Piraten und die Aidshilfen: 2. Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation

Von Piraten lernen? Haben die Piraten, derzeit erfolgreich in Wahlen und Umfragen, Konzepte und Techniken, die auch Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe zu ihrem Nutzen einsetzen könnte?

Die noch junge Partei der ‚Piraten‘ verzeichnet überraschende Erfolge bei den Berliner Wahlen, und noch überraschender hohe Werte in derzeitigen Umfragen (Sonntagsfrage). Auch wenn die Piraten den Beweis der politischen Alltags-Tauglichkeit als Partei erst noch erbringen müssen, und die derzeitigen Umfragewerte auch medial geschürten Hypes gedankt sein dürften – es lohnt sich zu fragen, für welche Politik stehen die Piraten, gibt es etwaige Gemeinsamkeiten (siehe Teil 1: „gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut“) – und mit welchen Konzepten und Werkzeugen gehen die Piraten dies an? Kann Aidshilfe vielleicht gar lernen von den Piraten?

Neben dem Begriff der Gemeingüter (hinter dem sich bei den Piraten z.B. auch Debatten um Netzneutralität und Urheberrechte befinden) ist ein weiterer Themenkomplex zentral für die Piraten: Partizipation und Transparenz.

Partizipation meint die aktive und effektive Einbeziehung von Personen und Organisationen in Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung; sie ist ein Wesenselement einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Transparenz bedeutet, dass Vorgänge von außen (Außenstehenden) nachvollziehbar sind. Sie ist wesentliche Voraussetzung für freie Willensbildung und echte Partizipation.

Die Piraten haben – mit dem erklärten Ziel, hiermit die Möglichkeiten zu innerparteilicher Partizipation, zu aktiver Einbeziehung weitest möglicher Kreise der Mitglieder und Interessenten zu erhöhen – mit ‚Liquid Feedback‘ seit Mitte 2010 ein Werkzeug, das das Potenzial hat, Formen der politischen Zusammenarbeit grundlegend zu verändern.

‚Liquid Feedback‘ basiert auf ‚Liquid Democracy‘. Liquid Democracy ist eine Theorie und ein Konzept gemeinsamer Entscheidungsfindung, das Elemente der repräsentativen mit Elementen der direkten Demokratie vereint. Im Mittelpunkt derzeitiger Umsetzungsversuche stehen neue elektronische Medien – bisher ’starre‘ demokratische Abläufe sollen ‚verflüssigt‘ werden.
Liquid Feedback ist eine im April 2010 erstmals (als stabile Version) veröffentlichte Software (open source, auch in deutsch), die dies versucht, und zur politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingesetzt werden kann. Angewendet wird Liquid Feedback derzeit von der Piratenpartei Deutschland und ihren Landesverbänden, der Piratenpartei Brasilien sowie den Piratenparteien in Österreich und der Schweiz.

Liquid Feedback ist ein Versuch gelebter innerparteilicher Demokratie, der zudem versucht, die negativen Folgen einer (auch bei den Piraten zukünftig vermutlich zunehmenden) hierarchischen Struktur der Partei zumindest zu mindern – zugunsten transparenter Abläufe und Entscheidungsfindungen, und einer möglichst breiten aktiven Einbeziehung der Mitglieder.

Neben Liquid Feedback nutzen die Piraten zahlreiche weitere Werkzeuge von Live-Feeds und -Streams über diverse Wikis bis Twitter und diverse sozialen Netzwerke. Selbst die ersten Fraktionssitzungen der frisch gewählten Berliner Piraten konnten live per Stream verfolgt werden, über alle Sitzungen wird via Feed und Blog berichtet.
Manche dieser Werkzeuge (z.B. Twitter, soziale Netzwerke) werden auch von anderen Parteien genutzt, von keiner jedoch wohl so offensiv wie von den Piraten. ‚Liquid Feedback‘ ist ein (mächtiges) Werkzeug, das bisher einzig die Piraten anwenden.

Und Liquid Feedback stellt mehr dar als ’nur‘ ein technisches Werkzeug (oder, wie vereinzelt in Medien bezeichnet ‚Spielzeug‘): Liquid Democracy ist ein Konzept, das ein neues, oder doch zumindest grundlegend verändertes Konzept politischen Arbeitens ausdrückt, das die parlamentarische Demokratie um Elemente direkter Demokratie ergänzt und gleichzeitig wesentlich mehr Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungsfindungen ermöglichen (und so vielleicht auch zu einer stärkeren Identifizierung beitragen) kann.

Mit diesen Elementen wird Liquid Democracy (wie auch seine Anwendung in Kombination mit weiteren Netzwelt-Werkzeugen) auch zu einem Thema, das potentiell für Aidshilfen sowie für Positiven-Selbsthilfe interessant sein könnte.

Selbst bestimmen, mit entscheiden – dies waren und sind Kern-Anliegen HIV-positiver Selbsthilfe, auch im Interesse einer Vermeidung von Banalisierung und Marginalisierung. Interessen einer Positiven-Selbsthilfe jedoch, die sich selbst mitten in der Partizipationsfalle befindet (Partizipationsfalle: Interessierte und Engagierte werden in vorbereitende Diskussionen mit eingebunden, teils mit viel Zeit- und persönlichem Aufwand, können ihre Meinung darlegen und ggf. mit Fakten untermauern – ihr realer Einfluss auf politische Entscheidungen jedoch ist mehr als begrenzt) [siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2010 „Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver„].

An Werkzeugen und Wegen einer lebendigen Partizipation und – als eine ihrer Voraussetzungen – gelebter Transparenz sollten also sowohl Aidshilfen als auch Positiven-Selbsthilfe großes Interesse haben.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten wären denkbar, für Liquid Democracy, aber auch im Vorfeld für einfachere Techniken zwischen Stream und Webcast.
Einige erste Ideen:

  • Aidshilfe könnte wichtige öffentliche oder Verbands-öffentliche Debatten, wie z.-B. auf Mitgliederversammlungen, bei Vorstandswahlen oder anlässlich großer Events wie „25 Jahre Aidshilfe“, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video) übertragen – und so nicht nur die Reichweite wesentlich erhöhen, sondern auch einem deutlich größeren Kreis an Interessierten eine (virtuelle) Teilnahme ermöglichen.
  • Entsprechend: warum werden nicht bedeutende Positiven-Veranstaltungen – z.B. Podiums-Diskussionen der ‚Positiven Begegnungen‘ oder auf Bundesweiten Positiventreffen – auch im Internet übertragen, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video)? Womöglich mit Option der interaktiven Beteiligung via Rückkanal?
    Die Technik hierfür ist längst verfügbar, und auch zu akzeptablen Bedingungen. Die Reichweite von Veranstaltungen könnte so wesentlich vergrößert werden. Vor allem aber: einer wesentlich größeren Zahl an Positiven als nur der i.d.R. sehr begrenzte Zahl der Teilnehmer vor Ort könnte eine Teilnahme ermöglicht werden. (Vorgeschlagen wurde dies bereits zu den Positiven Begegnungen 2010, ein Versuch einer Umsetzung steht weiterhin aus.)
  • Immer wieder wird beklagt, Positive hätten zu wenig Möglichkeiten, ihre Haltung zu wichtigen Fragen gemeinsam und in Breite zu diskutieren, zu formulieren, auszudrücken. ‚Liquid Democracy‘ bzw. ‚Liquid Feedback‘ könnten ein Experiment wert sein, diese oder andere Werkzeuge für die Debatten und Positions-Findungen unter Positiven nutzbar zu machen.
  • Liquid Democracy könnte sich auch geeignet erweisen für die weitere Belebung und Intensivierung von innerverbandlichem Dialog und Debatte der Aidshilfen. Die DAH hat hier in letzter Zeit mit Intra- und Extranet, mit Verbands-Newslettern und Vorstands-Informationen bereits wesentliche Schritte getan. Sind weitere Schritte möglich? Und geeignet, z.B. für die Klärung von Positionen und Haltungen auf breiterer Basis?
  • Können Werkzeuge wie Liquid Democracy zudem auch innerhalb des Verbandes Aidshilfe zu mehr Transparenz, innerverbandlicher Demokratie und vor allem Partizipation beitragen? Und – vielleicht nicht nur innerverbandlich, sondern auch ’nach außen‘? Auch interessierten Kreisen außerhalb des engen Kreises der Mitglieder eine Partizipation, eine aktivere Mitarbeit ermöglichen?

Der derzeitige Erfolg der Piraten, ihre Ideen und Konzepte könnten zum Anlass genommen werden, auch in Aidshilfe und Positiven-Selbsthilfe neu über Formen der Zusammen- und Mitarbeit nachzudenken. Anstoß sein zu mehr Experimentieren – mit dem Ziel, einer größeren Anzahl an Menschen leichter eine stärkere Einbeziehung und Mitarbeit zu ermöglichen, und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen. Der Debatte könnte beides gut tun – auch dadurch, dass die Vielfalt der in Debatten einbezogenen Meinungen, Argumentationen und Haltungen größer und breiter würde, besser dokumentiert, besser abgebildet und nachvollziehbar. Für mehr Demokratie, mehr Partizipation, mehr Transparenz – auch in Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe.

7 Gedanken zu „Piraten und die Aidshilfen: 2. Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation“

  1. Zunächst möchte ich Dir für die Information über Liquid Feedback danken und ich möchte Dir mitteilen, dass ich immer ganz froh bin, wenn wenigstens einer versteht, um was es geht. Ehrlich gesagt hat es sich mir nicht erschlossen. Aber das ist ja auch egal.
    Es geht wohl um neue Instrumente der Beteiligung und hier schäumt meine Begeisterung quasi über!

    Beteiligung an der Aids-Arbeit kommt ungefähr genauso gut an, als wenn man in einer mittelmäßigen Travestieshow zu „I am, what i am“ auf die Bühne gezerrt wird. Als wenn hunderte von Menschen darauf warten würden, sich nun endlich beteiligen zu können.
    In der Realität der Aids-Arbeit habe ich jedoch eher das Gefühl, dass die Menschen viel lieber 50 Euro spenden, als sich zu beteiligen. Wir sind mittlerweile in ungezählten Netzwerken präsent und der Höhepunkt der Beteiligung gipfelt im Klick auf den „Gefällt mir“ Button.
    Livestreams von Kongressen, Delegiertentreffen und Vorstandssitzungen? Das Interesse daran dürfte ungefähr so groß sein, wie die Beteiligung an den genannten Gremien selbst (außer Kongressen, denn da gibt es außer gutem Essen potentiell auch eine Zugabe für´s teure Hotelbett).

    Beteiligung die eh nicht erwünscht ist, wird sich mit dem zigsten innovativen Instrument auch nicht herbeischaffen lassen.
    Gemeinsames Merkmal an den neuen Instrumenten ist allerdings: Haben muss man sie, sonst ist man out, denn zusehends mächtig gestörte Geister lesen vor jedem realen Anruf zuerst lieber tausend homepages in der Hoffnung, dass sie nicht mit realen Menschen kommunizieren müssen.

    ich bin der altmodischen Meinung, dass die beste Beteiligung immer noch darin besteht, sich körperlich von Ort zu Ort zu bewegen, real existierenden Menschen in die Augen zu schauen und miteinander zu agieren.
    Feedback gebe ich, wo gewünscht oder aus meiner Sicht erforderlich, gerne z.B. hier oder woanders per Brief oder Mail. Ob das nun liquid ist, mögen andere beurteilen.

  2. @ Thomas:

    ja – vor ort präsent zu sein ist sicherlich eine gutev form der beteiligung. allein, nicht alle meinungsbildungs-prozesse funktionieren (ausschließlich) auf einem zentralen treffen, oft laufen sie nur oder vorgeschaltet mit langen diskussions- und findungs-phasen (ob nun parteiprogramme oder leitbilder)

    zudem – nicht allen menschen ist es immer möglich, vor ort präsent zu sien, aus einer vielzahl möglicher gründe (zB eingeschränkte körperliche gesundheit, behinderung etc etc)

    bei zahlreichern positiventreffen habe ich zudem die viorstellung gehabt, dass es gut wäre, mit interessierten eine begonnene diskussion (vielleicht auch resoliution) weiter zu entwickeln

    für diese konstellationen bietet mE liquid feedback spannende ansätze, eine breitere und lebhaftere debatte (zudem elcihter als andere techniken) zu ermöglichen

    zudem zielt mein kommentar ja nicht nur auf liquid feedback, sondern wirft generell die frage auf, ob wir nicht an diversen stellen mehr internetbasierte methoden ausprobieren sollten, zB veranstaltungen über streams größeren teilneher/innen-kreisen zugänglich zu machen

    lg

  3. @ Uli,

    die Entwicklung von Positionen kann m.M. nach z.B. gut hier vorangetrieben werden.
    Solche Plattformen sind recht lebendig und es gibt Rede, Gegenrede, Zwischenrufe und man erhält einen guten Überblick über die Strömungen.

    Ich glaube kaum, dass sich jemand eine Veranstaltung über einen Stream reinzieht. Vielleicht, dass man mal einen brillanten Vortrag von 8 Minuten Dauer ins Netz stellt (bei der Tube), aber Live Übertragung einer Gruppendiskussion aus dem Waldschlößchen???
    Da würde ich lieber Fußpilz beim Wachsen zusehen…..

    Ich bin da etwas resigniert, was die Beteiligung angeht und wenn man noch so tolle Medien anwirft. Mein Eindruck ist, dass die meisten Menschen sehr viel Energie daran setzen, bitte NICHT beteiligt zu sein und diejenigen, die beteiligt sein wollen, finden Wege, wie z.B. hier mitzureden oder auf facebook etc.

    Für offene Arbeitsgruppen, die Weiterentwicklung von Inhalten usw. finde ich das Internet ideal, denn dann muss ich nicht immer nach Berlin fahren, um meinen Senf dazuzugeben. Das schont meine Nerven und die Umwelt und spart Kosten….

  4. mehrfach ist mir der begriff ‘Liquid Democracy’ jetzt schon unter die augen gekommen. aha, und worum bitteschön geht es da überhaupt? ich hab null ahnung. also googelte ich mal und stelle deinen link hier ein der erklärt worums geht. http://kontextschmiede.de/was-ist-eigentlich-liquid-democracy/

    wir sollten vermeiden auch was diese plattform betrifft zu fachidioten zu werden. besonders die hier schreibenden autoren und du lieber ulli die sehr engagiert im hiv relevanten tagesgeschäft sind das mehr als ja nur hiv relevanten theman aufgreift sollten es tunlichst vermeiden mit begriffen um uns zu werfen die für uns/dich normal sind, aber diejenigen um die es letztendlich geht bzw diejengen die es erreichen soll, nämlich den einzelnen im dunkeln stehen läßt.

    lg alivenkickn

  5. @thomas

    Für offene Arbeitsgruppen, die Weiterentwicklung von Inhalten usw. finde ich das Internet ideal, denn dann muss ich nicht immer nach Berlin fahren, um meinen Senf dazuzugeben. Das schont meine Nerven und die Umwelt und spart Kosten….

    so gerne ich nach berlin u.a. wegen der cörrywurscht und ner spätrömischen dekandenten freßeinlage im KADEWE fahre, die möglichkeit zur teilnahme an solchen arbeitsrgruppen von „zu hause aus“ würde ich sehr begrüßen. zumindest solange wie in meinem fall keine besserung meiner mobilität stattgefunden hat.

Kommentare sind geschlossen.