Therapie als Prävention „gefährliche Hereinnahme einer Public-Health-Ethik in individuelle Therapie-Entscheidungen zulasten des Einzelnen“ – Rolf Rosenbrock im Interview

Der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock erinnert in einem Interview an die grundlegenden Konflikte in der deutschen Aids-Politik (zwischen Sozialwissenschaften und Medizin). Rosenbrock äußert sich in dem Interview auch zum Konzept von HIV-Behandlung als Prävention.

Rosenbrock, bis Ende Mai 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wurde am 26. April zum neuen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gewählt.

Rolf Rosenbrock war maßgeblich am Zustandekommen der gültigen Linie der Aids-Politik in Deutschland beteiligt (u.a. 1986 „Aids kann schneller besiegt werden“) – über die Geschichte berichtet er u.a. in dem Interview, das Jochen Drewes und Hella von Unger mit ihm führten und das im DAH-Blog veröffentlicht ist.

„In den drei Jahren verschärfte sich mein Verhältnis zur Medizin, weil ich massiv und dauerhaft dieser übergriffigen Arroganz begegnet bin, die vielen Angehörigen dieser Disziplin eigen ist – und das gepaart mit großer Ignoranz.“

Rosenbrock äußert sich auch zu derzeitigen Entwicklungen in der Gesundheitspolitik, auch zu HIV/Aids:

„In den reichen Ländern kann man die gesamte HIV-Politik auch als Machtkampf verstehen: zwischen Sozialwissenschaft und Medizin, zwischen Selbsthilfe und professionellen, medizinischen, behandelnden Institutionen. In der ersten Runde haben wir klar gewonnen, weil die Medizin nichts in der Hand hatte. In der zweiten Runde, der „Remedikalisierung“, haben wir viel verloren: Nicht mehr der Patient steht im Mittelpunkt, sondern das Medikamentenregime. Und die dritte Runde wird jetzt eingeläutet.“

Konkret äußert er sich zum Einsatz von HIV-Medikamenten rein aus präventiven (nicht Behandlungs-) Gründen (‚Behandlung als Prävention‘):

„Dagegen sprechen aber unter anderem ethische Argumente: Noch nicht behandlungsbedürftige Menschen bekämen dann eine hochgiftige Therapie mit unerwünschten Nebenwirkungen verpasst. Den Nutzen hätte nicht das therapierte Individuum, sondern die Gesellschaft und die Community. Das ist eine gefährliche Hereinnahme einer Public-Health-Ethik in individuelle Therapie-Entscheidungen zulasten des Einzelnen.“

Entsprechend klar habe sich auch der Nationale Aids-Beirat (dessen Mitglied Rosenbrock ist) erst jüngst positioniert (siehe „Der Nationale AIDS-Beirat positioniert sich zur Prävention von HIV mit antiretroviralen Medikamenten„).

Ein Kern-Gedanke in Rosenbrocks Wirken:

„die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheits- und Lebenschancen [ist] die zentrale Herausforderung nicht nur für die Gesundheits-, sondern auch für die Sozial-, die Arbeitsmarkt- und die Bildungspolitik“.

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DAH-Blog 11. Mai 2012: Selbstbestimmung fördert die Gesundheit

10 Gedanken zu „Therapie als Prävention „gefährliche Hereinnahme einer Public-Health-Ethik in individuelle Therapie-Entscheidungen zulasten des Einzelnen“ – Rolf Rosenbrock im Interview“

  1. Zu dem Konflikit zwischen Sozialwissenschaften und Medizin gesellt sich m.E. zunehmend ein zweiter Konflikt.

    Einer, der sich an den Bruchlinien zwischen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Ethik festmachen lässt:
    ist maßgeblich (auch: für eine Entscheidung, z.B. in der Gesundheitspolitik) der größtmögliche Nutzen für die Gesamtheit (der sich im Zweifel auch die Interessen Einzelner unterordnen müssen), oder sollen Entscheidungen auf Vernunft basieren – und auch Fragen wie Menschenwürde, Rechte des Einzelnen mit einbeziehen.

    Dieser Unterschied wird im Aids-Bereich z.B. deutlich bei den Debatten um ‚treatment as prevention‘: sind die Interessen der Gesamtheit (Zahl der HIV-Neuinfektionen drastisch reduzieren -> alle testen, alle als HIV-Positiv erkannten Personen antiretroviral behandeln, egal ob sie es individuell brauchen oder benötigen – oder nicht), oder müssen (wie der NAB erfreulicherweise jüngst wieder betont hat) die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen im Vordergrund stehen?

  2. Lieber Ulli,
    wir haben in Deutschland bereits eine hochgradig medizinkritische Bevölkerung und in der Szene ist das letztlich nicht viel anders. Ich verstehe die Bedenken. Mir sind heute jedoch die Bestrebungen weitaus lieber, die zunächst darauf hinweisen, daß AIDS eine behandelbare – und im medizinisch therapeutischen Effekt – eine nahezu heilbare Erkrankung sind. Wenn Du so willst, gehe ich hier Hand in Hand mit Pharma und HIV-Ärzten, schon und gerade wegen meiner katastrophalen Erfahrungen mit latenter und oft überzogenen Medizinkritik. Gerade weil ich im Gegensatz zu Rolf Rosenbrock ein Kind der Szene war und kein bürgerlicher Schrankschwuler, weiß ich wie schädlich dieses Gemisch aus Medizinkritik und vermeintlichem sozialem Engagement ist.
    Es produziert Menschen, die sich nicht medizinisch behandeln lassen, die extreme Ängste vor der behaupteten Toxizität der antretroviralen Medikation haben, die ihre Therapie nie beginnen oder abbrechen, die deswegen taub und blind werden und letztlich unnötig sterben. Ich unterstelle Rolf Rosenbrock, dass er hier leider allzu wenig Ahnung zu haben scheint und dass hier gut gemeint das Gegenteil von Gut ist. Die Diskussion mit diesem Ansatz läuft schon im Ansatz in die falsche Richtung.
    Es rennen gerade in Deutschland und gerade in der Szene tausende von Menschen herum, die sich nach wie vor einem HIV-Test verweigern, die von Aids so lange nichts, aber auch gar nichts wissen wollen, bis man Sie fast oder bereits tot aus der Wohnung holt.
    Einer dieser Gründe für so ein Verhalten ist sicherlich, dass man als „offiziell“ Positiver mit juristischer Verfolgung zu rechnen hat. Das geschieht jedoch in einer Zeit, wo hochqualifizierte und gute Medikamente zur Verfügung stehen, die bei vielen nicht mal Nebenwirkungen haben, aber HIV so effektiv bekämpfen, daß der oder die Betroffene noch ein langes Leben vor sich hätten oft nahezu ohne gesundheitliche Einschränkungen. Aber anstatt genau dies auf die Fahnen zu heften und die Brüder und Schwestern wirklich und von ganzem Herzen retten zu wollen, kommt immer wieder diese unselige Diskussion auf. Ich erkenne darin leider wenig Gutes und befürchte, dass man sich der Konsequenzen und der Tragweite einfach noch nicht richtig bewusst ist.
    Lesen wir mal genau:
    „Noch nicht behandlungsbedürftige Menschen bekämen dann eine hochgiftige Therapie mit unerwünschten Nebenwirkungen verpasst. Den Nutzen hätte nicht das therapierte Individuum, sondern die Gesellschaft und die Community. Das ist eine gefährliche Hereinnahme einer Public-Health-Ethik in individuelle Therapie-Entscheidungen zulasten des Einzelnen.“
    Ist das so? Ich bin in einer bekannten Schwerpunktpraxis, bei einer Ärztin, die in Sachen Aids schon seit den dunklen 80er und 90er Jahren tätig ist. Und was sagt die 2012? Folgendes: Es war wieder mal ein Patient mit seiner Mutter bei ihr, todkrank aber ohne Therapiewillen, der jedoch wenigstens für einige Wochen zur Therapie überredet worden ist. Allerdings ohne gewünschten Erfolg und während ich dies schreibe, ist er leider bereits verstorben. That`s reality!
    Das was hier allerdings als Diskussion angezettelt wird, ist keineswegs dazu angetan, Menschen wirklich zu helfen – und das ist mein Vorwurf! Ein latent drohender und unangenehmer Vorwurf! Ich weiß. Und bevor jetzt jemand Luft holt und versucht den Vorwurf zu zerlegen – ich fände es besser, wenn einer so wie ich schreibt – Nein, die angeblich „hochgiftige Therapie“ hat nicht nur mein Leben gerettet, sie hat es auch ermöglicht, dass mein Leben wirklich wieder ok ist, dass ich Spaß habe …lebe und glücklich bin. Danke „böse Pharmalobby“, gut gemacht!
    Habt also den Mut zum HIV-Test und wenn der positiv ist, dann habt Ihr eine echte Chance und wenn ihr bereits, wie so oft latent krank seid und es läuft auf Aids hinaus, dann freut Euch, denn es ist heilbar – nur Mut, vertraut der angeblich „hochgiftigen Therapie“. So, das musste mal gesagt werden. 🙂
    Der angeblich unterstellte Utilitarismus ist gerade in Deutschland keineswegs Fakt, sondern es geht nach wie vor um Menschen, die heute krank sind und auch 2012 nicht wissen, dass es an HIV liegt. Sie wissen es nicht, wollen es nicht wissen und machen niemals einen Test . Und last not least brauchen Menschen die den Mut zur Therapie haben und in Deutschland ist das meist eher so in Richtung besser spät als nie, brauchen auch mal jemanden, der sagt, so schlimm ist es eben nicht, es geht auch gut mit Therapie, joggend, schwimmend, skifahrend und vor allem BERUFSTÄTIG ! Das wären Diskussionsansätze……..

  3. @Ulli, Ich bin mir da nicht mehr so sicher ob wir uns da noch unterscheiden, ob diese Bruchlinie zwischen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Ethik vorhanden ist. Auch wenn der NAB dazu deutlich Stellung bezogen hat, das die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen im Vordergrund stehen, in der Bevölkerung herrscht ein völlig anderes Bild, andere Meinung. Insofern sehe ich den NAB auch nicht als repräsentativ für „unserer Gesellschaft“ an. Als eine Gruppe, mit unfangreichem HIntergrund die solches wie auch wir hier die unseren Blogs schreiben mag das auch zutreffen. Doch sind wir eine – um diesen Ausdruck zu verwenden – eine elitäre Gruppe die über umfangreiches Wissen und solche Aspekte mit sehr hochschätzen und miteinbeziehen.

    Die Restgesellschaft, die Bevölkerung jedoch nimmt imo da eher der angelsächsischen Standpunkt ein.

    http://meta.tagesschau.de/id/60945/us-experten-empfehlen-zulassung-von-erster-pille-gegen-aids
    ich würde mir wünsche das gerade von uns wenn solche Nachrichten in den Medien thematisiert werden mehr von uns bei solchen Diskussion auftauchen. Auch weil ich mich da manchmal ein bischen verloren fühle. 😉

  4. @ alivenkickin:
    nun – die unterschiedlichen positionen in der philosophie / ethik sehe ich schon noch. aber ich teile deine einschätzung, dass sich vieles im alltag zunehmend vermischt. und dass ’nützlichkeits-ethik-überlegungen‘ auch hierzulande zunehmend in unsere debatten vordringen.
    gerade wenn der Nationale Aids-Beirat NAB nicht repräsentativ für die gesellschaft sein sollte (ist das seine aufgabe?), ist seine positionierung als gremium von experten umso wichtiger.
    und mir ist seine ppositionierung und auch rolfs äußerung auch deswegen wichtig, weil diese debatten mit der NAB-stellungnahme alles andere als vorbei sind – hinter den kulissen wird gerade auch hier fleissig in sachen test & treat / treatment as prevention druck ausgeübt und antichambriert. wachsam bleiben !

  5. Ups – unabhängig davon, dass ich meine Argumente ok finde – hab ich das Thema verfehlt – eigentlich deshalb, weil eine prophylaktische Pille bisher jenseits meiner Vorstellung war – sorry. Ich dachte bei „Treatment as prevention“, dass positive Menschen – evtl. noch recht gesund die Medikamente nehmen und dadurch eben als wichtigen Effekt keinen anderen beim Sex anstecken können, da die Viruslast unter Nachweisgrenze ist. Wenn jetzt nicht infizierte Menschen die Medikamente nehmen, um sich evtl. ein Sexwochenende zu gönnen, dann ist das vielleicht ein geiles Geschäft für das Pharmaunternehnen, aber ob sowas wirklich Sinn macht? Ist das dann so gedacht – man fliegt nach Südafrika, Malariaprophylaxe ist klar und dann noch ne Pille gegen HIV für den Spass in Kapstadt? Na ja – warum auch nicht….immerhin geht der oder gehen die Betreffende (für alleinstehende europäische Frauen gibt es in Afrika auch nette Gegenden…) auf Tuchfühlung mit der ansässigen Bevölkerung. Aber bevor ich ins allzu Triviale abgleite – immerhin könnte durch die Pharma und ihre Vermarktungsinteressen in der Bevölkerung ein gewisses Bewußtsein entwickelt werden, dass HIV letztlich eben behandelbar ist, dass sich die Dinge normalisieren und evtl. sogar trivialisieren. Es ist vielleicht sogar mal Nachdenkenswert, ob gerade für uns Betroffene solche Einrichtungen wie ein Nationaler AIDS-Beirat heute eher ein Dadanäergeschenk sind, denn mit der dort dargebotenen Dramatik, den Sorgen und Ängsten wird in der Bevölkerung viel stärker ein Bild erzeugt, dass HIV etwas ganz Schreckliches und Dramatisches sein muß und die Ängste, die Abgrenzung, dieses – damit will ich nichts zu tun haben – wird gerade dadurch immer wieder neu erzeugt. Eine Werbung für die HIV-Propylaxe von Pharma und Co. könnten das Bild von HIV und Aids in der Bevölkerung eventuell sogar mehr verändern als all diese Sorgen und Ängste um die Rechte der armen, armen Opfer….das mal als Provokation.

  6. die erste information bzgl der empfehlung von truvada als PreP kam von “The Enterprise Blog”

    Wer sich fragt wer hinter dem “The Enterprise Blog” steht, wer das American Enterprise Institute ist -> http://de.wikipedia.org/wiki/American_Enterprise_Institute -> http://www.aei.org/

    Unter George W. Bush galten Mitglieder des AEI als „Architekten“ der militärischen US-Außenpolitik, insbesondere des Irak-Kriegs.

    Im Juli 2007 bekam Paul Wolfowitz eine Stelle im AEI, nachdem er wegen Korruptionsvorwürfen als Chef der Weltbank zurücktreten musste.

    In der Vergangehite haben z.b bei dem Impfstoff bzgl der Schweinegrippe der ehemalige Verteidigungsminister Rumsfeld eine maßgebliche Rolle bei Gilead mit gespielt.

    Insofern wäre es auch interessant zu erfahren wer zu dem FDA Advisory Committee gehört das die Empfehlung für Truvada als eine PreP ausgesprochen hat.

  7. @ uli das diejnigen von AEI nichts damit zu tun haben das ist mir klar – weiß ich. Es ist eine starke Lobby . . . . sind Befürworter. Die MItglieder des Advisory Committees sind auch nicht so einfach zu finden, wenn überhaupt. Links sind mir auch bekannt . . . 😉

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