Kanada: Oberster Gerichtshof entscheidet voraussichtlich im Sommer über Pflicht zur Offenlegung der HIV-Infektion (akt.)

Müssen HIV-Positive in Kanada ihre Sex-Partner vorab informieren? Über diese Frage hat der Supreme Court of Canada (der oberste Gerichtshof Kanadas) zu entscheiden. Grundlage und Ausgangssituation ist ein Urteil des Supreme Court aus dem Jahr 1998 (Entscheidung ‚Cuerrier‘), derzufolge HIV-Positive unter allen Umständen ihre HIV-Infektion offen legen müssen. Die Staatsanwaltschaften zweier kanadischer Provinzen hatten Beschwerde eingelegt gegen Entscheidungen der Gerichten von Manitoba und Quebec, mit denen die Verurteilungen eines HIV-positiven Mannes sowie einer HIV-positiven Frau aufgehoben worden waren.

In beiden Fällen war der Tenor der Urteile, dass eine signifikante Gefährdung der Sexpartner/innen (z.B. wegen Benutzung von Kondomen, erfolgreicher antiretroviraler Therapie) nicht bestanden habe. Demgegenüber zeigte die Staatsanwaltschaft die Ansicht, es komme nicht darauf an, dass das Risiko niedrig sei, vielmehr habe die potentiell ein Risiko eingehende Person das Recht der Wahl.

Der Supreme Court of Canada verhandelte beide Fälle am gestrigen 8. Februar 2012 bis in die späten Abendstunden (MEZ). Eine Entscheidung wird für den Herbst erwartet.

Supreme Court of Canada (Foto: Supreme Court)
Supreme Court of Canada (Foto: Supreme Court)

Die Vorsitzende Richterin Beverley McLachlin und ihre Kollegen fragten die Vertreter der klagenden Staatsanwaltschaften im Verlauf des Verfahrens intensiv nach Beweggründen, warum wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich der HIV-Therapie und Viruslast nicht berücksichtigt werde. McLachlin hinterfragte auch, in wie weit nicht der Test auf strafrechtliche Verantwortung bei Nicht-Offenlegung der HIV-Infektion zu wage sei:

„How is that person supposed to know if they are committing a criminal act? If the answer is, ‚They can’t know for sure,‘ then surely the crime isn’t really a crime. It would violate one of the fundamental principles of criminal law.“

Zudem warf sie die Frage auf, ob, wenn das Risiko sich überhaupt nicht materialisiere (keine Infektion stattfinde), überhaupt von einem Verbrechen (im strafrechtlichen Sinn) gesprochen wenden könne.

Vertreter der Staatsanwaltschaft hingegen argumentierten, jedes Infektionsrisiko (unabhängig von der Höhe des Risikos) sei ein „signifikantes Risiko“. Zudem sei eine Infektion mit HIV eine „schwerwiegende körperliche Beeinträchtigung“.

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Aktualisierung
09.02.2012, 10:30: Entscheidungen des Supreme Courts erfolgen üblicherweise nach mindestens vier Monaten Bearbeitungszeit nach der Verhandlung. Ein Kommentator geht allerdings davon aus, dass die Entscheidung noch später als Juni 2012 erfolgen könnte, und verweist darauf, dass zwei der neun Richter neu im Amt sind und mehr Zeit benötigen könnten. (Danke an Edwin J. Bernard für diese und weitere Infos!) [Artikel-Überschrift aufgrund dieser Infos geändert von „entscheidet im Herbst“ in „entscheidet voraussichtlich im Sommer“; d.Verf.]

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weitere Informationen:
Xtra 08.02.2012: Supreme Court grills government lawyers over HIV
Xtra 08.02.2012: Supreme Court hears landmark HIV case: five things to watch
le devoir 08.02.2012: Criminalisation de l’exposition au VIH – La Cour suprême doit trancher
Xtra 08.02.2012: Marucs McCann reports from Supreme Court (YouTube)
the spec 09.02.2012: Gathering evidence of HIV nondisclosure
PositiveLite 15.02.2012: Update: Criminalization of HIV non-disclosure
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