz doch kein Mandat errungen hat (näheres im aktualisierten Artikel „Berlin: offen HIV-positiver Kandidat bei Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011 erfolgreich ?„).
„Wir brauchen neue Sichtweisen“, schriebt Bernd Artez ins einem ‚Kalenderblatt‘. Und begründet, warum. Dies ist nach wie vor aktuell. Ein Grund mehr, dass der Text weiterhin online steht.
Bernd Aretz
@Bernd Aretz
Sichtbar zu machen, dass HIV weder die Arbeitsfähigkeit beschränkt, noch zum sozialen Tod führt, macht denjenigen Mut, die an der Schwelle des Going Public stehen. Deswegen ist es ein wichtiges Politikum, dass wir einen offen positiven Abgeordneten haben, der nicht auf einem Behindertenticket sondern durch politische Arbeit auf seinem Posten gelandet ist.
Ja das Vor-leben ist ein, wenn nicht der beste Weg um Veränderung im Denken herbeizuführen, um vorherrschende alte Bildervon HIV wie eine Seifenblase zum platzen zu bringen .
Kotau Bernd Aretz
Lieber Bernd,
das hast Du – wie immer – sehr schön geschrieben.
Analog zur Schwulenbewegung in den 70ern braucht es Menschen, die sich sichtbar und somit die Begegnung mit dem „Phänomen“ erfahrbar machen.
Jeder hatte schon einmal etwas von Schwulen gehört, meist jedoch keinen gesehen, geschweige denn gekannt. Und nicht anders verhält es sich über 30 Jahre später mit dem HIV.
Nur dort, wo Menschen mit HIV/Aids im Umfeld wirken, wird das Umfeld gezwungen, Stellung zu beziehen, sich Gedanken zum machen und ggf. zu handeln.
Wir Menschen mit HIV/Aids müssen schon entschuldigen, dass wegen uns 60.000 Betroffenen nun nicht 79.940.000 Menschen in die nächste Aids Hilfe rennen, um sich den „Heutigen Wissenstand“ reinzupfeifen (was die meisten von uns noch nicht einmal getan haben), diese Broschüre nicht nur zu verstehen, sondern die Botschaft auch noch im tiefsten Inneren zu empfinden und zu leben.
Nein, das können wir nicht verlangen! Wir können aber dafür sorgen, dass unser Umfeld mit und an uns wächst….