Die Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner ‚Piraten‘ mag Esoterik – und gar die umstrittenen ‚Germanischen Neuen Medizin‘? -Zudem äußert sie sehr seltsame Ansichten zu Aids.
Die Politologin und Heilpraktikerin Daniela Scherler ist Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner ‚Piraten‘. Die 39-Jährige sorgt mit seltsamen Ansichten über Krankheit und Tod für Aufsehen – und Unruhe in der Partei. Zahlreiche Formulierungen lassen den Eindruck entstehen, sie weise (wie der Esoteriker und Befürworter der ‚Neuen Germanischen Medizin‘ Rüdiger Dahlke (‚Krankheit als Weg‘), auf den sie sich beruft) Kranken eine Mitschuld an ihrer Erkrankung zu.
‚Spiegel online‘ zitiert ihre Haltung zu Aids:
„Bei der Krankheit Aids steht die Bereitschaft zur Hingabe an das ganze Leben, einschließlich seiner dunklen Seiten, im Vordergrund. Zu integrierende Lernaufgaben sind meist die Fähigkeit, sich auf einen Menschen wirklich einzulassen, oder Verbindlichkeit mit all ihren Konsequenzen in Beziehungen zu leben. Gefordert ist die Integration der Urprinzipien Pluto und Neptun.“
Soll heißen? Sind HIV-Infizierte oder Aids-Kranke also „selbst schuld“?
Und wenn die ‚Schulmedizin‘ (wie Scherler zu meinen scheint) verhindere, dass wir uns unseren „Lernthemen“ stellen – was soll das heißen für antiretrovirale Medikamente?
Der Astronom und Journalist Florian Freistätter kritisiert die ‚elitäre Weltsicht‘ und weist auf Konsequenzen hin:
„Dieses Elite-Denken findet man in der Esoterik-Szene recht oft. Wer Probleme hat, ist selbst schuld. Wer krank ist, ist selbst schuld. Wer auf die „richtige“ Art und Weise denkt, wer dem „richtigen“ Guru folgt, wer der „richtigen“ Gemeinschaft angehört, der hat keine Probleme mehr im Leben. Und die anderen müssen selbst schauen wo sie bleiben. Wenn sie keine Lust haben, „richtig“ zu denken, dann brauchen sie sich auch nicht wundern, wenn es ihnen schlecht geht.“
Er zitiert Jörg Ewers, der in einem Kommentar im sozialen Netzwerk Google + betont
„Es geht darum, das sie explizit gefährlichen Schwachsinn verbreitet. Das fängt damit an Grippe als aufgestaute innere Anspannungen darzustellen, weil man irgendwem nichts husten kann.Geht aber auch relativ nahtlos weiter, das z.B Krebs Ausdruck von aufgestautem geistig-seelischem Wachstum sei oder AIDS Ausdruck eines Lernstaus sei, weil Menschen nicht in der Lage seien sich wirklich einzulassen und Verbindlichkeiten mit all ihren Konsequenzen zu leben.
Das ist mit Verlaub großer Bullshit, den sie laut ihrer Homepage in Seminaren und Gesprächen vornehmlich an Schüler, Jugendliche und Auszubildende weiterverbreitet.
Und da kommen die Piraten ins Spiel, wo immer wieder implizit mitschwingt, es ginge nicht nur um die Form, sondern auch um moralische Integrität.Wie moralisch integer ist es solche Menschen zu beschäftigen?“
Und Richard Joos kommentiert Scherlers Buch und ihre Reaktionen
„Nebenbei argumentiert sie wie die klassische Virenleugnerin und quatscht über AIDS in ihrem Buch, in dem wiederum die Begriffe “Viren”, “Ansteckung” oder “Infektion” nicht einmal vorkommen. Sie wendet sich damit an Jugendliche! (…)
Nun ist der Scherler die Geschichte offenbar selber peinlich, denn die “Links” unter anderem zum lobenswerten Dahlke, die sie auf ihrer HP bereithielt, sind inzwischen verschwunden. Aus ihren Buchpublikationen kriegt sie den Dahlke aber nicht raus, der ist prominente Literaturangabe (Seite ist nicht bei Google verfügbar, stattdessen im hier gelinkten Amazon Preview, S. 241 schauen.)“[Links siehe Original-Artikel, unten bei ‚weitere Informationen‘]
Die Piraten reagieren bisher gelassen. Sie sehen „keinen Interessenkonflikt“ und werden „keine personellen Konsequenzen“ ziehen. Sie betonen zu den Aussagen und Haltungen ihrer Geschäftsführerin in Reaktionen auf Kommentare immer wieder „Sie hat kein politisches Amt“. In der Stellungnahme heißt es
„Daniela Scherler ist als FGF [Fraktionsgeschäftsführerin; d.Hg.] der Piratenfraktion angestellt und solange ihre persönlichen Ansichten ihre Arbeit für die Fraktion nicht behindern, spielen diese für uns auch keine Rolle.“
Martin Delius, Piraten- Abgeordneter und parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, kommentiert (16.12., 16:50) „wenn Daniela sich dabei an die Beschlüsse und Implikationen des Parteiprogrammes halten kann“ wäre „auch die Einstellung als wissenschaftliche Referentin … möglich“. Und er (16:48) ergänzt „Es ist nicht die Aufgabe der Piratenfraktion moralische Bewertungen über Menschen, Ansichten oder nebenberufliche Tätigkeiten anderer anzustellen.“
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Aktualisierung
16.12.2011, 18:40:
Die Haltung der ‚Piraten‘ sei nicht unproblematisch, betont ein Kommentator („medman“, 18:22 Uhr) und weist auf mögliche konkrete Probleme in Berlin und der lokalen Aids-Politik hin:
„Wie steht denn die Fraktion zur HIV Aufklärung und Prävention? Kann man sich darauf verlassen, dass eine solche FGF alle notwendigen Informationen für Entscheidungen in diesem Bereich weiterreicht – gerade in Berlin eine nicht unwichtige Frage.“
17.12., 10:30: EsoWatch weist auch vor dem Hintergrund der Argumentation des ‚Piraten‘ Abgeordneten und parlamentairschen Geschäftsführers Martin Delius (s.o.) auf einen Hinter-Grund für die Debatten hin:
„Blöd an der Sache ist, dass die Piraten bis heute kein offizielles Programm zu Medizin und Gesundheitswesen verabschiedet haben. Sie sollten diesen Fall als dringenden Ansporn nehmen, damit potentielle Wähler bei diesem wichtigen Thema wissen, woran sie sind. Eine entsprechende Formulierung wie das Bekenntnis zu einer wissenschaftsbasierten Medizin dürfte nicht allzu schwer zu formulieren sein.“
18.12., 15:00: Kritiker verweisen auf die Einlassung, Scherler bekleide „kein politisches Amt“, auf die Stellenausschreibung zur Fraktionsgeschäftsführung vom 10.10.2011. Dort wird unter ‚Aufgaben‘ unter anderem genannt: „Beratung der Fraktion in politisch- strategischen und betriebswirtschaftlichen Fragestellungen“.
18.12., 17:45: Der Berliner ‚Tagesspiegel‘ kommentiert das bisherige Verhalten der Partei unter dem Titel „Wertepluralismus falsch verstanden“ mit den Worten „die Parteispitze verweigert sich jeder Kritik“. Und ergänzt „Dem emphatischen Demokratieverständnis der Piraten stünde hier eine Einsicht gut an: dass der bei den Piraten geächtete Totalitarismus nicht erst dort beginnt, wo Menschen an einer demokratischen Wahl nicht teilnehmen dürfen. Sondern dort, wo – und sei es mit dem besten Willen – ein unmenschlicher Druck auf menschliche Seelen aufgebaut wird. “
18.12., 19:20: Johannes Sponader (s.u.) betont, es sei nun wichtig, dass Scherler erklärt, wie sie sich „zu Hamer und seiner fragwürdigen Ideologie verhält“. Insgesamt bemerkt er, „eine abschließende Bewertung sollte allerdings frühestens dann versucht werden, wenn sich Daniela Scherler zu der Kritik selbst geäußert hat.“
19.12., 09:30: Die Fraktionsgeschäftsführerin reagierte inzwischen mit eimem ‚Offenen Brief‘ (a.u.). Darin betont sie u.a. „Ich war nie und bin auch heute keine Anhängerin der Neuen Germanischen Medizin.“ Im Kontext Lebensführung und Kranklheit verwende sie „nicht den Begriff Schuld, sondern Verantwortung“ und wolle damit deutlich machen, daß „jeder von uns für sein Leben in hohem Maß Eigenverantwortung trägt“. Welchen Zusammenhang Aids und HIV hierzu haben, erläutert sie nicht. Sie werde ihre „Arbeit als Fraktionsgeschäftsführerin der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus engagiert fort[setzen]“.
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weitere Informationen:
Piratenfraktion Berlin 16.12.2011: Fragen zur Fraktionsgeschäftsführerin
EsoWatch: Daniela Scherler
SpON 16.12.2011: Berlin – Leitende Piraten-Mitarbeiterin irritiert mit Esoterik-Thesen
scienceblogs 15.12.2011: Die Berliner Piraten und die Esoterik
Marc Scheloske 15.12.2011: Kein Spaß – Die seltsame Esoterik-Welt der Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner Piraten
Richard Joos: Warum Daniela Scherler als FraktionsGF durchaus eine Piratenpersonalie ist
Tagesspiegel 16.12.2011: Krude Esoterik – Die Piraten haben den Wertepluralismus falsch verstanden
Johannes Sponader 17.12.2011: Zur Versachlichung der Diskussion um Daniela Scherler und die „Esoterik“
Piratenfraktion Berlin 19.12.2011: Offener Brief der Fraktionsgeschäftsführerin
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