Mit Pluto und Neptun gegen Aids? Die seltsamen Gedanken der Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner ‚Piraten‘ (akt. 6)

Die Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner ‚Piraten‘ mag Esoterik  – und gar die umstrittenen ‚Germanischen Neuen Medizin‘? -Zudem äußert sie sehr seltsame Ansichten zu Aids.

Die Politologin und Heilpraktikerin Daniela Scherler ist Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner ‚Piraten‘. Die 39-Jährige sorgt mit seltsamen Ansichten über Krankheit und Tod für Aufsehen – und Unruhe in der Partei. Zahlreiche Formulierungen lassen den Eindruck entstehen, sie weise (wie der Esoteriker und Befürworter der ‚Neuen Germanischen Medizin‘ Rüdiger Dahlke (‚Krankheit als Weg‘), auf den sie sich beruft) Kranken eine Mitschuld an ihrer Erkrankung zu.

‚Spiegel online‘ zitiert ihre Haltung zu Aids:

„Bei der Krankheit Aids steht die Bereitschaft zur Hingabe an das ganze Leben, einschließlich seiner dunklen Seiten, im Vordergrund. Zu integrierende Lernaufgaben sind meist die Fähigkeit, sich auf einen Menschen wirklich einzulassen, oder Verbindlichkeit mit all ihren Konsequenzen in Beziehungen zu leben. Gefordert ist die Integration der Urprinzipien Pluto und Neptun.“

Soll heißen? Sind HIV-Infizierte oder Aids-Kranke also „selbst schuld“?
Und wenn die ‚Schulmedizin‘ (wie Scherler zu meinen scheint) verhindere, dass wir uns unseren „Lernthemen“ stellen – was soll das heißen für antiretrovirale Medikamente?

Der Astronom und Journalist Florian Freistätter kritisiert die ‚elitäre Weltsicht‘ und weist auf Konsequenzen hin:

„Dieses Elite-Denken findet man in der Esoterik-Szene recht oft. Wer Probleme hat, ist selbst schuld. Wer krank ist, ist selbst schuld. Wer auf die „richtige“ Art und Weise denkt, wer dem „richtigen“ Guru folgt, wer der „richtigen“ Gemeinschaft angehört, der hat keine Probleme mehr im Leben. Und die anderen müssen selbst schauen wo sie bleiben. Wenn sie keine Lust haben, „richtig“ zu denken, dann brauchen sie sich auch nicht wundern, wenn es ihnen schlecht geht.“

Er zitiert Jörg Ewers, der in einem Kommentar im sozialen Netzwerk Google + betont

„Es geht darum, das sie explizit gefährlichen Schwachsinn verbreitet. Das fängt damit an Grippe als aufgestaute innere Anspannungen darzustellen, weil man irgendwem nichts husten kann.Geht aber auch relativ nahtlos weiter, das z.B Krebs Ausdruck von aufgestautem geistig-seelischem Wachstum sei oder AIDS Ausdruck eines Lernstaus sei, weil Menschen nicht in der Lage seien sich wirklich einzulassen und Verbindlichkeiten mit all ihren Konsequenzen zu leben.
Das ist mit Verlaub großer Bullshit, den sie laut ihrer Homepage in Seminaren und Gesprächen vornehmlich an Schüler, Jugendliche und Auszubildende weiterverbreitet.
Und da kommen die Piraten ins Spiel, wo immer wieder implizit mitschwingt, es ginge nicht nur um die Form, sondern auch um moralische Integrität.Wie moralisch integer ist es solche Menschen zu beschäftigen?“

Und Richard Joos kommentiert Scherlers Buch und ihre Reaktionen

„Nebenbei argumentiert sie wie die klassische Virenleugnerin und quatscht über AIDS in ihrem Buch, in dem wiederum die Begriffe “Viren”, “Ansteckung” oder “Infektion” nicht einmal vorkommen. Sie wendet sich damit an Jugendliche! (…)
Nun ist der Scherler die Geschichte offenbar selber peinlich, denn die “Links” unter anderem zum lobenswerten Dahlke, die sie auf ihrer HP bereithielt, sind inzwischen verschwunden. Aus ihren Buchpublikationen kriegt sie den Dahlke aber nicht raus, der ist prominente Literaturangabe (Seite ist nicht bei Google verfügbar, stattdessen im hier gelinkten Amazon Preview, S. 241 schauen.)“[Links siehe Original-Artikel, unten bei ‚weitere Informationen‘]

Die Piraten reagieren bisher gelassen. Sie sehen „keinen Interessenkonflikt“ und werden „keine personellen Konsequenzen“ ziehen. Sie betonen zu den Aussagen und Haltungen ihrer Geschäftsführerin in Reaktionen auf Kommentare immer wieder „Sie hat kein politisches Amt“. In der Stellungnahme heißt es

„Daniela Scherler ist als FGF [Fraktionsgeschäftsführerin; d.Hg.] der Piratenfraktion angestellt und solange ihre persönlichen Ansichten ihre Arbeit für die Fraktion nicht behindern, spielen diese für uns auch keine Rolle.“

Martin Delius, Piraten- Abgeordneter und parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, kommentiert (16.12., 16:50) „wenn Daniela sich dabei an die Beschlüsse und Implikationen des Parteiprogrammes halten kann“ wäre „auch die Einstellung als wissenschaftliche Referentin … möglich“. Und er (16:48) ergänzt „Es ist nicht die Aufgabe der Piratenfraktion moralische Bewertungen über Menschen, Ansichten oder nebenberufliche Tätigkeiten anderer anzustellen.“

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Aktualisierung
16.12.2011, 18:40
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Die Haltung der ‚Piraten‘ sei nicht unproblematisch, betont ein Kommentator („medman“, 18:22 Uhr) und weist auf mögliche konkrete Probleme in Berlin und der lokalen Aids-Politik hin:

„Wie steht denn die Fraktion zur HIV Aufklärung und Prävention? Kann man sich darauf verlassen, dass eine solche FGF alle notwendigen Informationen für Entscheidungen in diesem Bereich weiterreicht – gerade in Berlin eine nicht unwichtige Frage.“

17.12., 10:30: EsoWatch weist auch vor dem Hintergrund der Argumentation des ‚Piraten‘ Abgeordneten und parlamentairschen Geschäftsführers Martin Delius (s.o.)  auf einen Hinter-Grund für die Debatten hin:

„Blöd an der Sache ist, dass die Piraten bis heute kein offizielles Programm zu Medizin und Gesundheitswesen verabschiedet haben. Sie sollten diesen Fall als dringenden Ansporn nehmen, damit potentielle Wähler bei diesem wichtigen Thema wissen, woran sie sind. Eine entsprechende Formulierung wie das Bekenntnis zu einer wissenschaftsbasierten Medizin dürfte nicht allzu schwer zu formulieren sein.“

18.12., 15:00: Kritiker verweisen auf die Einlassung, Scherler bekleide „kein politisches Amt“, auf die Stellenausschreibung zur Fraktionsgeschäftsführung vom 10.10.2011. Dort wird unter ‚Aufgaben‘ unter anderem genannt: „Beratung der Fraktion in politisch- strategischen und betriebswirtschaftlichen Fragestellungen“.

18.12., 17:45: Der Berliner ‚Tagesspiegel‘ kommentiert das bisherige Verhalten der Partei unter dem Titel „Wertepluralismus falsch verstanden“ mit den Worten „die Parteispitze verweigert sich jeder Kritik“. Und ergänzt „Dem emphatischen Demokratieverständnis der Piraten stünde hier eine Einsicht gut an: dass der bei den Piraten geächtete Totalitarismus nicht erst dort beginnt, wo Menschen an einer demokratischen Wahl nicht teilnehmen dürfen. Sondern dort, wo – und sei es mit dem besten Willen – ein unmenschlicher Druck auf menschliche Seelen aufgebaut wird. “

18.12., 19:20: Johannes Sponader (s.u.) betont, es sei nun wichtig, dass Scherler erklärt, wie sie sich „zu Hamer und seiner fragwürdigen Ideologie verhält“. Insgesamt bemerkt er, „eine abschließende Bewertung sollte allerdings frühestens dann versucht werden, wenn sich Daniela Scherler zu der Kritik selbst geäußert hat.“

19.12., 09:30: Die Fraktionsgeschäftsführerin reagierte inzwischen mit eimem ‚Offenen Brief‘ (a.u.). Darin betont sie u.a. „Ich war nie und bin auch heute keine Anhängerin der Neuen Germanischen Medizin.“ Im Kontext Lebensführung und Kranklheit verwende sie „nicht den Begriff Schuld, sondern Verantwortung“ und wolle damit deutlich machen, daß „jeder von uns für sein Leben in hohem Maß Eigenverantwortung trägt“. Welchen Zusammenhang Aids und HIV hierzu haben, erläutert sie nicht. Sie werde ihre „Arbeit als Fraktionsgeschäftsführerin der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus engagiert fort[setzen]“.

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weitere Informationen:
Piratenfraktion Berlin 16.12.2011: Fragen zur Fraktionsgeschäftsführerin
EsoWatch: Daniela Scherler
SpON 16.12.2011: Berlin – Leitende Piraten-Mitarbeiterin irritiert mit Esoterik-Thesen
scienceblogs 15.12.2011: Die Berliner Piraten und die Esoterik
Marc Scheloske 15.12.2011: Kein Spaß – Die seltsame Esoterik-Welt der Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner Piraten
Richard Joos: Warum Daniela Scherler als FraktionsGF durchaus eine Piratenpersonalie ist
Tagesspiegel 16.12.2011: Krude Esoterik – Die Piraten haben den Wertepluralismus falsch verstanden
Johannes Sponader 17.12.2011: Zur Versachlichung der Diskussion um Daniela Scherler und die „Esoterik“
Piratenfraktion Berlin 19.12.2011: Offener Brief der Fraktionsgeschäftsführerin
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Piraten und die Aidshilfen: 2. Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation

Von Piraten lernen? Haben die Piraten, derzeit erfolgreich in Wahlen und Umfragen, Konzepte und Techniken, die auch Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe zu ihrem Nutzen einsetzen könnte?

Die noch junge Partei der ‚Piraten‘ verzeichnet überraschende Erfolge bei den Berliner Wahlen, und noch überraschender hohe Werte in derzeitigen Umfragen (Sonntagsfrage). Auch wenn die Piraten den Beweis der politischen Alltags-Tauglichkeit als Partei erst noch erbringen müssen, und die derzeitigen Umfragewerte auch medial geschürten Hypes gedankt sein dürften – es lohnt sich zu fragen, für welche Politik stehen die Piraten, gibt es etwaige Gemeinsamkeiten (siehe Teil 1: „gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut“) – und mit welchen Konzepten und Werkzeugen gehen die Piraten dies an? Kann Aidshilfe vielleicht gar lernen von den Piraten?

Neben dem Begriff der Gemeingüter (hinter dem sich bei den Piraten z.B. auch Debatten um Netzneutralität und Urheberrechte befinden) ist ein weiterer Themenkomplex zentral für die Piraten: Partizipation und Transparenz.

Partizipation meint die aktive und effektive Einbeziehung von Personen und Organisationen in Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung; sie ist ein Wesenselement einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Transparenz bedeutet, dass Vorgänge von außen (Außenstehenden) nachvollziehbar sind. Sie ist wesentliche Voraussetzung für freie Willensbildung und echte Partizipation.

Die Piraten haben – mit dem erklärten Ziel, hiermit die Möglichkeiten zu innerparteilicher Partizipation, zu aktiver Einbeziehung weitest möglicher Kreise der Mitglieder und Interessenten zu erhöhen – mit ‚Liquid Feedback‘ seit Mitte 2010 ein Werkzeug, das das Potenzial hat, Formen der politischen Zusammenarbeit grundlegend zu verändern.

‚Liquid Feedback‘ basiert auf ‚Liquid Democracy‘. Liquid Democracy ist eine Theorie und ein Konzept gemeinsamer Entscheidungsfindung, das Elemente der repräsentativen mit Elementen der direkten Demokratie vereint. Im Mittelpunkt derzeitiger Umsetzungsversuche stehen neue elektronische Medien – bisher ’starre‘ demokratische Abläufe sollen ‚verflüssigt‘ werden.
Liquid Feedback ist eine im April 2010 erstmals (als stabile Version) veröffentlichte Software (open source, auch in deutsch), die dies versucht, und zur politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingesetzt werden kann. Angewendet wird Liquid Feedback derzeit von der Piratenpartei Deutschland und ihren Landesverbänden, der Piratenpartei Brasilien sowie den Piratenparteien in Österreich und der Schweiz.

Liquid Feedback ist ein Versuch gelebter innerparteilicher Demokratie, der zudem versucht, die negativen Folgen einer (auch bei den Piraten zukünftig vermutlich zunehmenden) hierarchischen Struktur der Partei zumindest zu mindern – zugunsten transparenter Abläufe und Entscheidungsfindungen, und einer möglichst breiten aktiven Einbeziehung der Mitglieder.

Neben Liquid Feedback nutzen die Piraten zahlreiche weitere Werkzeuge von Live-Feeds und -Streams über diverse Wikis bis Twitter und diverse sozialen Netzwerke. Selbst die ersten Fraktionssitzungen der frisch gewählten Berliner Piraten konnten live per Stream verfolgt werden, über alle Sitzungen wird via Feed und Blog berichtet.
Manche dieser Werkzeuge (z.B. Twitter, soziale Netzwerke) werden auch von anderen Parteien genutzt, von keiner jedoch wohl so offensiv wie von den Piraten. ‚Liquid Feedback‘ ist ein (mächtiges) Werkzeug, das bisher einzig die Piraten anwenden.

Und Liquid Feedback stellt mehr dar als ’nur‘ ein technisches Werkzeug (oder, wie vereinzelt in Medien bezeichnet ‚Spielzeug‘): Liquid Democracy ist ein Konzept, das ein neues, oder doch zumindest grundlegend verändertes Konzept politischen Arbeitens ausdrückt, das die parlamentarische Demokratie um Elemente direkter Demokratie ergänzt und gleichzeitig wesentlich mehr Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungsfindungen ermöglichen (und so vielleicht auch zu einer stärkeren Identifizierung beitragen) kann.

Mit diesen Elementen wird Liquid Democracy (wie auch seine Anwendung in Kombination mit weiteren Netzwelt-Werkzeugen) auch zu einem Thema, das potentiell für Aidshilfen sowie für Positiven-Selbsthilfe interessant sein könnte.

Selbst bestimmen, mit entscheiden – dies waren und sind Kern-Anliegen HIV-positiver Selbsthilfe, auch im Interesse einer Vermeidung von Banalisierung und Marginalisierung. Interessen einer Positiven-Selbsthilfe jedoch, die sich selbst mitten in der Partizipationsfalle befindet (Partizipationsfalle: Interessierte und Engagierte werden in vorbereitende Diskussionen mit eingebunden, teils mit viel Zeit- und persönlichem Aufwand, können ihre Meinung darlegen und ggf. mit Fakten untermauern – ihr realer Einfluss auf politische Entscheidungen jedoch ist mehr als begrenzt) [siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2010 „Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver„].

An Werkzeugen und Wegen einer lebendigen Partizipation und – als eine ihrer Voraussetzungen – gelebter Transparenz sollten also sowohl Aidshilfen als auch Positiven-Selbsthilfe großes Interesse haben.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten wären denkbar, für Liquid Democracy, aber auch im Vorfeld für einfachere Techniken zwischen Stream und Webcast.
Einige erste Ideen:

  • Aidshilfe könnte wichtige öffentliche oder Verbands-öffentliche Debatten, wie z.-B. auf Mitgliederversammlungen, bei Vorstandswahlen oder anlässlich großer Events wie „25 Jahre Aidshilfe“, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video) übertragen – und so nicht nur die Reichweite wesentlich erhöhen, sondern auch einem deutlich größeren Kreis an Interessierten eine (virtuelle) Teilnahme ermöglichen.
  • Entsprechend: warum werden nicht bedeutende Positiven-Veranstaltungen – z.B. Podiums-Diskussionen der ‚Positiven Begegnungen‘ oder auf Bundesweiten Positiventreffen – auch im Internet übertragen, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video)? Womöglich mit Option der interaktiven Beteiligung via Rückkanal?
    Die Technik hierfür ist längst verfügbar, und auch zu akzeptablen Bedingungen. Die Reichweite von Veranstaltungen könnte so wesentlich vergrößert werden. Vor allem aber: einer wesentlich größeren Zahl an Positiven als nur der i.d.R. sehr begrenzte Zahl der Teilnehmer vor Ort könnte eine Teilnahme ermöglicht werden. (Vorgeschlagen wurde dies bereits zu den Positiven Begegnungen 2010, ein Versuch einer Umsetzung steht weiterhin aus.)
  • Immer wieder wird beklagt, Positive hätten zu wenig Möglichkeiten, ihre Haltung zu wichtigen Fragen gemeinsam und in Breite zu diskutieren, zu formulieren, auszudrücken. ‚Liquid Democracy‘ bzw. ‚Liquid Feedback‘ könnten ein Experiment wert sein, diese oder andere Werkzeuge für die Debatten und Positions-Findungen unter Positiven nutzbar zu machen.
  • Liquid Democracy könnte sich auch geeignet erweisen für die weitere Belebung und Intensivierung von innerverbandlichem Dialog und Debatte der Aidshilfen. Die DAH hat hier in letzter Zeit mit Intra- und Extranet, mit Verbands-Newslettern und Vorstands-Informationen bereits wesentliche Schritte getan. Sind weitere Schritte möglich? Und geeignet, z.B. für die Klärung von Positionen und Haltungen auf breiterer Basis?
  • Können Werkzeuge wie Liquid Democracy zudem auch innerhalb des Verbandes Aidshilfe zu mehr Transparenz, innerverbandlicher Demokratie und vor allem Partizipation beitragen? Und – vielleicht nicht nur innerverbandlich, sondern auch ’nach außen‘? Auch interessierten Kreisen außerhalb des engen Kreises der Mitglieder eine Partizipation, eine aktivere Mitarbeit ermöglichen?

Der derzeitige Erfolg der Piraten, ihre Ideen und Konzepte könnten zum Anlass genommen werden, auch in Aidshilfe und Positiven-Selbsthilfe neu über Formen der Zusammen- und Mitarbeit nachzudenken. Anstoß sein zu mehr Experimentieren – mit dem Ziel, einer größeren Anzahl an Menschen leichter eine stärkere Einbeziehung und Mitarbeit zu ermöglichen, und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen. Der Debatte könnte beides gut tun – auch dadurch, dass die Vielfalt der in Debatten einbezogenen Meinungen, Argumentationen und Haltungen größer und breiter würde, besser dokumentiert, besser abgebildet und nachvollziehbar. Für mehr Demokratie, mehr Partizipation, mehr Transparenz – auch in Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe.

Piraten und die Aidshilfen: 1. gemeinsame Sache ? – Allmende und Gemeingut

Fast neun Prozent der Wähler/innnen-Stimmen, 15 Sitze im Abgeordnetenhaus – der Erfolg der ‚Piraten‘ bei der Berliner Wahl 2011 hat viele (wenn auch nicht alle) Parteien, Journalisten, politischen Beobachter überrascht. Von konsternierten Blicken über Irritation bis Häme, die Reaktionen bleiben bisher oftmals an der Oberfläche. Parteien registrieren bisher kaum die Gefahr des Verlusts ihrer Kern-Themen (wie Bürgerrechte), das Aufkommen neuen Bewusstseins oder neuer Methoden politischer Arbeit, wundern sich höchstens über Aktivierung bisheriger Nicht-Wähler. Tiefergehende Analysen und Betrachtungen zu dem, was hinter dem Erfolg der Piraten stehen könnte, sind hingegen im politischen Raum noch eher selten. („Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen“, bemerkt treffend Michael Seemann auf ctrl-verlust).

Die Piraten (einzig) als mono-thematische Nerd-Partei oder als „one hit wonder“ abzutun könnte sich schon bald als kurzsichtig erweisen, hieße ihr Potential, die mögliche Bedeutung ihrer Ideen und Projekte zu verkennen (und zwar unabhängig davon, wie sich ihr konkretes politisches Schicksal erweist) – und Chancen zu vertun.

Aber – was hat der derzeitige Erfolg der Piraten mit Aidshilfe zu tun?
Vielleicht mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich scheint.

Denn – Chancen durch die Piraten könnten sich m.E. auch für Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe ergeben.
Gibt es Gemeinsamkeiten in Ideen und Zielen zwischen Aids-Bewegung(en) und den Piraten?
Können Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe vielleicht auch von den Piraten lernen?

Ein Kommentar in zwei Teilen – heute Teil 1: „gemeinsame Sache ? Allmende und Gemeingut“, Teil 2 „Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation“ folgt in den kommenden Tagen am Montag, 10.10.2011.

Piraten und die Aidshilfen

1. gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut

Die Piraten sind eine vergleichsweise junge Bewegung und Partei (und doch derzeit die Mitglieder-stärkste der nicht im Bundestag vertretenen Parteien). Entstanden 2006 aus einer Anti-Copyright-Bewegung (daher stammt auch ursprünglich der Name der Partei), werden sie heute immer noch überwiegend als „Internet- und Nerd-Partei“ wahrgenommen (Nerd = ‚internet-Freak‘). Tatsächlich jedoch haben sie inzwischen ihr Parteiprogramm auf beträchtlich breitere Füße gestellt (wenn auch ihre Haltungen und Forderungen z.B. in Bereichen wie Gesundheit oder Soziales immer noch nur in Ansätzen zu erkennen sind).

Dies sollte jedoch nicht daran hindern, nach potentiellen Gemeinsamkeiten zu spüren. Denn – diese zeichnen sich durchaus ab, und zwar in Kern-Feldern. Aus einem einfachen Grund: ein, wenn nicht das Kern-Element der politischen Identität der Piraten ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was soll der Allgemeinheit gehören, was soll privat(wirtschaftlich) organisiert, gar geschützt sein. Grund-Thema der Politik der Piraten ist die Auseinandersetzung mit Allmende (Gemeinschafts- oder Genossenschafts-Besitz), mit Commons, mit Gemeingütern.

Dies aber ist ein Thema, das Aidshilfe nicht unbekannt sein dürfte. Debatten, die Aidshilfen führen, gehen oft um Begriffe wie ‚Daseinsfürsorge‘, ‚Gemeinwohl‘, um Solidargemeinschaft oder Individualisierung von ‚Risiken‘ und ‚Vorsorge‘. Auch hinter diesen Begriffen steckt u.a. die Frage, was ist Gemeingut, was darf / soll privatisiert werden, was kann wie optimal im Sinne der Interessen und Bedürfnisse der Gemeinschaft gestaltet werden?

Gemeingüter – ein Thema, dessen Bedeutung gerade in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre steigen dürfte. Ein Thema, das weit mehr betrifft als Internet und Urheberrechte: Ist Wasser ein Gemeingut? Eines, das von der Allgemeinheit zu ihrem besten Nutzen und niedrigsten Kosten organisiert werden soll? Oder soll die Wasser-Versorgung privaten Gewinninteressen überlassen werden? Ist Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten, ein Gemeingut? Sollen lebensnotwendige Medikamente jedem Menschen zur Verfügung stehen? Oder sollen Patentrechte auf Wirksubstanzen sowie Profite privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie wichtiger sein als menschliches Leben und breite Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente?

Michael Seemann kommentiert auf ctrl-verlust: „Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten“. Und die Frage liegt nahe – warum nur Infrastrukturen, warum nicht auch Gesundheit, kulturelle teilhabe etc.?

Gemeinwohl, Gemeingüter – ein Themenkomplex, der derzeit bei den Piraten vielleicht noch sehr auf Internet, Urheberrechte und digitale Welten fokussiert wird. Aidshilfe hingegen kennt den Gedanken aus Fragen wie dem Gesundheitsbegriff, der Struktur und Aufgabe des Sozialstaats oder der Verfügbarkeit von Medikamenten.

Beiden gemeinsam aber ist die grundsätzliche Frage: was ist im Interesse der Allgemeinheit? Was sollte von, für und durch die Gemeinschaft gestaltet und geregelt werden?

Gemeingüter – das ist die Frage, was soll der Allgemeinheit dienen, zu welchen Bedingungen, und von wem gestaltet?
Gemeingüter – das ist die Frage, wollen wir wesentliche Grundlagen unserer zukünftigen Lebensgestaltung (ob das Internet oder z.B. die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten) weitgehend privatwirtschaftlichen Gewinn-Interessen und Monopolisierungs-Tendenzen überlassen, oder sie zum größtmöglichen Wohl aller, der Gemeinschaft gestalten?

Gemeingüter – diese Frage wird eines der großen Meta-Themen der kommenden Jahre sein. Ein Thema, bei dem sich Aidshilfen und Piraten (wie auch einige (bisher wenige) andere Parteien) viel zu sagen hätten. Ansätze, die beide Sichtweisen in Berührung bringen, gibt es bereits (wie etwa Projekte, die den Gedanken der Commons, der Gemeingüter auf die Welt der Medikamente übertragen).

Gemeingüter – ein zukünftiges Meta-Thema politischer Debatten.
Ein Thema mit zahlreichen Berührungspunkten.
Ein Thema, bei dem gemeinsame Ziele und Aktionen denkbar wären.
Ein Thema, das durch zielgerichteten Dialog und Zusammenarbeit in seiner Wahrnehmung und Bedeutung in der Öffentlichkeit gestärkt werden könnte.