Louis-Georges Tin, der jüngst sein Buch ‚L’invention de la culture hétérosexuelle‘ (Die Erfindung der heterosexuellen Kultur) vorstellte, diskutierte im Chat auf Le Monde mit Lesern über sein Buch.
Im Chat auf lemonde.fr erklärt Louis-George Tin am 21.10.2008 sein Konzept heterosexueller Kultur. Er meine damit nicht heterosexuelle Praktiken. Vielmehr die Propagierung des Mann-Frau-Paares, die im Westen erst relativ spät in der Geschichte auftrete, etwa Ende des 12. Jahrhunderts:
„Mais avec l’essor de la courtoisie, à la fin du XIIe siècle, le couple hétérosexuel devient un objet culturel majeur et même un objet culte. … Bien entendu, je ne parle pas ici des pratiques hétérosexuelles, qui existent depuis fort longtemps et qui ont permis la reproduction de l’espèce humaine, de génération en génération. En revanche, la culture hétérosexuelle, c’est-à-dire la promotion du couple homme-femme et de l’amour, intervient dans l’histoire de l’Occident relativement tardivement.“
Auch im Mittelalter seien vermutlich die Mehrzahl der Praktiken eher heterosexuell gewesen, geht er auf eine kritische Nachfrage ein. Aber es gebe in der Zeit eine Reihe z.B. von Liedern, typisch für die ritterliche Ethik des Mittelalters, die Heldentum und Zärtlichkeit unter Rittern feierten:
„L’éthique chevaleresque telle qu’elle apparaît dans les chansons de geste célèbre d’ordinaire les amitiés viriles : Roland et Olivier dans la Chanson de Roland, par exemple ; Claris et Laris dans la Chanson du même nom ; Ami et Amile, sont autant de héros qui célèbrent les valeurs de l’héroïsme et de la tendresse entre hommes.“
Erst im 13. Jahrhundert komme es zu einem Umschwung, erst in dieser Zeit einer allgemeinen Verhärtung verstärkten sich die Sanktionen gegen alles Häretische (zur christlichen Lehre im Widerspruch Stehende):
„C’est à cette même période que se renforcent les sanctions contre les hérétiques en général, contre les „sorcières“, contre les juifs, etc.. C’est une époque de raidissement général dans l’Occident chrétien.“
Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts könne man von einer ‚Erfindung‘ der homosexuellen Kultur sprechen. Zwar habe es auch vorher Beziehungen zwischen Männern oder zwischen Frauen gegeben. Aber sie seien nicht als solche wahrgenommen worden und ihnen sei kein sozialer Wert beigemessen worden. Aus dieser Überlegung heraus sei ihm der Gedanke gekommen, auch von der Erfindung einer heterosexuellen Kultur zu sprechen:
„De nombreux travaux ont montré à juste titre je crois que la culture homosexuelle telle que nous la connaissons avait surgi en Occident à la fin du XIXe siècle. Cela ne veut pas dire, évidemment, qu’il n’y avait pas de relations entre femmes ou entre hommes avant cette époque. Mais elles n’étaient pas identifiées comme telles et ne constituaient pas un objet social véritable. En cela, il faut en effet parler de l’invention de la culture homosexuelle.C’est la même démarche qui m’a conduit à penser également l’invention de la culture hétérosexuelle, car il faut sortir l’hétérosexualité de „l’ordre de la nature“ pour la faire entrer dans „l’ordre du temps“, c’est-à-dire dans l’histoire.“
Homosexuelle wie auch heterosexuelle Kultur seien soziale Konstrukte, darauf weist Tin später hin.
Er betonte, er habe seine Homosexualität nicht mehr zu rechtfertigen. Es sei der Homophobe, der seine Homophobie zu erklären habe. Diese Sichtweise werde weit reichende, noch nicht völlig erkannte Auswirkungen haben. Auch aus diesem Grund habe er den Tag gegen Homophobie vorgeschlagen.
„Je n’ai plus à justifier „mon“ homosexualité, c’est l’homophobe qui est sommé de justifier son homophobie. C’est donc un renversement à la fois épistémologique et politique dont les conséquences n’ont pas encore été pleinement mesurées. C’est aussi pourquoi j’ai proposé cette journée mondiale de lutte contre l’homophobie.“
Mehr von Louis-Georges Tin in der Mitschrift des Chats vom 21.10.2008 ist auf lemonde.fr zu lesen. Lesenswert!
Von Louis-Georges Tin stammt auch ‚Le Dictionnaire de l’homophobie‘ (Das Wörterbuch der Homophobie), Paris, Presses Univ. de France 2003 (leider nicht auf deutsch erschienen)
@moin ondamaris
Homosexuelle wie auch heterosexuelle Kultur seien soziale Konstrukte
So sehe ich es auch. Die historische Entwicklung dieses Konstruktes – was sich dahinter verbirgt – wer solche Konstrukte mit welchen Absichten entwickelte – und wer die maßgeblich Beteiligten waren. Ich denke mal das hier viele Ursachen liegen dürften die maßgeblich zu der „diskriminierenden Haltung“ gegenüber Homosexualität zu finden sind.
Von Louis-Georges Tin stammt auch ‘Le Dictionnaire de l’homophobie’ (Das Wörterbuch der Homophobie), Paris, Presses Univ. de France 2003 (leider nicht auf deutsch erschienen)
Es erscheint im Verlag Arsenal Pulp Press am 12. November 2008. Amazon sei dank 🙂
😉
Heteronormativität nennt sich dieses soziale Konstrukt. Und ich hatte erst im Juni mit Tin eine Auseinandersetzung um den Tag gegen Homophobie. Weil ich meine, den gibt es seit Stonewall. Es ist der Tag, an dem Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle feiern, dass sie es gewagt haben, sich gegen Heteronormativität, die sie an den Rand der Gesellschaft drängte, zu wehren. Dieser Tag auch CSD oder Gay Pride genannt, ist mir deutlich wertvoller, weil er ein Symbol des Selbstbewustseins und der Würde ist. Den internat. Tag gegen Homophobie (auch IDAHO genannt, was mich an den Film „My own private…“ erinnert), der an dem Tag begangen wird, an dem die WHO Homosexualität als Krankheit gestrichen hat, habe ich bislang nicht verstanden. Aber vielleicht bin ich da auch altmodisch….
@ Dennis:
danke für den hinweis!
@ carsten:
mit dem tag gegen homophobie tue ich mich auch schwer … auch wegen dieses im deutschen kontext etwas bizarren termins …
ob nun allerdings der csd, so wie er hierzulande begangen wird, wirklich noch ausdruck ist von „sich gegen Heteronormativität, die sie an den Rand der Gesellschaft drängte, zu wehren“ – da habe ich so meine zweifel. da bliebe dann noch viel arbeit und engagement, den csd aus den händen der kommerzialisierer und banalisierer zurück zu erobern 😉